Entwicklungshilfe – eine neue Form von Kolonialismus? PDF Drucken E-Mail

Entwicklung –

eine neue Form von Kolonialismus?

„Ich denke, es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen denen, die sich für Emanzipation und Selbstbestimmung einsetzen, und jenen, die unablässig im Hamsterrad von ‚Entwicklung’ herumrennen. Damit soll denen, die sich in Entwicklungsagenturen abmühen, keineswegs unterstellt werden, sie seien keine guten Menschen oder sie meinten es nicht ehrlich mit ihrem Engagement für soziale Gerechtigkeit. Aber was zählt, ist das, was objektiv dabei herauskommt, nicht das, was subjektiv gewollt wird. Entwicklung war und ist das Stück Zucker, das das Schlucken der bitteren Pille kapitalistischer Ausbeutung erträglicher machen soll.“ (Firoze Manji)

Die Berliner Konferenz

Vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 tagte im Reichskanzlerpalais in der Wilhelmstraße 77 die so genannte „Berliner Konferenz“, die der deutsche Reichskanzlers Otto von Bismarck auf Drängen der Industrie organisiert hatte. Diplomaten, Juristen und Geographen aus 14 Ländern waren hier versammelt, um über ihr künftiges Vorgehen auf dem afrikanischen Kontinent zu beraten und die Grenzen mit einem Lineal auf der Landkarte festzulegen. Aufgeteilt hatten sich die imperialistischen Mächte den Kontinent schon längst. Die Bedeutung dieser Konferenz lag darin, dass die Kolonialmächte ihre Rivalitäten untereinander beilegten, so dass sie die ihnen zugewiesenen Gebiete ungehindert ausplündern und sich Absatzmärkte für ihre Waren sichern konnten.

Die Staatsmänner hätten aber nicht viel ausrichten können ohne die Wissenschaftler, Missionare und Forschungsreisenden, die ihre Fähigkeiten in den Dienst des Kolonialismus stellten. Einer von ihnen war der Missionar und Sprachwissenschaftler Carl Gotthilf Büttner. Er übersetzte nicht nur gemeinsam mit anderen Missionaren das Neue Testament in die Herero-Sprache und veröffentlichte mehrere Schriften zur Sprachstruktur der Herero, sondern propagierte auch den Missionsgedanken bei der deutschen Industrie: „Der verständige Industrielle wird den Missionar, der es zu Wege bringt, dass 100, 500, 1000 Leute, die früher nackt gingen, nun Kleider zu verbrauchen anfangen, die früher von der Hand in den Mund lebten, nunmehr mit europäischen Werkzeugen ihr Land und die Erzeugnisse bearbeiten, auch im volkswirtschaftlichen Sinne nicht für unproduktiv halten.“ (1)

Das Gesellschaftssystem der Herero, deren Sprache ihn so faszinierte, erkannte er als hinderlich für die Kolonialisierung: „Diese sozialen Verhältnisse der Herero haben nämlich eine frappante Ähnlichkeit mit dem Idealstaat der Sozialisten [...]: Kein individuelles Grundeigentum, der Viehbesitz scheint auch nicht Eigentum des Einzelnen, sondern mehr Eigentum des Staates respektive der Familie zu sein. Keine Steuern, kein Militär, keine Polizei, keine Gefängnisse, (…) zum Schluss keinen Eid und keinen Gott.“ (1)

Afrikas Weg in die Unabhängigkeit

Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatte das US-amerikanische Kapital wenig Einfluss in Afrika. Mit dem Marshall-Plan, einem Programm zur Finanzierung des Wiederaufbaus des durch den Krieg zerstörten Europa, änderten sich die Kräfteverhältnisse. Im Gegenzug zur eher bescheidenen US-Hilfe erhielten US-Konzerne Zugang zu den europäischen Kolonien. Die USA hatten längst begriffen, dass das Kolonialsystem einer Modernisierung bedurfte, und drängten auf die Umwandlung der Kolonien in formal unabhängige Nationalstaaten, die den imperialistischen Absichten von sich aus gefügig waren. (2)

Die europäischen Kolonialmächte waren jedoch alles andere als willig, ihre Kolonien freizugeben. Erst der heftige Aufschwung antikolonialer Bewegungen und bewaffnete Kämpfe wie der algerische Unabhängigkeitskrieg oder der Mau Mau Befreiungskampf in Kenia bewirkten ein Umdenken. In Portugal musste jedoch erst die faschistische Diktatur gestürzt werden, bevor es seine Kolonien die Unabhängigkeit entließ.

