Gespräch mit Mag. Ulrike Theusinger,
Leiterin von Convoy, Wohnhaus für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
TT: Was ist Convoy und seit wann gibt es diese Einrichtung?
Ulli: Beim Convoy handelt es sich um eine spezielle Einrich-tung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die bereits einen positiven Asylbescheid haben und eine Unterkunft brauchen, es ist die erste Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung dieser Art in Salzburg. Das Convoy wurde Ende des Jahres 2015 eröffnet, wir feiern also gerade unser einjähriges Bestehen. Träger des Jugendwohnhauses ist der Verein „Rettet das Kind“.
TT: Was ist anders bei dieser Einrichtung?
Ulli: Hier handelt es sich um keine Einrichtung, die von der Grundversorgung finanziert wird, wie etwa das Clearinghouse, sondern eine für jene jugendlichen Flüchtlinge, die schon einen positiven Asylbescheid haben. Der große Unterschied dabei ist die Finanzierung durch die Kinder- und Jugendhilfe mit einem um einiges erhöhten Tagsatz. Mit einem positiven Asylbescheid sind die Jugendlichen österreichischen Jugendlichen gleichge-stellt, was sich zum Beispiel bei der Finanzierung von Thera-pien, bei der Ausbildung, bei der Freizeitgestaltung aber auch beim Personal auswirkt.
TT: Wie viele Jugendliche wohnen hier?
Ulli: Hier wohnen acht junge Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, die einen Stammplatz der Kinder- und Jugendhilfe haben. Seit Mai gibt es darüber hinaus bei uns zwei Krisenplätze. Das sind Unterbringungsplätze, die akut benötigt werden, weil Gefahr in Verzug ist. Wenn ein Jugendlicher unter 14 Jahren in Salzburg ankommt, zur Polizei geht und Asyl beantragt, dann ist automatisch die Kinder- und Jugendnothilfe zuständig und für ihn muss sofort ein Platz gefunden werden. Es kann aber auch sein, dass Jugendliche sich in einer Grundversorgungsein-richtung nicht integrieren können und kurzfristig eine Auszeit brauchen. Grundsätzlich könnten auch Jugendliche aufgenommen werden, die in Österreich nur auf der Durchreise sind und in ein anderes Land weiterreisen wollen. Zurzeit wohnen ein 12-Jähriger und ein 13-Jähriger bei uns. Wir versuchen das Projekt integrativ zu führen, indem die „Krisenjugendlichen“ mit den „Stammjugendlichen“ zusammen in einem Haus leben.
TT: Aus welchen Ländern kommen die Jugendlichen? Gibt es auch Konflikte zwischen den Nationalitäten?
Ulli: Zurzeit wohnen wir bei uns junge Männer aus Syrien und Afghanistan sowie ein Jugendlicher aus Palästina. Wir hatten gerade am Anfang sehr viele Konflikte zwischen den Nationali-täten. Es hat sehr viel Aufklärungsarbeit gebraucht, aber ganz lösen lassen sich diese Konflikte nie. Sie treten vor allem dann wieder auf, wenn es Schwierigkeiten gibt. Wir haben aber auch Leute im Haus, die als Brückenbauer agieren und eine hohe Kompetenz haben, zwischen den Kulturen zu vermitteln. Sie unterstützen uns sehr dabei, Streitigkeiten zu schlichten.
TT: Viele der Jugendlichen haben traumatische Erfahrungen hinter sich. Wie wirkt sich das aus?
Ulli: Hohe psychische Belastungen wirken sich oft körperlich aus. Es können verschiedene psychosomatische Krankheiten auftreten, das können Schlaf- und Konzentrationsstörungen sein, Kopfschmerzen, eine erhöhte Verletzungsgefahr sowie alle möglichen körperlichen Schmerzen, für die es keine medizini-sche Begründung gibt. Was können wir tun? Wir versuchen die Jugendlichen zu stabilisieren, indem wir ihnen eine Beziehung anbieten. Es dauert oft sehr lange, bis das Vertrauen wächst. Die Jugendlichen haben Trennungserfahrungen hinter sich und sind dementsprechend zurückhaltend, wenn es um Vertrauen geht. Sehr oft sind die Jugendlichen auch aggressiv oder depressiv, zudem gibt es auch Probleme mit der Verständigung, und es kommt zu Missverständnissen.
Um dem entgegenzuwirken versuchen wir, die innere Resilienz der Jugendlichen zu stärken. Das heißt, wir planen gemeinsam mit ihnen eine Zukunft, sie müssen aber auch lernen, die Situa-tion, in der sie sich befinden, zu akzeptieren, und für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Wir helfen ihnen auch, den Familienkontakt herzustellen, falls dieser abgerissen ist. Wichtig ist vor allem, dass die Jugendlichen ihre Opferrolle verlassen. Viele von ihnen sind sie ja von zu Hause weggeschickt worden, um Familienmitglieder nachzuholen. Wir unterstützen sie aber auch dabei, sich hier Netzwerke aufzubauen sowohl zu gleichsprachigen als auch zu österreichischen Jugendlichen bzw. zu Mentor*innen, die sie unterstützen.
