Erklärungen und Gedanken zum japanischen Haiku PDF Drucken E-Mail

Ein paar Erklärungen und Gedanken

zum japanischen Haiku

von Ursula Schliesselberer

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Das Haiku ist das kürzeste Gedicht der Weltliteratur und stammt aus Japan. Es hat nur drei Zeilen. Die Silben verteilen sich so, dass die erste Zeile fünf, die zweite sieben Silben und die dritte wieder fünf Silben umfasst. Das Haiku beschreibt vor allem die Natur in ihren verschiedenen Jahreszeiten. Dafür gibt es meist ein Jahreszeitenwort (Ki) wie z.B. „Frühlingsregen“ oder „Winterstille“. Es gibt die dem Haiku zugrunde liegende Stimmung an. Jedes Haiku ruft in uns eine Stimmung hervor, die uns eine Weile gefangen nimmt und eine geraume Zeit in uns nachklingt. Die geistigen Ursprünge der Haiku-Dichtung liegen im Zen und im Taoismus. Wer Haiku schätzt, ehrt zugleich den Weg des Tao und den des Zen, die Teezeremonie genauso wie Ikebana, allesamt reiche geistige Traditionen aus dem China und Japan der Antike.

Für das Haiku gelten verschiedene ästhetische Regeln, wie zum Beispiel Einfachheit. Es war Matsuo Basho (1644-94), der größte Haiku-Meister, der das Grundelement dieser poetischen Form lernte und vervollkommnete. Er fand heraus, dass es möglich ist, bedeutende Ansichten und Gefühle auf harmonische Weise zu komprimieren und mit wenigen Silben auszudrücken. Mit einem Minimum an Worten wird ein Maximum an Mitteilung erzielt. Andere ästhetische Qualitäten sind die Vermeidung von Erhabenem, die Freude am Reichtum des Schlichten, ein starkes Bewusstsein des Stofflichen und ein erfrischender Mangel an Ich-Bezogenheit.

Matsuo Basho wurde als Spross eines alten Samurai-Geschlechts geboren. Ihn seiner Jugend diente er als Edelknabe und übte sich dabei mit seinem Herrn in der Dichtkunst. Mit 22 Jahren zog er sich in ein Kloster bei Kioto zurück um sich dem Zen-Buddhismus zu widmen. Er gründete eine eigene Schule der Dichtkunst. Danach bewohnte er ein kleines Häuschen unter einem Bananenbaum (basho), nach dem er sich benannte. Er widmete sich dem Weg der stillen Betrachtung und Versenkung, dem Weg der Meditation, oder, wie die Japaner sagen, dem Zen. Der erleuchtete Basho sagte: "Um ein Haiku zu schreiben, werde ein drei Fuß großes Kind."

Der Pflege des Gedichts widmen sich in Japan nicht nur einige wenige Literaten, sondern alle Schichten des Volkes. Es gibt unzählige Monatsschriften für die Freunde der Haiku-Dichtung. Jährlich erblicken dort ca. eine Million Haikus das Licht der Welt. Das Haiku war ursprünglich nur bei Staatsmännern, Hofleuten, Kriegsherren und Samurai beliebt. Es wurde auf Billetts an Freunde und Verwandte verschickt und war oft mit einem Scherz oder Wortspiel versehen. Neben dem Tanka (welches das Silbenmaß 5+7+5+7+7 hat) ist das Haiku heute die bevorzugte Gedichtform der Japaner.

Wie bin ich zum Schreiben von Haikus gekommen? Seit ich in Pension bin, wurden Spazierengehen und meditatives Wandern zu meiner Medizin. Oft gehe ich zu meinem Kraftplatz, liege in der Wiese in der Sonne und lasse einfach alle Eindrücke der Natur auf mich wirken. Es tut gut, nur zu lauschen oder den Ausblick ins Gebirge zu genießen und sich in den positiven Schwingungen der Natur aufzuladen. Auch das gleichmäßige und kraftvolle Vorbeiziehen des Wassers der Salzach ist beruhigend und entspannend. Seit 2006 bin ich Schülerin von Sant Rajinder Singh, eines indischen Meditationsmeisters, der eine einfach zu erlernende Art der Meditation (Meditation auf das innere Licht und den inneren Ton oder Jyoti-Meditation) lehrt, und ich habe begonnen, regelmäßig zu meditieren.

Ich denke, dass die beiden vorher genannten Umstände dazu führten, dass ich anfing, im Alltag des Öfteren innezuhalten und achtsamer zu werden und – Haikus zu dichten. Es tut gut, einmal einfach nur aus dem Fenster zu schauen und das Ziehen der Wolken zu betrachten. Das Wort „Inhalt“ kommt vom Innehalten. Durchs Innehalten komme ich zum Inhalt. Innehalten, sich Zeit nehmen, im Augenblick leben – das sind fantastische Mittel gegen Hektik. In China heißt es: "Der Regenbogen wartet nicht bis du mit deiner Arbeit fertig bist." So wie ein spielendes Kind müssen wir wieder lernen, bei etwas ganz zu sein. Der wahre Haiku-Dichter geht gänzlich im Physischen auf und ist sich des Vergänglichen voll bewusst. Eine solch liebevolle Versenkung gestattet ihm auch, die Welt der Erscheinungen mit Gleichmut hinzunehmen. Nichts ist zu hoch oder zu niedrig. Zum Abschluss möchte ich Ihnen eines meiner Haikus vorstellen:

Dünne Mondsichel
und leuchtender Abendstern
zwischen den Zweigen

Quellen:

Haiku, Japanische Dreizeiler, Insel-Verlag, Wiesbaden 1960;
Haiku, Japanische Dreizeiler, Reclam, Stuttgart, 1998;
Haiku für Liebende, Patmos, Düsseldorf, 2005.


erschienen in Talktogether Nr. 54/2015

 

 

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