Weil sich überall die Menschen organisierten und immer vehementer ein Ende der Unterdrückung und ihr Recht auf Selbstbestimmung forderten, setzten die westlichen Mächte eine Strategie ein, um diesen Bewegungen die Spitze zu nehmen: Sie förderten das Entstehen einer neuen Mittelklasse – zum Beispiel durch Auslandsstipendien – um Afrikanern den Zugang zur Geschäftswelt, zu Banken und zu Krediten für Investitionen, zur öffentlichen Verwaltung und zu den höheren Ebenen der Justiz zu ermöglichen. Dadurch sollte sich eine neue Elite herausbilden, die die Interessen des Kapitals teilt. Zweitens wurden Führer und politischen Parteien gefördert, von denen angenommen wurde, dass sie sich willig in die post-koloniale Ordnung fügen würden. Wenn das alles nicht wirkte, wurden alle nur denkbaren Formen von Gewalt – Mordanschläge, Staatsstreiche, Desinformationskampagnen und in Einzelfällen auch Militärinterventionen – angewandt. Wo es notwendig schien, wurden auch Bürgerkriege provoziert und Terrorbanden finanziell unterstützt und mit Waffen aufgerüstet.

Die neu gegründeten nationalistischen Parteien standen aber unter dem Erwartungsdruck ihrer Anhänger. „Versprochen wurde von den neuen Regierungen (…) der Aufbau eines Gesundheitswesens sowie Zugang aller zur Schulbildung und es wurde – im Gegenzug zum Verzicht auf die Rechte und Freiheiten, die einst den Unabhängigkeitskampf inspirierten – etwas verheißen, das in den frühen 1950er Jahren in den USA erfunden wurde: Entwicklung“, sagt Firoze Manji in seinem Vortrag auf der Konferenz „Widerstand und Aufbruch – 125 Jahre Berliner Afrikakonferenz, 50 Jahre unabhängiges Afrika“, die von der Rosa-Luxemburg Stiftung und anderen Organisationen im Jänner 2010 in Berlin veranstaltet wurde. „Die unabhängig gewordenen Staaten wurden zu ‚Entwicklungsländern‘ – im Unterschied zu jenen Ländern, die sich als entwickelt betrachten: eine Auffassung, die in gewisser Weise eine Fortsetzung jener rassistischen Wahrnehmung widerspiegelte, die früher zur Rechtfertigung des Kolonialismus diente.“

Die Schuldenfalle

Es ist zweifellos ein großer historischer Verdienst, dass es den Regierungen in kurzer Zeit gelang, ihrer Bevölkerung Zugang zu Gesundheitsversorgung und Schulbildung zu eröffnen und die Ernährungssituation zu verbessern, was zu einer merklichen Steigerung der Lebenserwartung auf dem ganzen Kontinent führte. Der Aufschwung nahm jedoch ein jähes Ende, als der Kapitalismus Ende der 1970er Jahre in die Krise kam. Afrikanische Regierungen hatten gehofft, mit den Einnahmen durch Rohstoffexporte und die Hilfe ausländischer Investitionen einen schnellen Entwicklungssprung zu machen. Viele Entwicklungsvorhaben waren mit günstigen Krediten zu niedrigen Zinsen finanziert worden. Moderne Produktionstechniken sind jedoch kapitalintensiv, benötigen teure Ersatzteile und werfen, da die Kaufkraft in Afrika gering ist, kaum Profite ab. Ansteigende Zinsen und der durch die weltweite Überproduktion hervorgerufene Rohstoffpreisverfall stürzten viele vom Rohstoffexport abhängige Staaten in eine schwere Schuldenkrise.

