Gespräch mit Omar Khalifa
„Solange die Menschen nicht vor der Türe gestanden sind, hat der Westen mit dem Krieg kein Problem gehabt. Nun marschieren sie über die Grenzen und sitzen auf den Bahnhöfen. Das ist aus meiner Sicht ein Ergebnis der Waffenexporte. Darum ist es unglaubwürdig, wenn Politiker jetzt von Frieden reden, denn Waffen produzieren und Frieden stiften passen nicht zusammen.“
TT: Du bist selbst vor 23 Jahren als Flüchtling nach Österreich gekommen. Ist die Situation der Flüchtlinge heute mit damals vergleichbar?
O.K: Die Fluchtgründe und die Argumente der Flüchtlingsgegner sind die gleichen geblieben. Krieg bleibt Krieg, es wird geschossen, bombardiert, geraubt, geplündert, vergewaltigt und die Menschen fliehen, damals wie heute. Auch damals hieß es schon von Seiten der Rechten: Das Boot ist voll. Der Unterschied liegt darin, dass die Zahl der Schutzsuchenden heute noch größer ist als damals. In den 1990er Jahren sind viele Menschen aus Afrika und aus dem Balkan nach Österreich gekommen, allein aus dem ehemaligen Jugoslawien waren es ca. 100.000. Doch die Regierung war nicht so überfordert wie heute. Niemand musste in Zelten oder auf dem Boden schlafen, wie wir es heute sehen. Trotzdem waren auch unfreundliche Töne zu hören wie heute. Entweder hieß es, sie nehmen uns die Arbeit weg, oder, sie wollen nicht arbeiten und nutzen unser Sozialsystem aus. Allerdings hatten wir damals weniger Möglichkeiten an Deutschkursen teilzunehmen wie heute, das hat sich zum Glück in der Zwischenzeit verbessert.
TT: Warum sind heute mehr Menschen auf der Flucht?
O.K: Ich denke, dass sich der Kampf um wirtschaftliche und geopolitische Einflusssphären verschärft hat. Und wenn es um wirtschaftliche und politische Interessen geht, haben die Mächtigen ja noch nie vor Gewalt und Krieg zurückgeschreckt. Während die Zivilbevölkerung darunter leidet, gibt es jedoch Unternehmen, die von den Kriegen profitieren. Weil es ohne Krieg keine Nachfrage nach Waffen gibt, sind die Waffenverkäufer interessiert daran, dass ihre Waffen gekauft und eingesetzt werden. Das ist meiner Meinung nach die wahre Ursache für die Gewalt, und deren Auswirkungen haben vor den Augen, wenn wir die geflüchteten Menschen sehen. Sobald ein Krieg ausbricht, gibt es für die Menschen zwei Möglichkeiten: Entweder sie beteiligen sich an der Gewalt und sind bereit, zu töten oder getötet zu werden, oder sie fliehen dorthin, wo es Frieden gibt. Und das ist dort, wo die Waffen hergestellt worden sind, vor denen sie geflohen sind.
Der Krieg in Syrien und im Irak dauert nun schon so lange, so dass die Menschen das Vertrauen in die Politik und die Hoffnung verloren haben, dass die Gewalt in absehbarer Zeit ein Ende finden wird und sie in ihrem Land bleiben oder wieder zurückkehren können. Dasselbe gilt auch für Länder wie Afghanistan und Somalia, wo schon seit Jahrzehnten Gewalt herrscht. Auch wenn eine Regierung gewählt worden ist, bedeutet das ja noch nicht, dass sie in der Lage ist, den Menschen die Hoffnung auf Normalisierung und eine Verbesserung ihrer Lebensumstände zu geben. Die Perspektivlosigkeit und die Gewalt sind es aber, die immer mehr Menschen zur Flucht zwingen, ob vor es dreiundzwanzig Jahren war oder heute.