TT: Wie können die Jugendlichen die Situation bewältigen, in einer neuen Umgebung ganz auf sich allein gestellt zu sein? Wie unterstützt ihr sie beim Start in ein neues Leben?
Ulli: Das wichtigste ist, hier anzukommen. Zu realisieren, ich bin hier in einem anderen Land, es gibt hier andere Regeln. Sie bei diesem Prozess der Akzeptanz zu unterstützen, ist unser erster Auftrag. Danach ist es wichtig, die Beziehung und das Vertrauen zu Erwachsenen aufzubauen. Anfangs herrscht oft großes Misstrauen, und manche glauben, dass wir mit den Be-hörden zusammenarbeiten. Dann ist es wichtig, eine Tages-struktur aufzubauen und auf die Einhaltung der Hausregeln zu achten. Da die Jugendlichen ja schon einige Zeit da sind, ist meist schon etwas in Bezug auf Bildung und Arbeitssuche passiert, was wir dann weiterführen. Ein großes Thema in unserer Einrichtung ist auch die Familienzusammenführung. Wenn die Familie einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt hat und hierher kommt, ist es gar nicht so einfach, wie es er-scheinen mag, dass die Familie das Kind aufnimmt, oder dass sich der Junge so benimmt, wie er es in Syrien oder Afghanistan getan hat. Da braucht es zuerst eine Annäherung. Wir versuchen, den Jugendlichen und seine Familie dabei zu unterstützen.
TT: Wie ist die Motivation der Jugendlichen, eine Ausbildung zu machen? Welche Hindernisse gibt es?
Ulli: Grundsätzlich ist die Motivation der Jugendlichen sehr hoch. Alle möchten sich integrieren und die Sprache lernen. Die Umsetzung verläuft aber meist in Aufs und Abs, und das Durchhalten benötigt einen hohen Betreuungsaufwand. Wir sind eng in Verbindung mit den Schulen, um Konflikte zu lösen und das Einhalten von Regeln zu unterstützen. Für die Jugendlichen ist die Art zu lernen hier komplett anders wie die, die sie von zu Hause gewohnt sind. Dort wird oft Gewalt eingesetzt. Es fällt ihnen oft schwer, mit den Lernmethoden – mit vielen Freiheiten und Freundlichkeit – umzugehen. Es braucht einige Zeit, bis sie sich daran gewöhnen. Sehr viele möchten nach dem Pflichtschulabschluss eine Lehre beginnen. Aber auch das ist schwierig umzusetzen, weil es dazu auch geeignete Lehrherren braucht, die bereit sind, einen Jugendlichen zu akzeptieren, der nicht so gut Deutsch kann und erst an das Arbeitverhältnis herangeführt werden muss.
TT: Wie ist die Bereitschaft dazu bei den Firmen?
Ulli: Die Bereitschaft ist am Anfang meist hoch. Manchmal wird jedoch rasch aufgegeben, wenn der Jugendliche öfter zu spät kommt oder sich nicht an die Abmachungen hält, so dass es im schlimmsten Fall zum Abbruch der Lehre kommt. Dass ist hier im Convoy zwar noch nicht passiert, ich habe es aber bei meiner früheren Arbeit erlebt. Da müssen wir in engem Kontakt mit dem Lehrherren stehen und uns austauschen, damit wir es schaffen, den Jugendlichen durch die Lehre zu bringen.
TT: In den Medien hört man oft von Jugendlichen, die auf den Straße Drogen verkaufen? Was kann und muss die Gesellschaft tun, um so etwas zu verhindern?
Ulli: Warum ein Jugendlicher zu Drogen, Alkohol oder sonstigen Delikten kommt, hängt für mich von seiner inneren Not ab: Zum einen, allein zu sein in Österreich, keine Stabilität und keinen Rückhalt der Eltern zu haben, nicht zu wissen, wie es weiter geht in diesem Land. Er weiß nicht, ob er hierbleiben kann oder wieder weg muss. Und natürlich auch Geldsorgen. Die Familie sagt vielleicht, schick uns Geld, du bist jetzt im reichen Europa, die Mutter ist krank und braucht ärztliche Be-handlung. Wir haben dir die Flucht finanziert, und nun solltest du uns etwas zurückgeben. Die Jugendlichen sind damit über-fordert. Sie kommen mir oft auch wurzellos und ohne Halt vor. Sie erleben häufig Diskriminierung und erfahren, dass sie nicht so viel wert sind wie andere. Da kann es schon passieren, dass sie in kriminelle Handlungen hineinschlittern, weil sie nicht wissen, wo ihre Grenzen sind. Für mich ist das ein Hilfeschrei. Deshalb ist es sehr wichtig, dass alle, die mit den Jugendlichen arbeiten, versuchen, ihnen Stabilität geben. Sie brauchen aber nicht nur den Halt, sondern auch die Sicherheit und das Ver-trauen, dass alles gut wird.
