Nina Vasiltshenko: Am Leben bleiben! PDF Drucken E-Mail

Am Leben bleiben!

von Nina Vasiltshenko

Ich lebe noch! Trotz der langen Zeit. Früher hast du mich auf der Lebenskreuzung verlassen, ohne dich umzudrehen. Vier Richtungen, „ohne dich“ … ohne Wegweiser ...

Lebensunfähig, geschwächt bin ich noch irgendwie aufgestanden.

Langsam, langsam, aufgerichtet, losgegangen torkelnd, Schritt für Schritt, ohne anzuhalten, den richtigen oder den falschen Weg.

Unverständliche Wege führten mich an den Rand des Abgrunds, um mir andere Wege zu zeigen und um zu helfen. Ich dachte, dass ich dich sicher irgendwo treffen werde, weil ich nur für dich in diese Welt geschickt worden bin.

Endlich, da bin ich, und sehe dich in Verzweiflung ... besiegt, kniend...

Im Gegensatz zu mir kannst du nicht aufstehen. Jede Sekunde rückst du näher an den Selbstmord, in der Hand das Rasiermesser wie ein lang gestreckter Hals, und du zählst deine letzten Sekunden...

Ich stehe in deiner Nähe und ich schreie: „STOPP!“ Du drehst dich zu mir, siehst mich und erstarrst. Du traust deinen Augen nicht. Ja, ich bin's, noch lebendig!

Du kannst mir nicht in die Augen schauen, dein Stolz verhindert dein Eingeständnis, dass Du wunderbar schwach bist und deine heutigen Schwierigkeiten darin wurzeln, damals NEIN zu mir gesagt zu haben.

Ich bin nicht aus Rache zu dir gekommen, ich bin keine der niederträchtigen Menschen, die keine Gelegenheit verpassen, in schwierigen Minuten mit triumphierendem Blick in deine Augen zu schauen.

Ich bin gekommen, um dir an der gleichen Lebenskreuzung, an der du mich gelassen hast, meine Hand zu reichen, um dich aus der Dunkelheit zu zerren, dich vor Mord zu bewahren.

Verschwende keine Worte, weil ich weiß, was du überlebt hast, und welche Wirbelstürme über dich hereingebrochen sind. Ich weiß auch, dass sehr wenig Luft in deinem Raum war, an der Grenze zum Selbstmord haben sie das Fenster zugesperrt, damit du nicht springen konntest; sie haben die Tür geschlossen, damit du nicht zum Fluss rennen, dich ertränken konntest.

Sie haben überall alles geschlossen, was zum Verschließen möglich ist, anstatt ihre Herzen zu öffnen ...

Ich weiß, dass sie dich sinnlos zu PsychologInnen gezerrt haben, dann in der Psychiatrie in einem weißen Raum eingesperrt und gesagt haben: „Sei still!“, weil unter deiner Zunge hattest du die nicht aufgelöste Tablette.

Sie haben deinen Puls gemessen, anstatt auf deinen Herzschlag zu hören.

Verzweifle nicht – ich bin wieder da. Mit dir. Wieder behandle ich deine Wunden. Jeden Tag – unermüdlich.

Wie ein Gebet wiederhole ich immer wieder „Lebe!“ „Sei stark!“

Von dir möchte ich nur eins: Nimm mich fest an der Hand und verliere mich nicht! Töte mich nicht in deinem Herzen!

Gib mir den kleinsten Platz an deiner Seite. Vergiss nicht, was Menschen seit langem über MICH sagen:

Die HOFFNUNG stirbt zuletzt!


mit Dank an Hannes und Susi Grinninger für die sprachliche Unterstützung

veröffentlicht in: Talktogether Nr. 52/2015