Roma und Sinti:
Die ersten MigrantInnen Europas
Immer noch auf der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft
von Warsame Amalle
Eigentlich waren sie nie reich, aber auch nicht immer so bettelarm wie in manchen europäischen Ländern heute. Aber Ausgrenzung und Verfolgung haben Sinti und Roma immer begleitet. Seitdem sie ihre Heimat verlassen hatten, wurden sie sowohl aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als auch wegen ihrer Lebensweise vertrieben und ermordet. Sie durften ihre Kinder nicht in die Schule schicken und kein Land besitzen. Doch sie haben sich zu helfen gewusst und eigene Überlebensstrategien entwickelt. Sie spezialisierten sich auf bestimmte Handwerke, waren fahrende Händler, Handleser, Unterhalter und Künstler. Man hat sie oft mit Böhmen, Ägyptern oder Tataren verwechselt. Sie leben seit dem 10. Jahrhundert in Europa. Trotzdem sind sie bis heute unwillkommen und werden als Fremde betrachtet. Seit dem 15. Jahrhundert waren Roma und Sinti immer Vertriebene gewesen, wurden gleichzeitig verachtet und bewundert, in romantische Klischees gepresst und grausam verfolgt.
Man nennt sie Zigeuner, aber sie nennen sich Roma. Das Wort Rom bedeutet Mensch. Einst waren sie wegen ihrer Kunst und ihrer Handwerke hochangesehen, aber nur wenn man ihre Dienste benötigte. Gern gesehen waren sie, wenn sie Neuigkeiten in ein Dorf brachten, nützliche Dinge verkauften oder bei Festen mit Musik und Tanz zur Unterhaltung beitrugen. Wenn man sie nicht brauchte, wurden sie vertrieben oder „vogelfrei“ erklärt, d.h. man konnte sie ermorden, ohne bestraft zu werden. Heute sind die Berufe, die sie früher ausübten, wie das Messerschleifen oder Kesselflicken, nicht mehr nachgefragt. Wer lässt heute ein Messer schleifen oder wer kann davon leben? Auch das Handlesen ist nicht mehr aktuell. Auch ihren Lebensunterhalt als Bärenfrührer zu verdienen ist nicht mehr möglich, weil Tierschutzgruppen gegen diesen Brauch protestieren, und sie sich damit neue Feinde geschaffen hatten. Wie können diese Menschen ihre Situation verbessern, wenn sie täglich mit Diskriminierung und Barrieren konfrontiert sind?
Geschichte der Roma in Europa und Österreich
Das Wort Zigeuner stammt vermutlich aus der alttürkischen Bezeichnung „tschigan“, was so viel wie „Arme Leute“ bedeutet, daraus wurde dann das deutsche Wort „Zigeuner“. In ganz Osteuropa waren die Roma Sklaven und Leibeigene der Grundbesitzer. Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts kamen entflohene Roma-Sklaven nach Mitteleuropa, man könnte sie als die Flüchtlinge der damaligen Zeit bezeichnen. Doch begegnete man ihnen von Anfang an mit Misstrauen und sie wurden zum Freiwild erklärt. Jahrhunderte lang wurden sie immer wieder in die Flucht getrieben. Man verweigerte ihnen, sich in einem Dorf anzusiedeln, oft mussten sie sich in den Wäldern verstecken oder als reisende Handwerker und Händler ihr Brot verdienen. So entstand das Klischee vom Wandervolk.
Die Roma und Sinti hatten nicht die Möglichkeit, sich aus der Armut zu befreien, denn in der Vergangenheit wurde über sie Schulverbot und Vermögensentzug verhängt, und ein großer Teil dieser Bevölkerung war und ist nicht sesshaft. Wenn man heute in Europa lebt, sollte man einen feste Wohnsitz haben, an einem Ort leben, regelmäßig arbeiten, einen Schulabschluss haben und einen Beruf erlernen. Doch diese Lebensstruktur hatten und haben die Roma nicht gehabt und ihre Kinder hatten keinen anderen Weg gefunden oder finden können. Die Roma waren immer selbständig gewesen und verlangten ihr Geld, nachdem sie ein Messer geschliffen oder ein Pferd verkauft hatten. Aber für jemanden zu arbeiten und dreißig Tage auf den Lohn zu warten, kannten sie nicht. Darum sind sie am Rand der europäischen Gesellschaft geblieben. Wenn die Eltern keine Schulbildung haben, fällt es den Kindern nicht leicht, sich an das regelmäßige Lernen zu gewöhnen. Die Kinder zogen mit den Eltern herum um zu betteln, während ihre Altersgenossinnen die Schule besuchten und nach der Schule von ihren Eltern eine warme Mahlzeit bekamen. Wenn die Menschen keinen Zugang zur Bildung haben, können sie aber ihre Lebenssituation nicht verbessern. Gesellschaftliche Konflikte entstehen durch soziale Ungleichheit, mit der die jetzige Gesellschaft wieder immer öfter konfrontiert ist.