TT: Kürzlich hat die Vizebürgermeisterin Anja Hagenauer ein mangelndes Konzept kritisiert, die Flüchtlinge in die Gesellschaft zu integrieren und ihre Ausbildung zu fördern. Was sagst du dazu?
Ulli: Solche Konzepte gibt es in Deutschland schon sehr lange, doch die Politik hat es versäumt, sich damit auseinanderzusetzen. Es gibt jedoch in Salzburg einige hervorragende Projekte, um Jugendliche an das österreichische Arbeits- und Bildungs-system anzunähern, zum Beispiel das Projekt Minerva, das eine Vorbereitung für den Pflichtschulabschluss anbietet. Auch Bil-dungseinrichtungen wie die Volkshochschule haben schon seit Längerem Erfahrung, wie junge Flüchtlinge einen Hauptschul-abschluss schaffen können. Seit September 2016 wurde zudem von Rettet das Kind das Bildungsprojekt „Auf Linie 150“ ins Leben gerufen, das Jugendlichen eine Vorbereitung auf die Lehre in verschiedenen Ausbildungsstätten ermöglicht.
Wichtig wäre es aber, dass die Wirtschaft auch nachzieht, in-dem sie Lehrstellen in den einzelnen Betrieben anbietet und die jungen Menschen dabei unterstützt, die Lehre auch zu schaffen. Man sollte das Potenzial sehen: Es sind Jugendliche, die eine Lehre machen wollen, im Gegensatz zu vielen österreichischen Jugendlichen, die eine höhere Bildung anstreben. Man klagt ja immer, dass wir Österreich zu wenige Facharbeiter haben, hier wäre das Potenzial vorhanden.
TT: Man hört auch öfter, dass junge Männer, die aus Ge-sellschaften mit einem anderen Frauenbild kommen, nicht wissen, wie sie sich Frauen gegenüber verhalten sollten. Wird das Problem bei euch thematisiert, und wenn ja, wie?
Ulli: Ja, das ist bei uns sehr wohl ein Thema. Es war für mich anfangs auch nicht so leicht, als Leiterin akzeptiert zu werden. Wobei die älteren Jugendlichen weniger Probleme damit hatten, dass ich hier als Leiterin fungiere, als die Jüngeren, die 13- oder 14-Jährigen. Die Betreuerinnen wissen aber in der Regel, wie sie mit den Jugendlichen umgehen können, um sich Respekt zu verschaffen. Probleme gibt es eher in der Schule mit den Kolle-ginnen in der Klasse, da hat auch schon den einen oder anderen größeren Konflikt gegeben.
Es gibt jetzt einen Workshop zum Thema Sexualität, der vom Land Salzburg ausgeschrieben wurde, und der in Zusammenarbeit mit der Jugendberatungsstelle Bivag vom Jugendamt der Stadt Salzburg und dem Verein Selbstbewusst durchgeführt wird. Bei diesem Workshop werden auch unsere Jugendlichen mitmachen. Dabei geht es um Fragen wie: Wie komme ich zu einer Beziehung, welche Rolle hat die Frau, welche Rolle hat der Mann, was bedeutet es, wenn ein Mädchen Nein sagt. Sexu-alität ist natürlich ein großes Thema bei uns, sie sind ja alle in der Pubertät und sprühen vor Lebensfreude!
TT: Was kann man tun, damit sich die Jugendlichen in der österreichischen Gesellschaft nicht mehr als Fremde fühlen?
Ulli: Wir versuchen immer wieder, die Jugendlichen durch Theater- und Schulprojekte mit österreichischen Gleichaltrigen zusammen zu bringen. Das ist es aber nicht immer so leicht, dazu braucht es auch die österreichische Gesellschaft. Oft reichen schon kleine freundliche Annäherungen. Es beginnt damit, dass man sich freundlich grüßt. Wenn der Jugendliche in seinem Stammgeschäft erkannt und begrüßt wird, wenn der Trainer im Sportverein positiv auf ihn zugeht, bekommt er das Gefühl, da mag mich jemand, da ist mir jemand gut gesinnt.
TT: Gibt es noch etwas, was du den Lesern und Leserinnen mitteilen möchtest?
Ulli: Ich bin nun schon seit acht Jahren in diesem Arbeitsfeld, und empfinde es als eine große Bereicherung in meinem Leben, mit diesen Jugendlichen zu arbeiten. Ich habe sehr viel über Kulturen gelernt, auch viele neue Rezepte kennen gelernt … Ich habe erfahren, was Gastfreundschaft bedeutet und sehr schöne und berührende Gesten kennengelernt. Und ich schätze es, wie herzlich und offen die Jugendlichen mich begrüßen und wie sie an mir und meiner Person Anteil nehmen.
veröffentlicht in Talktogether Nr. 58/2016
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