Olivier und Mansour – ein Gespräch in Paris PDF Drucken E-Mail

Olivier und Mansour – ein Gespräch in Paris

Olivier versteht überhaupt nicht, warum die Terrormiliz IS auch in muslimischen Ländern terroristische Angriffe ausübt,weil er davon ausgegangen ist, dass die Ideologie des IS mit dem muslimischen Glauben zu tun habe, und sich ihre Gewaltgegen Andersgläubige richte. Deshalb ruft er Mansur an und bittet ihn um ein Gespräch. Sie treffen sich in einem Café …

Olivier: Ich verstehe nicht, warum diese Terroristen sich selbst und uns umbringen, warum hat für sie das Leben keinen Sinn? Warum macht ihr Muslime das?

Mansour: Möchtest du mir wieder Vorwürfe machen? Muss ich mich rechtfertigen, warum diese kranken Menschen weder das Leben der anderen achten, noch ihr eigenes Leben lieben? Ich versuche zu verstehen, warum man allen Muslimen eine Kollektivschuld für diese Verbrechen zuweist. Was würdest du mir antworten, wenn ich dich gefragt hätte, warum die Nazis zu Nazis geworden sind? Sollte ich alle Europäer als Nazis oder Ausbeuter verurteilen, nur weil sie Europäer sind?

Olivier: Nein. Das wäre eine falsche Verallgemeinerung. Ich mache dir keine Vorwürfe, nur habe ich keine Antwort darauf, woher diese Leute die Idee haben, andere Menschen zu töten. Es ist mir auch klar geworden, dass sowohl du als auch ich in jeder Minute ein Opfer von einem Attentat von ISIS oder auch von Nazi-Angriffen werden könnten. Nur, die Nazis haben Länder überfallen und Menschen getötet, aber selten sich selbst geschadet. Damit meine ich, sie töten, wollen aber selbst am Leben bleiben. ISIS-Terroristen dagegen töten andere und sich selbst dazu, warum ist ihnen der Tod mehr wert als das Leben?

Mansour: Darauf habe ich auch keine passende Antwort, und

ich hoffe, dass du das akzeptierst. Ich weiß nur eines, nämlich dass das Leben das Wertvollste ist, was uns Gott geschenkt hat. Und dass jemand so einfach sein eigenes Leben und das Leben anderer vernichten kann, ist für mich unerklärlich. Früher habe ich gedacht, dass sie aus Protest solche grausamen Taten verüben, aber mittlerweile bin ich davon nicht mehr überzeugt. Ich glaube eher, dass sie diese Verbrechen aus Bosheit, Hass und Selbsthass begehen. Eines möchte ich jedoch betonen: Wenn man uns Muslime nur wegen unserer Religion unter Generalverdacht stellen und in diese schmutzigen Verbrechen hineinziehen möchte, dann müssen wir klarstellen, dass sich diese Verbrechen gegen die ganze Menschheit richten und nicht nur gegen Menschen aus dem Westen und gegen die Europäer, wie manche glauben. Was in Paris geschah, hat große Trauer hervorgerufen, aber was in Jakarta, Burkina Faso oder Nigeria passiert, findet weit weniger Beachtung. Das trennt uns und gibt denen eine Chance, die Hass und Zwietracht säen. Ich möchte dazu ergänzen, dass wir auch nicht alle Kolonialisten und Sklavenhalter mit dem Christentum oder mit dem Islam in Verbindung bringen können, nur weil sie christliche oder muslimische Namen tragen. Einfacher gesagt, sie haben zwar muslimische oder christliche Namen, aber sie handeln aus anderen Beweggründen, und die Religion dient höchstens als Vorwand.

