Wertekonflikte im Kapitalismus. Interview mit Klaus Ottomeyer PDF Drucken E-Mail

Ăśber Wertekonflikte im Kapitalismus

Interview mit Klaus Ottomeyer, em. Professor fĂĽr Psychologie, Klagenfurt

TT: Heute wird – vor allem in der Politik – viel von Werten gesprochen. Sehr oft wird die Wertediskussion aber dazu benützt, um Menschen aus anderen Kulturkreisen auszu-grenzen. Was halten Sie von diesen Diskussionen?

Klaus Ottomeyer: Diese Diskussion ist wirklich einseitig. Keiner weiß, um welche Werte es eigentlich geht. Wenn suggeriert wird, dass „wir im Westen“ die besseren Werte haben, dient das vor allem der narzisstischen Aufwertung der eigenen Gruppe. Sowohl die Werte der westlichen Demokratien – Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit – als auch die Werte des Christentums – Nächstenliebe, Barmherzigkeit gegenüber den Notleidenden – werden durch die lautstarken westlichen Werteverteidiger selbst ständig verletzt. Oder geht es um die Werte des freien Konsums, des ungebremsten Ego-Trips, der Kommerzialisierung von Allem und Jedem, inklusive der Sexualität, wie sie von der westlichen Ökonomie befördert wird?

TT: In ihrem neuen Buch diagnostizieren Sie ein Werte-chaos bzw. Wertekonflikte im Kapitalismus, die bei den Menschen Verwirrung hervorrufen und somit einen Nähr-boden für fundamentalistische Strömungen bereiten. Können Sie das näher erklären?

Klaus Ottomeyer: Die westliche Ökonomie hat in den letzten Jahrzehnten ein Wertechaos hervorgebracht: Neben dem Asketismus, den die Produktionssphäre verlangt, steht der Konsumismus, den die Reproduktionssphäre verlangt, neben der Kälte, die vom erfolgreichen Marktmenschen verlangt wird, steht die Empathie, die man für die Liebesbeziehungen aber auch für das schmeichelnde Überlisten des Anderen beim Verkauf von Waren und Dienstleistungen benötigt. Treue und Treulosigkeit („Freiheit von Bindung“) stehen nebeneinander. In der allgemeinen Beschleunigung wird die „Entschleunigung“ zu einem gut verkäuflichen Wert. Das Patriarchat erodiert zum Glück – durch die Befreiungsbewegungen der Frauen, Schwulen, Lesben und bisexuellen Menschen sowie durch die radikale Kommerzialisierung von Sexualität. Die Männer haben im Osten wie im Westen, im Norden wie im Süden – salopp gesagt – die Hosen gestrichen voll, und viele von ihnen wünschen sich das Patriarchat zurück. Die Rückkehr wird ihnen von Trump, Putin, Erdogan, dem IS, den sunnitischen wie schiitischen, evangelikalen wie katholischen Neofundamentalisten gleichermaßen versprochen. Die normative Komplexität der Welt wird dadurch kurzfristig reduziert. Außerdem wird ein Stillstellen des sozialen Wandels versprochen. Aber man kann sich gegen die Rückkehr des Patriarchats wehren. Man denke an den Erfolg der polnischen Frauen im Kampf gegen das mittelalterliche Abtreibungsverbot der Regierung. Vielleicht scheitert auch Trump.

TT: Obwohl es den meisten Menschen in Europa wirtschaftlich relativ gut geht, bekommen rassistische und ausländerfeindliche Ideologien Aufwind. Woher kommt ihrer Meinung nach diese Haltung in vielen Teilen der Bevölkerung?

Klaus Ottomeyer: Das hat mit der angesprochen Komplexitätsreduktion zu tun, die eintritt, wenn die eigene, (wertgeschätzte) Gruppe mit den Fremden und Flüchtlingen kontrastiert wird. Aber auch mit einem unbewussten Geschwisterneid auf die nach uns Gekommenen, die dem Anschein nach von Mutter Merkel und anderen Mächtigen bevorzugt werden, sowie schließlich mit einer Abwehr des eigenen Gewissens. Wer an unser Gewissen erinnert, wird als Gutmensch oder Schlimmeres heftigtst bekämpft. Aber eigentlich wissen fast alle Menschen, dass sie helfen könnten und sollten. Der im Neoliberalismus anerzogene konsumistische Ego-Trip erweist sich aber leider als stärker.