Zwischen Vertreibung und Zwangsassimilation
Obwohl das Wandern niemals freiwillig war, wurde die nicht-sesshafte Lebensweise der Roma von der Mehrheitsbevölkerung kritisiert. Immer wieder gab es Erlässe, durch die die Roma mit Zwang sesshaft gemacht werden sollten. Besonders repressiv war die „Zigeunerpolitik“ der Kaiserin Maria Theresia in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, mit der man die Roma zur vollständigen Assimilation zwingen wollte. Den Roma wurde verboten, ihre Sprache zu sprechen, man nahm ihnen die Kinder weg und gab sie ungarischen Eltern zur Adoption. Diese Politik war Vorbild für Regierungen anderer Länder und diese Einstellung setzte sich fort bis ins 20. Jahrhundert. In einer Interpellation (Haus der Abgeordneten. – 83. Sitzung der XVIII. Sektion am 5. Juli 1908) heißt es etwa: „Eine der ärgsten Landplagen für die bäuerliche Bevölkerung ist unstreitig das Zigeunerwesen“. Nach einer langen Klage über den Schaden, den fahrende Zigeuner angeblich anrichten, werden folgende Vorschläge gemacht, um die Roma zur Assimilation zu zwingen, u.a. ihnen Ziffern in den Unterarm einzutätowieren. Als Strafe, wenn sie sich nicht freiwillig den Anordnungen fügen, wird angedroht, die Gewerbescheine zu entziehen, die Kinder wegzunehmen oder ihren Besitz anzuzünden.
Um die Lebensweise der Roma zu brechen und sie zwangsweise umzuerziehen, führte man ab 1924 im Burgenland die Einschulung der sog. Zigeunerkinder durch. Am Anfang wurden die Kinder gegen ihren Willen in die Schule geschickt. „Behörden und die Politiker verstanden während der gesamten Zwischenkriegzeit die Schulpflicht und deren Umsetzung als Mittel zur Integration oder doch vorwiegend zur Disziplinierung.“ Da die Roma immer unterwegs gewesen und nicht gewöhnt waren, an einem Ort zu bleiben, wollte man ihre Kultur auf einmal umstellen und zwar mit Gewalt. Dabei wurde sowohl auf die Eltern als auch auf die Kinder großer Druck ausgeübt. Aus heutiger Sicht kann man die damaligen Methoden nicht Unterricht oder Erziehung nennen, sondern Verachtung: “Die Einführung des Schulzwanges für die Zigeunerkinder und besonders strenge Überwachung der Regelmäßigkeit des Schulbesuchs derselben seitens der Schulaufsicht-Behörden“ und gleichzeitig die „strenge Bestrafung der Eltern bei Säumigkeit“ (1). >>
Während die Politik auf paternalistische Weise die Assimilation der Roma durchsetzen wollte, demonstrierten die Mehrheitsbevölkerung dagegen und lehnte es ab, dass Kinder der Roma in die gleiche Schule gingen und neben ihren Kindern in einer Klasse saßen. Manche Eltern verhinderten sogar die Einschulung von Roma Kindern: „So fasste etwa der Gemeinderat von Unterwart völlig jenseits seiner Kompetenz und Zuständigkeit den Beschluss, einem Mädchen aus einer ansässigen ‚Zigeunerfamilie’ die Einschulung zu verweigern“ (1). Probleme ergaben sich aber auch aus der Armut. Es gab Roma-Kinder, denen der Schulbesuch aufgrund mangelnder Bekleidung verweigert wurde, andere hatten keine warme Kleidung und konnten deshalb im Winter das Haus nicht verlassen. Der Schulunterricht dürfte von den „Zigeunern“ sehr unterschiedlich angenommen worden sein. Anscheinend hatte der Zwang wenig Erfolg und nicht viele Kinder kamen aus diesen Schulen mit einem Abschluss. Im Gegenteil, viele wehrten sich und wollten nicht in die Schule gehen. Mit der Zeit verbesserte sich jedoch die Schulbildung der Kinder und das Bildungsniveau in der Roma Bevölkerung im Burgenland ist während dieser Zeit angestiegen.
