Vom Rand in die Mitte
Gedenken an Professor Rudolf Sarközi
„Vom Rand in die Mitte.“ Dieser Satz hat Rudi Sarközi sein Leben lang begleitet. Sein persönlicher Lebensweg spiegelt die Zeitgeschichte der Roma- und Sinti in Österreich wider. Obwohl er nur die Volksschule besucht hat, ist er Professor geworden, und das hat er verdient. Geboren im KZ Lackenbach wurde er zu einem der bedeutendsten Kämpfer für die Anerkennung und Gleichstellung seiner Volksgruppe, wobei er sich durch unermüdlichen Einsatz, Hartnäckigkeit, Geduld und Verhandlungsgeschick auszeichnete. Als Obmann des Kulturvereins österreichischer Roma leitete als er das Verfahren zur Anerkennung der Roma- und Sinti als österreichische Volksgruppe ein. Bis zu seinem Tod kämpfte er gegen Vorurteile und setzte sich unermüdlich für die Anliegen seiner Volksgruppe ein. Am 12. März 2016 ist Rudi Sarközi im 72. Lebensjahr verstorben. Mit ihm verliert Österreich einen seiner bedeutenden Kämpfer gegen Diskriminierung, Intoleranz und Rassismus.
Vor dem Krieg, so weiß er aus Erzählungen seiner Mutter, hätten die Roma zwar in Armut, doch friedlich mit der Mehrheitsbevölkerung nebeneinander gelebt. Sie züchteten Kleintiere, der Großvater kümmerte sich für die Gemeinde um die Befahrbarkeit der Feldwege und die Großmutter half in einem Gasthaus aus. Und weil es in der ganzen Umgebung kein Fest gab, bei dem nicht der Großvater und seine Brüder als Musikanten dabei waren, litten sie keine Not. Doch gab es schon Anzeichen der bevorstehenden Veränderung. An verborgenen Plätzen trafen sich die Nationalsozialisten, um ihre paramilitärischen Übungen abzuhalten. Einer der Brüder war sogar gewarnt worden, das Dorf zu verlassen. Doch niemand konnte und wollte daran glauben, dass für die Roma Verschleppung und Ermordung schon bald zur Realität werden sollten.
Tobias Portschy hatte 1938 in der Schrift „Die Zigeunerfrage“ den Grundstein für die systematische Vernichtung der Roma gelegt, die sich 1939 mit der Errichtung des berüchtigten so genannten „Zigeunerfamilienlagers“ auf einem ehemaligen Gutshof der Grafen Esterhazy in Lackenbach fortsetzte – dem größten Lager dieser Art auf dem Territorium des „Dritten Reiches“. 1939 wurde Rudolfs Mutter zuerst nach Ravensbrück deportiert. Dort musste sie Folter und Hunger erdulden und schwere Zwangsarbeit leisten. 1943 wurde sie nach Lackenbach überstellt. Bis zu 4.000 Roma und Sinti auf einmal waren in diesem Lager interniert. Wenn es auch zu dieser Zeit von dort aus keine Transporte mehr nach Auschwitz und Lodz gab, starben viele an Krankheiten, die aufgrund der katastrophalen hygienischen Bedingungen ausbrachen. Im Lager lernte Rudolfs Mutter seinen späteren Vater, einen Wiener Sinto, kennen. Im November 1944 kam Rudolf auf die Welt. Ein paar Monate später, als schon sowjetische Truppen einmarschiert waren, nutzten die Gefangenen das Durcheinander zur Flucht.
Zuerst versteckten sich die Geflohenen in den Wäldern. Nach Kriegsende trat die Mutter mit dem Baby in einem Tuch auf den Rücken gebunden den Heimweg nach Unterschützen im Süd-burgenland an. Die Häuser, in denen sie vor der Deportation gewohnt hatten, waren dem Erdboden gleichgemacht. Gleichzeitig mussten sie erfahren, dass 90 Prozent der Roma den Nationalsozialismus nicht überlebt hatten.
1946, als Rudolfs Schwester auf die Welt kam, trennten sich die Eltern. Die Nachkriegsjahre waren sehr hart. Zusammen mit den Brüdern der Mutter und ihren Familien – es waren insgesamt 15 Personen – lebten sie in einem Raum von nur wenigen Quadratmetern. Schließlich erhielt die Mutter mit den Kindern einen Raum von 20 Quadratmetern, der ursprünglich als Ersatzquartier für vertriebene Volksdeutsche errichtet worden war. Die Mutter arbeitete als so genannte „Mörteldame“ auf einer Baustelle. Es war eine sehr schwere Arbeit: Mit einem Eisenkübel auf dem Kopf stieg sie die Leiter zu den Maurern hinauf. Jeden Tag musste sie zudem fast acht Kilometer zu Fuß zu ihrem Arbeitsplatz gehen. Manchmal half sie auch den Bauern bei der Feldarbeit, und im Sommer ging die Familie in den Wald zum Heidelbeerpflücken.