TT: Wilhelm Reich bezeichnete den Faschismus als Mischung aus rebellischen Emotionen und reaktionären Ideen. Wie denken Sie darüber?

Klaus Ottomeyer: Wilhelm Reich hatte in Vielem Recht. Der alte wie der neue Autoritarismus sind eine verschobene Rebellion, bei der die Menschen das Gefühl haben, endlich „aufzustehen“ und mutig zu sein. Sie richtet sich aber nicht gegen die wirklich Starken und zumeist schwer greifbaren Machthaber, sondern gegen schwache und vorgezeichnete Gruppen, die angeblich nach der Macht streben. Die populistischen Führer treten gerne als Sozialrebellen auf. Der Großbetrüger Jörg Haider trat als Robin Hood und Retter der Entrechteten auf, H. C. Strache wurde mit Che Guevara verglichen, und ließ sich selbst mit einer entsprechenden Mütze abbilden.

TT: Frantz Fanon hatte 1961 geschrieben, dass der Kolonialisierte oft mit Racheakten und Gewalt auf die UnterdrĂĽckung reagiert, auch mit Gewalt gegen sich selbst. Sind ihrer Meinung nach der Rechtsradikalismus und islamistischer Terror vergleichbar?

Klaus Ottomeyer: Die Rache spielt eine große Rolle. Der Rechtsradikalismus und der radikale Dschihadismus sind in vielerlei Hinsicht wie zwei Brüder, die einander ähneln und sich hassen. Sie beide hassen vor allem auch Menschen, die sich frei und unabhängig gegenüber der Verblödungsmacht des Patriarchats bewegen.

TT: Sie arbeiten mit traumatisierten Flüchtlingen. Was erleben diese Menschen im Umgang mit den Behörden und welche Unterstützung würden sie brauchen?

Klaus Ottomeyer: Das ist mir jetzt etwas zu kompliziert. Traumatisierte Flüchtlinge leiden unter einem Blaming the Victim und unter der Empathie-Abwehr. Der real gewordene Albtraum, den viele erlebt haben, wird verleugnet, damit wir besser schlafen können. Außerdem werden sie (vgl. oben) als gierige jüngere Geschwister und Kinder phantasiert, die uns in ihrer extremen Bedürftigkeit etwas wegnehmen könnten. Das Verhalten von Behördenvertetern hat sich nach meiner Erfahrung – anderes als das von Politikern – in Bezug auf die Asylsuchenden in den letzten Jahren übrigens gebessert.

TT: Wir hören meist nur Lösungsvorschläge aus europäischer Perspektive für das jetzige Chaos in der Welt. Was denken die von der Gewalt betroffenen Flüchtlinge?

Klaus Ottomeyer: Was die FlĂĽchtlinge denken, ist sehr unterschiedlich. Sie sind nicht unbedingt edlere Mensch als wir.

TT: Haben Sie bei dieser Arbeit auch mit radikalisierten Jugendlichen bzw. ihren Eltern zu tun gehabt?

Klaus Ottomeyer: Ja, mit jungen Rechtsradikalen. Darüber habe ich Ende der 1990er Jahre zusammen mit KollegInnen in einer Studie „Sozialpsychologie des Rechtsextremismus“ berichtet. Findet man mittlerweile im Internet.

TT: Es scheint so, dass viele dem Trend zu nationalen und fundamentalistischen Bewegungen ziemlich ratlos gegenüberstehen. Was kann man solchen Strömungen entgegenhalten?

Klaus Ottomeyer: Diese Bewegungen versprechen den Menschen eine schräge Rückgewinnung ihrer Würde. Dagegen hilft es, im Rahmen unserer bescheidenen Möglichkeiten, alle großen und kleinen Bewegungen zu fördern, welche auf eine realistische Weise den Menschen das Gefühl der Selbstachtung und Würde ermöglichen und erhalten. Dabei gibt es drei Grundformen der Anerkennung: Erstens, die Anerkennung als freies und gleiches Rechtssubjekt am Markt und in der politischen Sphäre, zweitens, die Anerkennung in der Arbeit, als jemand, dessen Produkt von anderen gebraucht wird, und drittens, die Anerkennung in der Liebe als ein nicht austauschbares, einzigartiges Wesen, mit allen Schwächen und ungewöhnlichen Vorlieben, die jeder von uns hat. Wenn aus diesen drei Quellen von Anerkennung etwas zu uns fließt, können wir dem lieben Gott danken und sind weniger anfällig für den herrschenden Schwachsinn.