Die Menschen, die es schaffen, bis nach Europa zu kommen, stammen meist aus der Ober- oder Mittelschicht und können es sich leisten, Schlepper und Bestechungsgelder zu bezahlen. Aber wir dürfen nicht die Flüchtlinge vergessen, die zurückbleiben und meist unter katastrophalen Bedingungen in den überfüllten Lagern im Land oder in den Nachbarländern leben. Nachdem die internationale Hilfe für diese Flüchtlingslager gekürzt wurde, haben die Menschen dort nicht einmal genug zu essen. Ein weiterer Faktor ist der Zerfall der staatlichen Strukturen: Syrien, Irak und Libyen waren funktionierende Staaten, daher war es 1992 nicht möglich, über diese Länder nach Europa zu kommen oder mit dem Schlauchboot über das Meer zu gelangen. Jetzt sind zwar die Diktatoren weniger geworden, stattdessen gibt es unzählbare und unkontrollierbare so genannte Rebellen und endlose Gewalt. Das Chaos nutzen dann Schlepperbanden aus, die nur ihren Profit im Auge haben. Schließlich haben die Aussagen der Deutschen Bundeskanzlerin, dass die Flüchtlinge willkommen seien, den Menschen Hoffnungen gemacht, die vorher nicht fliehen konnten, weil sie nicht genug Geld für Schlepper hatten. Hier gibt es viele offene Fragen: Wie lange werden es europäische Politiker zulassen, dass die Grenzen Europas offen bleiben, im Hinblick auf die Wahlerfolge rechter Parteien? Leiden Deutschland und Österreich wirklich unter einem Fachkräfte- oder Akademikermangel und können die Flüchtlinge diese Lücke füllen? Warum ist es der Politik bis jetzt nicht gelungen, den bereits hier lebenden jungen Menschen Chancen und Perspektiven zu geben?
TT: Warum wollen diese Kriege deiner Meinung nach kein Ende finden?
O.K: Ich frage mich, warum Saddam Hussein und Gaddafi so schnell gestürzt worden sind und Assad immer noch an der Macht ist. Meiner Meinung nach sind sich die Mächtigen nicht darüber einig, wer ihm nachfolgen sollte. Und weil Syrien kaum Öl hat würde ein Krieg mit Assad zudem mehr Verluste als Profit bringen. Russland wiederum kann hier seine Macht demonstrieren, die es in der Ukraine nicht zeigen konnte. Noch dazu kommt die Einmischung regionaler Mächte wie dem Iran, Israel, der Türkei, Saudi Arabien und den Golfstaaten, die alle ihre eigenen Interessen in der Region verfolgen und den Krieg anheizen, indem sie die unterschiedlichen Kriegsparteien mit Geld, Waffen und Propaganda unterstützen. Es scheint, dass der Krieg von außen gesteuert und Syrien zu einem Kriegsfeld der Mächtigen geworden ist. Als Resultat sehen wir die leidenden Menschen, die Flüchtlinge, die Bomben, die alles dem Erdboden gleich machen. Diejenigen aber, die durch Krieg und Aufrüstung profitieren, sitzen in Sicherheit weit weg von den Kriegsgebieten.
Solange die Menschen nicht vor der Türe gestanden sind, hat der Westen mit dem Krieg kein Problem gehabt. Nun marschieren sie über die Grenzen und sitzen auf den Bahnhöfen. Das ist aus meiner Sicht ein Ergebnis der Waffenexporte. Darum ist es unglaubwürdig, wenn Politiker jetzt von Frieden reden, denn Waffen produzieren und Frieden stiften passen nicht zusammen. Die Interventionen des Westens in Afghanistan, im Irak und in Libyen haben den Grundstein für die unsichere Lage gelegt, die wir heute sehen. Man hat behauptet, wenn die Diktatoren beseitigt würden, käme die Demokratie. Die Diktatoren wurden hingerichtet, kam nach ihnen die Demokratie?
TT: Wäre die Situation heute besser, wenn Saddam Hussein oder Gaddafi noch immer an der Macht wären?