Olivier: Ich diskutiere mit dir, weil ich dich kenne und du mir ein Freund bist, aber nicht mit jedem Muslim kann ich so diskutieren wie mit dir. Hier muss ich aber den Islam erwähnen, weil sie ja immer Allahu Akbar rufen, wenn sie Menschen töten. Daher frage ich, warum rufen sie Gottes Namen, während sie Menschen töten? Ich muss sagen, dass ich seit unserem ersten Gespräch viel nachgedacht habe und mir klar geworden ist, dass nicht alle Muslime mit ISIS vergleichbar sind. Nach den Attentaten in Istanbul und in Jakarta habe ich erkannt, dass die Terroristen gegen alle Menschen sind, und für sie die Religion keine Rolle spielt. Dass sie sich freuen, wenn unschuldige Menschen getötet werden, beweist, wie krank sie sind. Wenn sie in einem Fußballstadion oder in einer Disko Bomben verstecken, dann ist klar, dass sie es nicht auf bestimmte Menschen abgesehen haben, sondern dass sie die Absicht haben, wahllos alle Menschen zu töten, die zufällig gerade anwesend sind.

Mansour: Ich habe in Polen die KZ-Gedenkstätte in Auschwitz besucht. Dort habe ich gesehen, auf welche bestialische Weise die Nazis Menschen getötet haben. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, diese grausamen Taten mit dem Christentum in Verbindung zu bringen, genauso wenig wie jemand das Attentat bei den Olympischen Spielen in München mit dem Islam in Verbindung bringt. Für mich sind die ISIS-Terroristen mit den Nationalsozialisten vergleichbar, der einzige Unterschied ist, dass die einen den Namen Gottes rufen und die anderen Heil Hitler schreien. Es gibt meiner Meinung nach jedoch kein größeres Verbrechen und keine größere Gotteslästerung, als im Namen Gottes Kinder, Frauen und unbeteiligte Menschen zu töten, sie zu quälen und zu versklaven.

Wenn russische oder Nato-Flugzeuge in Syrien Städte bombardieren, töten auch sie viele Menschen. Der Unterschied ist, dass die dafür Verantwortlichen zumindest nicht behaupten, dass sie es im Namen Gottes tun. Wer an Gott glaubt, für den muss die Menschheit eine große Bedeutung haben. Aber heute scheint es so, dass Gier und Macht wichtiger als die Menschlichkeit geworden sind. Zum Beispiel ist der Frieden für die Menschen besser als der Krieg, aber der Krieg bringt für die Waffenfabrikanten einfach mehr Gewinne ein als der Frieden, darum erleben wir diese Gewalt. Ob sie nun im Namen Gottes, im Namen Hitlers oder im Namen der Demokratie ausgeübt wird, die Waffen töten alle auf die gleiche Art und Weise. Es gibt genug Naturkatastrophen, die sich nicht vermeiden lassen, wie Hurrikans oder Erdbeben, aber auch Krankheiten wie Malaria, Ebola oder jetzt den Zika-Virus. Die Folgen des Klimawandels bedrohen die Lebensgrundlage vieler Menschen. Statt alle Kräfte zu mobilisieren, um die Menschheit vor diesen Bedrohungen zu schützen und Lösungen zu entwickeln, wird die Vernichtung der Menschen beschleunigt, indem gefährliche Waffen produziert werden, die sich gegen uns alle richten. Wer Krieg treiben will und glaubt, dass er davon nicht betroffen sein wird, der muss sich einen anderen Planeten zum Leben suchen.

Olivier: Das stimmt. Wer unbedingt Krieg will, denkt nicht an Menschlichkeit und kümmert sich nicht um Frieden. Daher verzichten die Kriegstreiber auf Kompromisse und suchen keine Lösungen, und Werte wie Demokratie und Religion werden von ihnen instrumentalisiert. Sie geben einfach der Kampfflugzeugflotte