Weil die Rückzahlung der Schulden und Zinsen nur durch einschneidende Sparmaßnahmen gewährleistet werden konnte, verordneten IWF und Weltbank den verschuldeten Staaten so genannte Strukturanpassungsprogramme und zwangen die Regierungen, staatliche Betriebe zu privatisieren, öffentliche Sozialleistungen radikal zu kürzen sowie die Kapitalmärkte und den Außenhandel zu öffnen. Manji bringt es auf den Punkt: „Im neoliberalen Verständnis besteht die wichtigste Funktion der Wirtschaftspolitik darin, einer kleinen Minderheit das Recht auf größtmögliche Bereicherung (euphemistisch als Wachstum bezeichnet) zu sichern. Nur wenn diese Freiheit unbegrenzt ist – so wird behauptet – könnten andere Mitglieder der Gesellschaft von positiven Rückkopplungseffekten profitieren. Der alleinige Zweck von Entwicklung sei es folglich, Wachstum zu schaffen, infolgedessen dann irgendwann später auch andere Annehmlichkeiten genossen werden könnten.“

Die erzwungene Öffnung hatte zur Folge, dass die Länder mit billigen Importgütern überschwemmt wurden. Die einheimische Industrie konnte nicht mit den niedrigen Preisen der importierten Güter mithalten. Auch die lokale Landwirtschaft konnte nicht mit den eingeführten Nahrungsmitteln konkurrieren, die von den Industriestaaten subventioniert wurden und werden. Viele Bauern waren gezwungen, von der Produktion von Grundnahrungsmitteln auf den Anbau von Exportprodukten wie Kaffee, Kakao oder Soja umzusteigen, deren Preise jedoch durch das steigende Angebot am Weltmarkt massiv sanken. Die Exporterlöse der Entwicklungsländer stiegen nicht im gewünschten Ausmaß, während die Ausgaben für Importe immer weiter wuchsen. Die Folge war, dass die Arbeitslosigkeit anstieg, die Einkommen sanken und die soziale Ungleichheit zunahm. Ausländische Investitionen schienen deshalb vielen Regierungen als einziger Ausweg. Die rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen. die verschärfte Konkurrenz im Wettlauf um die Rohstoffe, Landgrabbing und die Überfischung der Weltmeere sind jedoch für zahlreiche soziale und ökologische Konflikte verantwortlich.

Entwicklungshilfe – die neue Missionierung?

Immer mehr wird die Wirtschaftspolitik heute von multinationalen Institutionen bestimmt, während die afrikanischen Regierungen die Fähigkeit zu einer selbstbestimmten Gestaltung sozialer Entwicklungsprozesse verloren haben. Dass der Westen zunehmend mehr Augenmerk auf „gute Regierungsführung“ und insbesondere auf ein Mehrparteiensystem lege, habe nicht zur Demokratisierung der Gesellschaften geführt, so Manji, sondern nur die Machtkämpfe zwischen den Fraktionen der herrschenden Eliten in die Gesellschaft getragen.

Um die negativen Auswirkungen der Rückzug des Staates abzumildern, rückten karitative NGOs auf den Plan, die heute vielfach an Stelle des Staates Sozialprogramme durchführen und somit integraler Bestandteil des Systems geworden sind. Auch wenn die Rolle, die diese Organisationen bei der globalen Durchsetzung des Neo-Liberalismus gespielt haben, nicht vordergründig deren Absicht entsprochen haben mag, mindere das ihre Mitverantwortung kaum, kritisiert Manji, denn ihr Wirken sei effektiver als das der Missionare.

Die Lösungen, die von den politischen Eliten angeboten werden, finden jedoch bei den Menschen immer weniger Akzeptanz. Überall auf der Welt formieren sich Bewegungen, die sich gegen den Ausverkauf ihrer Länder wehren. Doch obwohl sich immer mehr Menschen „eine andere Welt“ wünschen, haben die wenigsten eine Vorstellung davon, wie sie aussehen könnte, konstatiert Manji. Noch nie sei die Linke so geschwächt, so zerrissen und so diskreditiert gewesen wie heute. Ohne überzeugende ideologische Alternative und ohne inspirierende Zukunftsvision von einer Welt, wie sie sein könnte, sei es daher nicht überraschend, dass viele dieser Bewegungen keine Alternative zum Kapitalismus sehen oder anstreben. Die Herausforderung bestehe folglich darin, plädiert Manji, eine realistische und mobilisierende Vision zu entwickeln und überzeugend darzustellen, dass eine sozialistische Alternative nicht nur wünschenswert, sondern auch notwendig ist – und dass sie möglich ist ohne jenen bürokratischen Despotismus, der ihr in der Vergangenheit eigen war.

veröffentlicht in Talktogether Nr. 53/2015