Schulverbot und Vermögensentzug
Wenn man Vermögensentzug der Roma hört, dann fragt man sich: Haben sie überhaupt etwas besessen, das man ihnen wegnehmen konnte? Die Antwort lautet unverzüglich ja, denn vielleicht hatten sie keine Geschäfte, Gold, Grundstücke, teuere Gemälde und andere Vermögen wie etwa Teile der jüdischen Bevölkerung. Ihr wichtigstes Vermögen, das sie jemals besessen hatten, war ihre Freiheit (die Entscheidung wegzuziehen oder zu bleiben), und als sie die verloren, verloren sie nicht nur ihre Lebensgrundlage, sondern auch ihre Rückzugsmöglichkeiten und ihre Würde.
In der Vergangenheit wurde den Roma gerade soviel Freiraum zugestanden als sie zur Existenzsicherung benötigten. In der Zwischenkriegszeit mussten viele von ihnen ihre traditionellen Berufe aufgeben. Für das Musikspielen, ihre Handwerke, den Pferdehandel und alle anderen Tätigkeiten brauchten die Roma einen Gewebeschein und damit konnten sie ihren bescheidenen Lebensunterhalt auf legale Weise verdienen. Die Gewebescheine wurden ihnen entzogen unter Begründungen wie der Folgenden: “Es ist von allen Behörden streng darauf zu achten, dass die mit Bewilligungen zur Ausübung von Geweben in Umherwandern oder mit Musiklicenzen versehenen ‚Zigeuner’ diese ihre Befugnisse nicht zu Ausschreitungen irgendwelcher Art missbrauchen. Sollte diese konstatiert werden, so ist ihnen der betreffende Erlaubnisschein abzunehmen“.
Wenn Roma einen Gewerbeschein brauchten, mussten sie alle ihre Dokumente mitbringen wie Geburtsurkunde und Heimatscheine, ihr Alter und ihre Staatangehörigkeit nachweisen, was für die Roma oft sehr schwierig oder unmöglich war. Denn sie hatten weder Geburtsurkunde noch Meldezettel, denn sie waren unterwegs und man wusste, dass sie keine Dokumente hatten, aber wer hatte schon Verständnis mit ihnen? Wenn ein Rom Glück hatte und einen Gewerbeschein bekam, dann musste man ihn unter die Lupe nehmen und kontrollieren. “Es ist in allen Fällen klarzustellen, ob der Anmelder das Gewerbe, wenn er auch für dasselbe einen festen Standort angegeben hat, nicht doch im Herumziehen auszuüben beabsichtigt, in welchem Falle – abgesehen vom § 60 der Gewerbeordnung – die Bestimmung des Hausierpatents bzw. die Vorschriften über die sonstigen Wandergewerbe in Anwendung zu kommen haben. Im Hinblick auf § 5 der Gewerbeordnung ist stets eingehend zu erheben, ob der Gewerbemelder von den Gerichten etwa bereits bestraft ist und hiernach die Frage, ob ein Missbrauch des Gewerbes zu besorgen wäre, mit Strenge zu beurteilen.“
Um einen Gewerbeschein zu bekommen, hatten fahrende Gewerbetreiber viele Hürden zu überwinden. “Durch die Wandergewerbeverordnung von 1924 waren die ansässigen Gewerbetreibenden prinzipiell bevorzugt worden. Wenn überhaupt ein Wandergewerbe genehmigt wurde, dann nur für einzelne Bezirke oder Gemeinden bzw. nur in jenen, in denen es schon bis dahin üblich war. Außerdem musste der Bedarf nachgewiesen werden, wobei die ansässigen Gewebetreibenden ein Mitspracherecht hatten. „Die Berufungsinstanz gegen diese Bescheide war dabei der Landeshauptmann, eine Regelung, die erst 1950 vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurde. In der Konkurrenz zwischen ansässigen und fahrenden Gewerbetreibenden hatten die ansässigen, vertreten durch die Kammern, die besten Möglichkeiten, sich zu schützen“ (1). Die Einschränkungen hatten zur Folge, dass die meisten Roma ihre traditionellen Berufe aufgeben und im Baugewerbe, in Steinbrüchen, als Landarbeiter und Tagelöhner arbeiten mussten, oft wurden sie von den Behörden auch dazu gezwungen, was von der Verschärfung der Situation zeugt. Für die Roma, die traditionellerweise Händler oder Musiker gewesen waren, begann eine neue Ära.