O.K: Jedes Regime hat ein Ablaufdatum. Eine politische Veränderung war in diesen Ländern dringend notwendig. Nur wurden diese Kriege nicht im Interesse der unterdrückten Völker geführt und auch nicht von ihnen gesteuert. Sie wurden von Regierungen geführt, die als verlängerter Arm der Öl- und Waffenkonzerne agieren, um alle Hindernisse für den reibungslosen Ablauf ihrer Geschäfte zu beseitigen. Ein Teil der Bevölkerung, der sich Freiheit, Demokratie und eine Verbesserung der Lebensbedingungen erhofft hat, ist nun enttäuscht. Wenn das irakische, das syrische, das afghanische, das somalische oder das jemenitische Volk ohne Einmischung von außen Widerstand gegen die Diktaturen geleistet hätten, denke ich, dass wir heute ein anderes Ergebnis und weniger Tote sehen würden. Ich will nicht behaupten, dass es besser wäre, wenn die Diktatoren noch an der Macht wären, ich kann aber sagen, dass das, was nach ihnen gekommen ist, nicht die versprochene Demokratie ist.
TT: Was sind die Gründe für den Aufstieg von Gruppen wie der so genannte Islamische Staat?
O.K: Dieses Gebiet ist ein multiethnisches und multireligiöses Gebiet. Die Machtverhältnisse waren aber immer ungleich und manche Bevölkerungsgruppen hatten mehr Mach als die anderen. Durch die US-Intervention sind im Irak schiitische Gruppen an die Macht gekommen und haben jetzt die Vorherrschaft im Land. Die Kurden haben ihre autonome Region bekommen, durch den Ölreichtum profitiert und sind damit in ihrer Machtposition gestärkt worden. Die sunnitischen Stämme aber wollten ihre Entmachtung sie nicht akzeptieren. Diese Spaltung der Bevölkerung und die Enttäuschung bildeten den Nährboden, auf dem gewalttätige Gruppen wie ISIS entstanden sind. Hinter den Kulissen aber haben die Konzerne ihr Monopol gefestigt und das Ölgeschäft läuft reibungslos. Wer hinter ISIS steckt, erkennt man an ihren Waffen, weil ISIS diese Waffen nicht selbst herstellt. Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe keine Kriege, keine Konflikte und keine Bedrohungen mehr in diesem Gebiet und keine Waffen würden mehr bestellt. Wie viele Arbeitslose gäbe es in den USA und in Europa? Wenn die Politiker sagen würden, wir stoppen die Waffenproduktion, würden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der nächsten Wahl nicht mehr gewählt.
TT: Die Kriegstreiber sitzen in verschiedenen Ländern, doch die Flüchtlinge kommen hauptsächlich nach Europa…
O.K: Die Flüchtlinge fliehen in die Länder, die sie schnell erreichen können. Sie können mit dem Schlauchboot oder dem Schlepperauto nicht die USA erreichen. Daher muss man von den USA, die zu den größten Verursachern der Krise gehören, verlangen, mehr Flüchtlinge aufzunehmen und sich stärker an den Kosten zu beteiligen. Dasselbe gilt auch für die reichen Golfstaaten, die bislang überhaupt keine Flüchtlinge aufgenommen haben. Man kann nicht Konflikte erzeugen, Waffen verkaufen damit gute Geschäfte machen oder Waffen sponsern und die Probleme mit den Flüchtlingen den anderen überlassen!
TT: Wird der Flüchtlingsstrom in absehbarer Zeit abreißen?
O.K: Das glaube ich nicht, denn solange das Haus brennt, so lange bombardiert und geschossen wird, fliehen die Menschen aus dem Haus und aus dem Land. Sie versuchen, in Sicherheit zu kommen, egal auf welchen Wegen. Wir haben das tragische Unglück gesehen, als im August dieses Jahres 71 Flüchtlinge in einem Lastwagen erstickt sind. Es ist eine grenzenlose Heuchelei, über die Skrupellosigkeit der Schlepper zu klagen, wenn man die Flüchtlinge in die Hände dieser Schlepper treibt. Wenn man Möglichkeiten schaffen würde, dass die Menschen Vorort um Asyl ansuchen und auf die verschiedenen Aufnahmestaaten verteilt werden können, dann müssten sie weder einen Schlepper bezahlen noch in ein Schlauchboot einsteigen.