den Einsatzbefehl, und ein paar Stunden später werden viele Menschen getötet und ganze Städte dem Erdboden gleich gemacht. Die Meldung lautet dann: Wir haben Terroristen getötet. Wie viele Zivilisten gestorben und wie viele Häuser zerstört worden sind, erfahren wir erst, wenn die Flüchtlinge hier vor unseren Türen stehen. Wenn die Flüchtlinge erzählen, dass russische oder Nato-Flugzeuge die Menschen genauso töten, wie es die Terroristen tun. Denn die Bomben unterscheiden nicht, wer ein Terrorist ist und wer nicht. Was ist uns überhaupt der Frieden wert? Seit unserem letzten Gespräch denke ich, wie scheußlich es ist, ein Mensch zu sein, wenn Gier, Macht, Arroganz und Nationalismus mehr Bedeutung haben als Frieden und Verständigung. Seit unserem Treffen frage ich mich, was noch alles passieren muss, bis wir endlich beginnen, die Existenz der Menschheit zu retten, statt sie zu zerstören und zu vernichten! Wann beginnen wir endlich damit, Lösungen zu suchen, damit Terroristen und Nazis schwächer werden und keiner mehr bei ihnen Zuflucht sucht.

Mansour: Ich denke, das hat schon längst begonnen. Du hast gesehen, wie viele Freiwillige sich in Europa um die Flüchtlinge kümmern. Auch in Syrien oder im Irak gibt es viele Menschen, die ihr Leben riskieren, um ihre Freunde, ihre Nachbarn oder ihre Verwandten zu retten. Auch aus Nordkenia habe ich eine Nachricht gelesen, die mir Hoffnung macht: Nachdem die Alshabab-Terroristen dort einen Bus überfielen, haben sie verlangt, dass alle muslimischen Reisenden aussteigen sollten, damit sie die Nicht-Muslime töten könnten. Aber die Reisenden haben Courage gezeigt und sich geweigert. Sie haben gesagt: „Wir steigen nicht aus. Entweder ihr tötet uns alle, oder ihr steigt aus und wir fahren gemeinsam weiter.“ Die mutigen Busreisenden in Nordkenia, aber auch die Menschen, die ihre Zeit opfern und manchmal viel riskieren, um Flüchtlinge zu retten, ermutigen mich, an eine positive Veränderung zu glauben. Für mich sind ISIS und Nazis Krankheiten der Menschheit wie Krebsgeschwüre oder Aids, für die wir Heilmittel entwickeln müssen. Wir dürfen uns aber nicht spalten lassen! Es darf keinen Unterschied geben, ob Menschen in Paris oder in Bagdad durch einen Terroranschlag getötet werden, weil alle Menschen gleich viel wert sind.

Olivier: Ich möchte auch optimistisch sein und hoffe, dass wir Krieg und Terror eines Tages überwinden können. Doch gleichzeitig bin ich realistisch und frage, wie lange es noch dauern wird. Ich denke immer, dass die Muslime heute machen, was die Christen vor Jahrhunderten hinter sich gebracht haben. In Geschichtsbüchern lese ich über Kriege und Gewalt zwischen Katholiken und Protestanten, heute sehe ich im Fernsehen, höre im Radio und lese in den Zeitungen, dass Schiiten gegen Sunniten kämpfen. Sind das nicht Beweise dafür, dass die Menschen

unfähig sind, aus der Geschichte zu lernen?

Mansour: Davon können wir ausgehen. Vor dem Krieg zwischen

dem Irak und dem Iran habe ich nur zwischen Muslimen und Christen unterschieden. Doch dann habe ich plötzlich über Konflikte zwischen Schiiten und Sunniten gehört. Gleichzeitig habe ich erfahren, dass diese Konflikte nichts Neues sind, sondern mit den Machtkämpfen zwischen Protestanten und Katholiken hier in Europa vergleichbar sind. Ich bin aber überzeugt davon, dass die Wege zu Gott bereit genug sind, dass alle nebeneinander gehen können. Warum soll eine Gruppe mit der anderen konkurrieren oder sie zwingen, auf dieselbe Art und Weise zu gehen wie sie? Niemand hat ein Monopol auf den richtigen Glauben. Ich werde zum Beispiel nie mit ISIS auf einem gemeinsamen Weg gehen, da gibt es zu viele Bomben und Gewalt.