Die Zeit des Nationalsozialismus
Schikanen und Erniedrigung hatten die Roma schon seit dem „Zigeunererlass“ von 1888 erlebt. Zuerst Zwangseinschulung, dann das Schulverbot und dem Entzug der Gewerbescheine, so schlecht war die Lage noch nie gewesen. Aber die nationalsozialistische Zeit machte ihren Überlebensspielraum noch enger, denn vorher gab es kein Zigeunerlager und keine Zwangsarbeit, die Verfolgung wurde nicht so systematisch durchgeführt. Während es damals um Kontrolle und Beschränkungen ging, wurde ihnen jetzt jegliche legale Lebensgrundlage gänzlich entzogen. Der Gewerbeentzug bedeutete nicht nur wirtschaftliche Probleme, sondern hieß für die Roma Zerstörung ihrer Tradition.
Wer nicht vom NS-Regime erwischt worden war, litt vor allem in der kalten Jahreszeit. Es gab weder Beschäftigung noch Unterstützung vom Staat, „so dass die Zigeuner im Winter in sehr ärmlichen Verhältnissen ihr Dasein fristen müssen und da sie von keiner Seite eine Unterstützung erhalten, in Fällen in welchem der männliche Ernährer fehlt, auf Bettelei angewiesen sind“ (1). Obwohl sie sogar gesetzlichen Anspruch auf Unterstützung gehabt hätten, weigerten sich die Gemeinden Fürsorgeleistungen zu bezahlen. Ihre Situation ist noch grausamer geworden, nachdem durch die Verhaftungsaktionen 1938 und 1939 viele Kinder ihre Eltern verloren und keine Verwandten hatten, bei denen sie bleiben konnten, und deshalb sich selbst überlassen waren und betteln mussten.
Die Roma wurden zur Arbeit gezwungen und mussten jene Arbeiten verrichten, die von den Nationalsozialisten als „sinnvoll“ und nützlich betrachtet wurden. So begründete das der damalige Kreisleiter des südlichen Burgenlandes: “Es geht wohl nicht an, dass heute, in der harten Aufbauarbeit, eine Gruppe von Menschen noch immer nicht zur Einsicht gekommen ist, dass das Parasitenleben der Vergangenheit angehört und im Deutschen Reiche unter keinen Umständen geduldet wird. (1)“ Bis zu dieser Zeit hatten die Roma aus eigener Kraft gelebt, aber als man ihnen alles weggenommen hatte, standen sie mit leeren Händen da. Schließlich wurden sie ohne Rücksicht auf Kinder, Frauen und ältere Menschen in „Zigeunerlager“ und schließlich in Konzentrationslager transportiert, wo sie gequält und vergast wurden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Diejenigen, die die NS-Zeit überlebt hatten, wurden nach ihrer Rückkehr alles andere als willkommen geheißen. Nach der Rückkehr aus dem Konzentrationslager wurden Roma und Sinti für staatenlos erklärt, obwohl sie nachweislich seit vielen Generationen in Österreich ansässig gewesen waren. Die Oberösterreicherin Rosa Winter etwa, die als einzige Überlebende ihrer Familie aus dem KZ-Ravensbrück zurückkehrte, musste 16 Jahre lang um die österreichische Staatsbürgerschaft kämpfen, die sie erst 1991 wieder erhielt. Erst danach wurde ihr eine Opferrente zugesprochen (2).
Auch die Gewerbescheine, die die Roma und Sinti vor dem Krieg gehabt hatten, bekamen sie nach ihrer Rückkehr nicht mehr in die Hand. Was zur Folge hatte, dass sie wiederum keine Existenzgrundlage hatten und sich der Kreislauf von Armut und Ausgrenzung auch nach dem Krieg fortsetzte. Hinzu kam, dass Roma und Sinti meist keine Entschädigungszahlungen bekamen, weil ihr Besitz meist keine Grundstücke oder Firmen waren, sondern Pferde und Holzwagen oder Schmuck, wofür sie aber keine Urkunden besaßen. Auch ist der Wert eines Pferdes heute nicht mehr vergleichbar mit dem, den es damals gehabt hatte, nämlich eine Lebensgrundlage. Außerdem waren viele Roma aufgrund ihres niedrigen Bildungsstands ohne Hilfe nicht in der Lage, die komplizierten Antragsformulare für eine Entschädigung bzw. eine bescheidene Opferrente, die sie dringend benötigten, auszufüllen. Der Kreislauf von Armut und Ausgrenzung war also noch immer nicht durchbrochen (2).