TT: Was sagst du zur Spaltung der Flüchtlinge in Kriegsflüchtlinge und Wirtschaftsflüchtlinge?
O.K: Politiker*innen in der EU und den USA reden immer von den Menschenrechten. Wenn sie nach Kuba, nach China oder in den Iran reisen, werden sie nicht müde, die Menschenrechte einzufordern. Aber die gleichen Politiker*innen beschließen, so genannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ abzuschieben. Der Schutz bei Verfolgung und Diskriminierung gehört aber zur Genfer Konvention. Warum akzeptieren sie es nicht als Menschrecht, wenn ein Mensch, der seine Familie nicht ernähren kann, weil es für ihn keine Arbeitsmöglichkeiten gibt und er mit Diskriminierung konfrontiert ist, woanders bessere Lebensbedingungen zu suchen? Gelten die Menschenrechte nicht für ihn? Was hätten die Politiker gesagt, wenn die Roma in China, in Kuba oder in Saudi Arabien leben und dort die gleiche Erfahrung machen würden wie in Europa? Wer sich für den Künstler Ai Weiwei einsetzt, sollte nicht die Lage der Roma in Osteuropa ignorieren und abschieben.
TT: Wie kann man die Flüchtlinge hier unterstützen?
O.K: Die Flüchtlinge brauchen zuerst das Gefühl haben, dass sie der Gewalt entkommen, dass sie hier in Sicherheit und willkommen sind. Dabei können Menschen aus den Herkunftsländern der Flüchtlinge, die schon längere Zeit hier leben, eine Vermittlerrolle spielen. Dann brauchen sie Unterstützung, um sich in der Gesellschaft hier zurechtzufinden. Mitleid oder falsche Schonung sind jedoch keine Hilfe. Hilfe ist, wenn man den Menschen auf Augenhöhe begegnet, sie mit der Realität konfrontiert und sie auch auf Irrtümer hinweist. Je schneller die Menschen ihren Weg finden, desto schneller werden sie sich selbst helfen können. Die Flüchtlinge werden nur dann eine Belastung für die europäischen Gesellschaften, wenn man sie nicht arbeiten lässt und sie von Sozialhilfe abhängig macht. Viele brauchen Zeit, bis sie auf eigenen Beinen stehen, aber ich kenne viele, die schon heute mit der Arbeit anfangen können, wenn es nicht die Hürden nicht so hoch wären. Sie sind Ärzte Köche, Bäcker oder Schneider und brauchen nur ein bisschen Unterstützung, damit sie aus eigener Kraft leben können.
Was die Flüchtlinge dagegen nicht brauchen, sind die Parolen der Rechten wie Strache und Pegida sowie den Missbrauch durch falsche Freunde im Namen des Islams. Leute wie Pierre Vogel nützen diese Menschen für ihre eigenen Interessen aus und schaffen damit für die Flüchtlinge neue Feinde.
Flüchtlinge in Europa aufzunehmen ist schön und menschlich, noch wichtiger wäre es aber meiner Meinung nach, die Fluchtursachen zu beseitigen. Dazu gehört auch, diese Länder dabei zu unterstützen, eine eigene Industrie aufzubauen, statt Waffen in die Krisenregionen zu schicken und die Gewaltspirale weiter nach oben zu schrauben. Wir wissen dass der größte Teil der Weltbevölkerung Frieden will, und nur ein kleiner Teil Interesse daran hat, die Kriege zu schüren. Am besten wäre es, wenn in allen Ländern der Welt die Waffenfabriken umgestellt würden, um andere für die Menschen nützlichere Dinge zu produzieren, damit die Menschen in Europa und Nordamerika nicht arbeitslos und in anderen Kontinenten nicht getötet werden!
erschienen in Talktogether Nr. 54/2015
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