Trotz der Armut genossen die Kinder ihre Freiheit. Rudi besuchte die 8-jährige Volksschule in Unterschützen. Obwohl die Mutter, die selbst nie lesen und schreiben gelernt hatte, nicht viel Wert auf Hausaufgaben legte, und niemand ihm beim Lernen helfen konnte, hatte er den Ehrgeiz mitzukommen. Er hatte in der Schule und beim Sport Kontakt mit den anderen Kindern, doch in ihre Häuser hatte er keinen Zutritt, denn viele der Eltern waren noch von der Nazi-Ideologie infiziert. Aus Sicht eines Kindes hatte das Anderssein aber auch gewisse Vorteile. Weil er ein hübscher Bub war, ließen sich manche Damen am Sonntag nach der Kirche mit dem „schwarzen Mohrl“ fotografieren und gaben ihm dafür einen Schilling oder 50 Groschen. Als er älter wurde, haben auch einige Mädchen an ihm Gefallen gezeigt, aufgrund des schlechten Rufes als „Zigeuner“ war ein näheres Kennenlernen aber unmöglich.
In den 1950er Jahren wurden an KZ-Überlebendende Haftentschädigungen ausgezahlt – das Wort Wiedergutmachung hat Sarközi immer abgelehnt. Weil viele der Täter noch im Ort waren und in den Ämtern saßen, kostete es die meisten viel Mut und Überwindung, diese Anträge einzubringen. Von den Entschädigungszahlungen haben sich dann viele winzige Häuser von 4 mal 5 Quadratmetern gebaut, um endlich aus den Barracken und Ställen herauszukommen. Strom oder fließendes Wasser hatten diese neu gebauten Häuser aber nicht.
Die Überlebenden des Holocaust lebten abgeschieden am Rande des Dorfes und durften am gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen. „Das war kein Einzelfall, so war es in vielen Gemeinden und Dörfern des Burgenlandes, in denen Roma zu Hause waren. Am Rand und nicht in der Mitte. Wir hätten uns sicher entwickeln können, hätten wir Zugang und Aufnahme in der Dorfgemeinschaft gehabt“, resümierte Sarközi 2013. Auch ist ihnen die Angst noch immer im Nacken gesessen. So hatte die Mutter Rudi immer gewarnt: „Wenn du eine Kartoffel auf der Straße findest, lass sie liegen, es könnte jemand meinen, du hättest sie gestohlen“.
Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage war an einen weiteren Bildungsweg nicht zu denken. Weil es für ihn als „Zigeuner“ auch unmöglich war, eine Lehrstelle zu bekommen, arbeitete Rudi als Hilfsarbeiters am Hoch- und Tiefbau, sowie als Monteurhelfer bei einer Wasser- und Heizungstechnikfirma. Mit 20 Jahren heiratete er die Wienerin Helga und wurde Vater. Weil seine Frau von manchen als „Zigeunerhure“ beschimpft wurde, und er ihr nicht zumuten wollte, von seinem geringen Verdienst und ohne Bad und WC zu leben, zog die junge Familie nach Wien. Dort fand er Arbeit in einer Elektro- und Blitzschutzfirma, wo er sich vom Wasserträger zum technischen Angestellten hocharbeitete. In Wien begann er auch, sich politisch zu engagieren. Auch wenn in der Anonymität der Großstadt seine Herkunft keine Rolle spielte, hat er sie nie verleugnet. Nach 16 Jahren ging die Firma in Konkurs und er verlor die Arbeit, fand jedoch rasch eine Stelle als Kraftfahrer bei der Stadt Wien. Dort arbeitete er bis zur Pension als Kehrmaschinen-, Schneeräum- und Müllfahrer und engagierte sich beim Dienststellenausschuss des Betriebsrates.
Anerkennung der Roma als Volksgruppe
In den 1980er Jahren ist eine neue Generation herangewachsen, die nicht mehr bereit war, die Diskriminierung hinzunehmen. So wurde jungen Roma beispielsweise der Zutritt zu Diskotheken verweigert. „Es eine Bewegung entstanden, die von den Jungen ausging“, so Sarközi, „die hat man nicht mehr ignorieren können.“ 1989 beteiligte sich Rudolf an der Gründung des ersten Roma-Vereins in Österreich, dem Verein Roma in Oberwart. Zwei Jahre später gründete er den Kulturverein österreichischer Roma mit. Von da an setzte er all seine Energie in die Arbeit als dessen Vereinsobmann und leitete das Verfahren zur Anerkennung der Roma und Sinti als österreichische Volksgruppe ein. „Wir mussten erst die Bevölkerung darauf aufmerksam machen, dass wir ja zu dem Land gehören und keine Fremden sind.“ Das war keine Selbstverständlichkeit, denn obwohl die Roma nachweislich seit 400 Jahren im Burgenland ansässig sind, herrschten ihnen gegenüber viele Vorurteile.