Ein weiteres Problem, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg stellte, und das sich noch viele Jahrzehnte fortsetzte, war, dass viele Roma- und Sinti-Kinder Sonderschulen besuchten. Weil ihre Eltern oft nicht lesen und schreiben konnten, hatten sie keine Möglichkeit, ihre Kinder zu fördern und ihnen war auch der Wert der Bildung nicht so bewusst. Oft wurden die Kinder aber aufgrund von Vorurteilen und ohne ihre Leistungen zu prüfen gleich in die Sonderschule abgeschoben. Erst seit dem schrecklichen Attentat in Oberwart 1995 begann sich die Situation zu verändern. Immer mehr Roma und Sinti organisierten sich in Vereinen, um für ihre Rechte einzutreten, und konnten nach und nach eine Verbesserung ihrer rechtlichen und sozialen Situation zu erkämpfen. „Ich konnte in meinen Lebenslauf als Muttersprache Romanes schreiben, im Bewusstsein, dass die Frage kommen wird, was das für eine Sprache ist“, sagt Nicole Sevik vom Verein Ketani, „Ich wollte wissen, was ein zukünftiger Arbeitgeber darüber denkt. Ich wollte mich meiner Herkunft nicht schämen oder sie verstecken müssen. Ich weiß aber, dass ich mir das nur deshalb leisten konnte, weil ich durch meine Ausbildung eine Anstellung bekommen kann“.
„Nimm einmal an: ich wäre deshalb arm, weil mir das Schicksal Reichtum missgönnt hat, und, wie es so oft geht, ein Vormund ihn veruntreut oder ein Feind geraubt oder mein Vater ihn mir nichts hinterlassen hat: sollte man das einem Menschen zum Vorwurfe machen - die Armut -, was doch keinem Tier als Schuld angerechnet wird.“ (Apuleus, Apologia 21,1 f)
Die Geschichte der Roma und Sinti in Europa beweist: Armut ist kein Schicksal und schon gar nicht die Folge von Faulheit oder mangelnder Begabung. Armut wird durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erzeugt und bestimmten Gesellschaftsgruppen wurde und wird der Zugang zum Wohlstand verwehrt. Die Diskriminierung der Roma und Sinti in Europa ist noch lange nicht beendet, sondern hat sich im Gegenteil heute durch die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich wieder zugespitzt. Heute ist man in vielen österreichischen Städten mit Menschen – meist aus Ost- oder Südosteuropa – konfrontiert, die auf der Straße um Almosen betteln. Behörden reagieren mit Vertreibung und Bettelverboten. Obwohl nirgends mehr über Menschenrechte gesprochen wird als in Europa und die europäische Bevölkerung zu den reichsten unseres Planeten gehört, stehen diese Menschen wieder (oder noch immer) am Rande der Gesellschaft. Längst überwunden geglaubte Vorurteile, nämlich dass Roma und Sinti an ihrer Armut selbst schuld seien, leben wieder auf.
Die Frage, die man in diesem Zusammenhang stellen muss, lautet: Warum sind diese Menschen arm? Ein Sozialarbeiter in Barcelona sagte: Die Roma denken meist nicht an Vorsorge für die Zukunft, denn sie hatten in der Vergangenheit nie die Möglichkeit gehabt zu sparen, weil sie verfolgt und vertrieben wurden und keinen Landbesitz haben durften. Wie kann ein Mensch an einem Ort sesshaft werden, wenn er weiß, dass er verachtet und verfolgt wird? Betteln ist ein offensichtlicher Beweis dafür, dass es Menschen gibt, die arm sind und keine andere Möglichkeit haben, sich und ihre Familien auf andere Art zu ernähren. Wenn man heute in Europa Bettler auf der Straße sieht, ist es eine Schande. Statt die Armen zu bekämpfen sollten die Ursachen für die Armut bekämpft werden. Meiner Meinung nach wäre die einzige sinnvolle Lösung, Vereine und Organisationen zu gründen und zu finanzieren, die diese Menschen fördern und dabei unterstützen, eine gute Ausbildung zu bekommen. Bildung ist eine Voraussetzung dafür, gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Lernen ist ein Menschenrecht und jeder und jede BürgerIn sollte das Recht auf eine gute Ausbildung haben.
Quellen:
(1) Freund, Florian, Baumgartner, Gerhard und Greifeneder, Harald: Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti, München 2004
(2) Laher, Ludwig (Hrsg.): Uns hätte es nicht geben sollen. Rosa Winter, Gitta und Nicole Martl. Drei Generationen Sinti-Frauen erzählen. Grünbach 2004
veröffentlicht in Talktogether Nr. 51/2015
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