Olivier: Ich bin auch von vielen, die sich die „Christen“ nennen, nicht begeistert. Ich hasse es auch, wenn wir die eigenen Verbrechen immer mit den Verbrechen der Anderen aufwiegen. Wenn ich sage, die Muslime töten, dann höre ich, die Nazis haben Asylheime angezündet. Wenn ich sage, ISIS hat viele Menschenleben auf dem Gewissen, dann höre ich, USamerikanische Drohnen und Flugzeuge aus Russland oder Frankreich haben auch viele Menschen getötet. Warum können wir keine positiven Beispiele anführen? Warum versuchen die Menschen immer, sich mit Negativem zu übertrumpfen?

Mansour: Ich weiß es leider nicht. Es geht mir wie dir, aber manchmal denke ich, ich sollte überhaupt nichts sagen und nicht darüber reden, weil es ja nichts ändert. Doch dann erinnere mich an ein Gedicht von Erich Fried, in dem er sagt, wer in dieser Welt lebt und nicht kritisiert, sei krank. Also, weil ich nicht krank sein möchte, muss ich kritisieren.

Oliver: Das gilt auch für mich. Zu kritisieren und darüber zu reden ist meiner Meinung nach unbedingt nötig, denn wer schweigt, macht sich mitschuldig. Doch nun zu einem anderen Thema: Als der iranische Präsident Rohani in Italien war, hat man die antiken Statuen verhüllt, damit er die Nacktheit nicht sehen muss. Die Rechten in Italien haben sich darüber sehr aufgeregt. Was denkst du darüber?

Mansour: Das habe ich auch mitbekommen. Ich verstehe nicht, warum sie die Statuen verhüllt haben. Diese Statuen stehen schon Jahrhunderte dort und Rohani weiß, dass es sie gibt, und hat wahrscheinlich auch Fotos von ihnen gesehen. Wenn der Papst damit leben und sie aushalten kann, muss Herr Rohani auch dazu in der Lage sein. Ich glaube auch nicht, dass er gesagt hat, wenn ihr mir solche Bilder zeigt, komme ich nicht nach Rom. Durch diese falsche Höflichkeit haben sie aber einen neuen Konflikt herbeigerufen. Wenn die rechte Szene in Italien meint, die nackten Statuen seien ihre Kultur, und sich aufregen, als ob Rohani die Statuen in den Iran mitnehmen wollte, sehe ich wie hetzerisch sie sind. Nacktheit ist die natürlichste Sache der Welt und gehört nicht nur den Italienern. Aber heute versuchen die rechten Parteien mit allen Mitteln Stimmen zu holen. Auf einmal wollen sie das Christum oder die europäische Kultur retten, auf einmal treten sie als Menschenfreunde auf und geben vor, sich für Frauenrechte einzusetzen oder Juden, Lesben und Schwule schützen zu wollen. In Wirklichkeit geht es ihnen nur darum, die Menschen gegen einander aufzuhetzen!

Olivier: Ja, da hast du Recht. Auch der Vorfall am Kölner Hauptbahnhof war für sie ein Anlass für ihre Hetze. Nicht nur die Frauen sind die Opfer, sondern auch Menschen aus arabischen Ländern und die Flüchtlinge leiden jetzt darunter. Für mich ist bis heute unklar, wer dieses Verbrechen wirklich begangen hat. Zuerst hat es geheißen, es seien Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan gewesen. Dann wurde gesagt, die Männer seien Nordafrikaner und aus den Balkanländern gewesen. Und dann haben sie wieder von vorne angefangen und gemeint, Syrer und Afghanen seien die Täter gewesen. Und die Polizei war dort und hat von alledem nichts mitbekommen. Lass uns hoffen, dass so etwas nie wieder vorkommt!


veröffentlicht in Talktogether Nr. 55/2016

 

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