Nach langen und schwierigen Verhandlungen wurde im Oktober 1992 der Antrag auf Anerkennung der Roma (Roma als Oberbegriff für die verschiedenen in Österreich lebenden autochthonen Untergruppen wie Roma, Sinti, Lovara und andere) als Volksgruppe im Nationalrat eingebracht und am 16.12.1993 von den Abgeordneten aller Parlamentsfraktionen – auch der FPÖ – einstimmig angenommen. Mit der Einrichtung des Volksgruppenbeirates mit Sarközi als Vorsitzenden 1995 wurden auch finanzielle Mittel bereitgestellt.
Bessere Bildungsverhältnisse für seine Volksgruppe und der Abbau von Vorurteilen waren Sarközi ein großes Anliegen. Er selbst hatte nur die Volksschule besuchen können und ist in der Schule noch als „Zigeuner“ beschimpft worden. 1995, nach dem schrecklichen Rohrbombenattentat in Oberwart, bei dem vier Roma getötet wurden, setzte jedoch ein Bewusstseinswandel ein: „Wir sind in die Öffentlichkeit gerückt. Es gab ein Staatsbegräbnis, bei dem der Bundespräsident und viele Minister anwesend waren. Kanzler Franz Vranitzky hat einige Tage zuvor die Leute der Roma-Siedlung besucht“, so Sarközi. Nach diesen Ereignissen sind Leute an ihn herangetreten: „Rudi wir würden gerne spenden, was wirst du machen mit dem Geld? Und ich wusste immer, das Wichtigste ist die Bildung. Ich hab‘s am eigenen Leib erlebt!“ So gründete er den Roma-Bildungsfonds, der finanzielle Hilfe bei der Aus- und Weiterbildung junger Roma leistet. „Vor allem ist es darum gegangen, dass wir die Leute von den Sonderschulen weg bekommen“, so Sarközi. Das ist auch gelungen. Dass Matura und Studium für Roma-Kinder in Österreich kein unerreichbarer Traum mehr sind und höhere Bildung ist für viele selbstverständlich ist, erfüllte ihn mit Stolz: „Früher hat man einen Hauptschulabschluss gemacht oder auch nicht, und dann als Hilfsarbeiter gearbeitet. Heute aber stellen junge Menschen einen Anspruch an sich und an die Gesellschaft.“ Auch bei den Erwachsenen konnten durch Fortbildungsmaßnahmen bessere Berufsbedingungen geschaffen werden.
Von der 28 Mitglieder zählenden Großfamilie hatten außer Rudolf Sarközi und seiner Mutter nur zwei ihrer Brüder den Holocaust überlebt. Die Großeltern, die in Lodz ermordet worden waren, hatte Rudolf nie kennen gelernt. Weil er überhaupt nur sehr wenig über das Schicksal seiner Verwandten in Erfahrung bringen konnte, war ihm die Erforschung und Dokumentation der Opfer des Nationalsozialismus ein großes Anliegen. Am 3. Juni 1996 wurde das von ihm gegründete Roma-Doku im 19. Wiener Gemeindebezirk eröffnet – eine Informations-, Dokumentations- und Begegnungsstätte für die eigene Volksgruppe, der Mehrheitsbevölkerung und Interessierte. 2003 initiierte er ein Forschungsprojekt zur namentlichen Erfassung der im Nationalsozialismus ermordeten österreichischen Roma und Sinti. Einen großen Raum nahmen in seinem Leben auch die Gedenkstätten in Lackenbach, Mauthausen, Salzburg, Auschwitz und Lodz ein. Für sein Engagement erhielt er zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen. Zu den größten Anerkennungen zählte er die Verleihung des Ehrentitels „Professor“ 2002 durch Bundespräsident Klestil, sowie die Einladung, 2004 anlässlich des Nationalen Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus eine Ansprache im Parlament zu halten.
„Der Geist von gestern ist wieder da drinnen!“
Rudolf Sarközi schmerzte es sehr, wenn er hören musste, wie heute wieder über Armutsmigrant*innen und Bettelverbote gesprochen wird, da er in diesen Aussagen den Geist von gestern deutlich spürte, der damals zu Deportation und Völkermord geführt hatte. Er kritisierte die Förderpolitik der EU, weil nicht in die Zukunft der Menschen investiert werde und das Geld nicht dort ankomme, wo es benötigt werde. Als KZ-Überlebender und Betroffener fühlte er auch mit den Menschen, die heute ihre Heimat – aus welchen Gründen auch immer – verlassen müssen. Während die Zivilgesellschaft unaufgefordert helfe, versage die europäische Politik darin, menschenwürdige Lösungen zu finden. An der europäischen Flüchtlingspolitik kritisierte er auch scharf, dass sie die Diskriminierung, die gewalttätigen Übergriffe und die Perspektivlosigkeit, mit denen Roma in vielen südosteuropäischen Ländern konfrontiert seien, nicht als Fluchtgründe anerkenne und diese Menschen kaum Aussicht auf Asyl haben.
Quellen: Kulturverein österreichischer Roma: www.kv-roma.at
Mri Historija. Rudolf Sarközi im Gespräch. Wien 2006: www.oesterreich-am-wort.at
veröffentlicht in Talktogether Nr. 56/2016
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