Was sind die Ursachen fĂĽr Fundamentalismus und Rechtsradikalismus?

In den 1960er und 1970er Jahren befanden sich Europa und andere Teile der Welt in einer Situation des gesellschaftlichen und kulturellen Umbruchs. Die Menschen protestierten gegen Krieg und Unterdrückung sowie gegen gesellschaftliche und moralische Zwänge. Heute sind wir wieder mit Rebellionen konfrontiert. Doch diese Rebellionen haben sich nicht die Freiheit auf ihre Fahnen geheftet. Wir sehen auf der einen Seite rückwärtsgewandte religiöse Bewegungen, die alle Reformen und Freiheiten, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg errungen worden sind, wieder zunichtemachen wollen. Auf der anderen Seite bekommen fremdenfeindliche und rechtspopulistische Bewegungen und Parteien in vielen Ländern immer mehr Zulauf. Und das, obwohl die gesellschaftlichen Verhältnisse heute mit denen in den 1930er Jahren nicht vergleichbar sind. Damals herrschten in Europa Arbeitslosigkeit und bittere Not. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Versprechungen Hitlers, Arbeit zu schaffen, von vielen freudig aufgenommen wurden. Doch heute lebt der Großteil der Menschen in Mittel- und Nordeuropa – im Vergleich zu vielen anderen Weltregionen – noch in relativ abgesicherten sozialen Verhältnissen.

Warum erleben wir trotzdem diesen Trend nach rechts? Dass heute viele Menschen Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg haben, ist durchaus verständlich. Dass die politisch und wirtschaftlich Mächtigen davon profitieren, wenn das Volk gespalten und damit geschwächt ist, leuchtet ebenfalls ein. Doch liefern uns ökonomische und politische Erklärungen allein eine ausreichende Erklärung dafür, warum Menschen für rechte und reaktionäre Ideologien so empfänglich sind? Wilhelm Reich und Erich Fromm gehörten zu jenen, die die menschliche Psyche erforschten, um die Ursachen für dieses Phänomen zu erkunden. Reich hat immer die Erklärung abgelehnt, dass die Massen verführt oder manipuliert worden seien. Die Bereitwilligkeit breiter Teile der Bevölkerung, faschistische Ideologien aufzusaugen, sei in einer Charakterstruktur begründet, die durch die Unterdrückung elementarer Lebenstriebe – worunter nicht nur die biologische Sexualität, sondern auch des Streben nach Liebe, Glück und schöpferischer und selbst bestimmter Arbeit gezählt werden können – deformiert wurde. Der moderne Mensch empfinde zudem Furcht vor der Freiheit, argumentierte Fromm, weil er in seinem Leben Sinn, Richtung, Identität und Zugehörigkeit vermisse.

Wir sind heute nicht nur mit dem Rechtsradikalismus, sondern auch mit einer anderen reaktionären und extrem gewalttätigen Bewegung konfrontiert – dem dschihadistischen Terrorismus. Sind diese Bewegungen miteinander vergleichbar? Der Psychiater und Unabhängigkeitskämpfer Frantz Fanon, hatte während des algerischen Unabhängigkeitskrieges Gelegenheit, die psychische Struktur von Menschen, die sich unterdrückt, gedemütigt und ohnmächtig fühlen, zu erforschen. In seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“ hat er Vieles von der zerstörerischen und selbstzerstörerischen Gewalt vorausgesagt, mit der wir heute weltweit konfrontiert sind.

Klaus Ottomeyer, der bis zu seinem Ruhestand 2013 an der Universität Klagenfurt als Professor für Psychologie gelehrt hat, hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, warum Teile der Bevölkerung heute so empfänglich für rechte und fundamentalistische Ideologien sind. In seinem Buch „Chaos mit System. Wertegeschwätz und Wertekonflikte im Kapitalismus“ (Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec 2013) schreibt er, dass die kapitalistische Ökonomie systematisch eine widersprüchliche Wertewelt produziere, der das Individuum schwer entrinnen könne. Dieses Wertechaos führe beinahe zwangsläufig zu einem Fundamentalismus, der eine wieder einfache Werteordnung verspreche. Wir haben ihm dazu ein paar Fragen gestellt.

veröffentlicht in Talktogether Nr. 58/2016

 

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