Von den MaschinenstĂĽrmern zur staatstragenden Kraft
Die Entwicklung der Gewerkschaften als Interessensvertretung der Lohnabhängigen
Schon im alten Ägypten war den Menschen klar, dass sie nur gemeinsam stark genug sind, um sich gegen die Ausbeutung durch die Mächtigen zu wehren. So traten die Arbeiter von Deir el-Medineh 1159 v. C. in den Streik, weil sie die ihnen versprochenen Getreiderationen nicht erhalten hatten. Sie zogen in einem Protestmarsch zum Tempel des Königs, trugen dort ihre Forderungen vor und blieben den ganzen Tag sitzen. Auch die Handwerksgesellen im 18. und im frühen 19. Jahrhunderts wussten, dass sie sich zusammentun mussten, um ihren Forderungen nach gerechter Entlohnung Nachdruck zu verleihen. Sie schlossen sich zu Bruderschaften zusammen, um Arbeitsbedingungen auszuhandeln und Streiks zu beschließen. Es kam aber nur vereinzelt zu Aktionen mehrerer Bruderschaften zusammen und schon gar nicht zu solidarischem Handeln zwischen Gesellen und anderen Lohnabhängigen.
Durch die Industrialisierung verloren Hundertausende ihre Einkommensmöglichkeiten im Handwerk oder in der Landwirtschaft. Sie strömten in die rasch anwachsenden Industriestandorte, wo sie die neue soziale Klasse des Proletariats bildeten. Die Arbeitslosen standen, um Arbeit bettelnd, vor den Toren der Fabriken. Diese „industrielle Reservearmee“ drückte auf die Arbeitsbedingungen. Die Folge waren eine Senkung der Löhne und eine Verlängerung der Arbeitszeit. Bis 16 Stunden täglich wurde in den ersten Fabriken gearbeitet, und die Löhne waren so niedrig, so dass die Fabrikarbeiter auch ihre Frauen und Kinder in die Fabrik zur Arbeit schicken mussten, um überleben zu können. Der Besitzer der Dampfmaschinen konnte die Arbeitsbedingungen diktieren, und die Arbeiter waren der Ausbeutung schutzlos ausgeliefert.
Die Arbeiter beginnen sich zu wehren
Die Empörung der Arbeiter gegen diese Knechtschaft hat verschiedene Phasen durchgemacht, die Friedrich Engels in „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ beschrieb: „Die erste, rohste und unfruchtbarste Form dieser Empörung war das Verbrechen“, schrieb er. „Der Arbeiter lebte in Not und Elend und sah, dass andere Leute es besser hatten als er. Seinem Verstande leuchtete nicht ein, weshalb er gerade, der doch mehr für die Gesellschaft tat als der reiche Faulenzer, unter diesen Umständen leiden sollte. Die Not besiegte noch dazu den angestammten Respekt vor dem Eigentum – er stahl.“
Weil durch den Einsatz von Maschinen viele Arbeitskräfte ersetzt und unzählige kleine selbstständige Existenzen in den Ruin getrieben wurden, sahen die Proletarier die Maschinen als ihre Feinde an. Vor allem in England, aber auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz kam es zu Protestaktionen, bei denen Arbeiter Maschinen zerstörten oder neu errichtete Fabriken in Brand setzten, Diese Proteste richteten sich jedoch nur gegen die Produktionsinstrumente selbst, aber nicht gegen die Produktionsverhältnisse.
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MaschinenstĂĽrmer in Oberuster, Schweiz 1832
„Das Kapital ist konzentrierte gesellschaftliche Macht, während der Arbeiter nur über seine Arbeitskraft verfügt. Der Kontrakt zwischen Kapital und Arbeit kann deshalb niemals auf gerechten Bedingungen beruhen“, schrieb Engels. „Die einzige gesellschaftliche Macht der Arbeiter ist ihre Zahl.“ Die Arbeiter erkannten bald, dass sie als Einzelne dem Kapital unterlegen waren. Zwischen 1812 und 1822 registrierte Engels die ersten von geheimen Arbeiterverbindungen organisierten Streiks in Schottland. Als 1824 die Illegalität der Arbeiterorganisationen durch ein Gesetz beseitigt wurde, entstanden in allen Arbeitszweigen Trade Unions, die den Zweck hatte, den Lohn kollektiv mit dem Kapitalisten auszuhandeln, Arbeitslose zu unterstützen und gegen Streikbrecher vorzugehen.
Gewerkschaften in Ă–sterreich
In Österreich gründete Friedrich Sander 1848 den ersten Wiener allgemeinen Arbeiterverein, der sich zur Keimzelle der österreichischen Arbeiterbewegung und der Gewerkschaftsbewegung entwickelte. Nach der Niederringung der Revolution im März 1849 wurden Arbeitervereine und Gewerkschaften verboten, und Versammlungen konnten nur noch im Geheimen abgehalten werden. 1867 konnte jedoch das Recht auf Bildung von Arbeiterbildungsvereinen durchgesetzt werden. Als 1870 das Koalitionsverbot aufgehoben wurde, weil die Obrigkeit eine Radikalisierung der Arbeiterschaft fürchtete, begannen die Arbeiter und Arbeiterinnen, sich in Gewerkschaften zu organisieren. Diese schlossen zunehmend auch Kollektivverträge ab und organisierten zahlreiche Streikkämpfe, darunter die Massenstreiks für das allgemeine Wahlrecht, die Teuerungsdemonstrationen von 1911 und die riesigen Aufstände während des Ersten Weltkriegs, die im Jännerstreik 1918 gipfelten – dem größten Streik der österreichischen Geschichte, der maßgeblich zur Beendigung des Krieges beitrug.
Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie übernahm die organisierte Arbeiterschaft zunächst Spitzenpositionen in der neuen Regierung der Ersten Republik. Durch die enge Zusammenarbeit zwischen Regierung und Gewerkschaft konnten in den zwei Jahren von 1918 bis 1920 die Grundlagen der politischen Demokratie und vor allem eine Fülle von sozialen Gesetzen geschaffen werden, die bis heute den Hauptbestandteil der österreichischen Sozialgesetzgebung bilden. Als jedoch ab 1920 der Einfluss des besitzenden Bürgertums stieg, wurden die Freien Gewerkschaften in die Opposition gedrängt. 1933 nutzte Dollfuss einen günstigen Moment, um das Parlament auszuschalten und eine faschistische Diktatur zu errichten. Nach den Kämpfen im Februar 1934, in denen die Arbeiter besiegt worden waren, wurden die Freien Gewerkschaften verboten, arbeiteten jedoch in der Illegalität weiter. Während der nationalsozialistischen Diktatur beteiligten sich zahlreiche Mitglieder der früheren Gewerkschaften an Widerstandsgruppen. Der Österreichische Gewerkschaftsbund, wie wir ihn heute kennen, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als überparteiliche Interessensvertretung der Lohnabhängigen gegründet. Er ist als Verein konstituiert und gliedert sich in sieben ebenfalls als Vereine konstituierte Teilgewerkschaften. Dank seiner einheitlichen Organisation und seiner Stärke gelang es dem ÖGB, über die traditionellen gewerkschaftlichen Aufgaben hinaus gesamtgesellschaftlichen Einfluss in Österreich zu gewinnen.
Bedeutung und Rolle der Gewerkschaften
Gewerksgenossenschaften entstanden ursprünglich durch die spontanen Versuche der Arbeiter, schrieb Karl Marx, die Konkurrenz untereinander zu beseitigen und Vertragsbedingungen zu erzwingen, die sie wenigstens über die Stellung eines bloßen Sklaven erheben. Ihr unmittelbares Ziel beschränkte sich daher auf die Erfordernisse des Tages, auf Mittel zur Abwehr der ständigen Übergriffe des Kapitals. Wenn die Arbeiter eines ganzen Gewerbes jedoch eine mächtige Organisation bilden und unter sich einen Fonds sammeln, um imstande zu sein, den Unternehmern nötigenfalls die Stirn zu bieten, und sich dadurch in die Lage versetzen, als eine Macht mit den Unternehmern zu verhandeln, haben sie die Aussicht, wenigstens das bisschen zu erhalten, das bei der ökonomischen Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft als ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk bezeichnet werden kann. Das Lohngesetz wird jedoch durch den gewerkschaftlichen Kampf nicht verletzt. Denn der Kapitalist eignet sich das ganze Arbeitsprodukt an, während sich die Arbeiterklasse mit einem Teil des eigenen Produkts begnügen muss. Doch ohne Kampf würde der Lohnabhängige nicht einmal jenen Teil erhalten, der ihm nach den Regeln des Lohngesetzes zusteht.
Bruttolohn im Verhältnis zur Arbeitsproduktivität. Bettina Csoka 2016, blog.arbeit-wirtschaft.at
Heute hat die Arbeiterklasse in den kapitalistischen Metropolen einen Lebensstandard erreicht, der zu Lebzeiten von Marx und Engels unerreichbar erschien. Wenn man allerdings die Arbeitsproduktivität mit den Löhnen vergleicht, erkennt man, dass der Anteil an der Wertschöpfung, den der Arbeiter erhält, sogar sinkt. So ist die Produktivität in Österreich zwischen 1995 und 2015 um 32 Prozent gestiegen, die Bruttolöhne dagegen nur um 14 Prozent (siehe Tabelle). Gleichzeitig werden arbeitsintensive Produktionen in Länder ausgelagert, in denen die Verhältnisse vergleichbar mit denen in Europa zu Beginn der Industrialisierung sind.
Gewerkschaften sind längst ein Teil des Systems geworden. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, die Härten des Kapitalismus zu mildern. Heute gelingt es ihnen jedoch meist nur, punktuelle Verbesserungen zu ereichen, und nur selten, dauerhafte Reformen herauszuschlagen. Ein Problem ist die Zersplitterung in Branchen, so dass die Gewerkschaften häufig vor allem die Interessen ihrer Klientel vertreten. Zudem sind ihre Aktionen meist auf den nationalen Rahmen beschränkt, während das Kapital global agiert. Gewerkschaften handeln zudem im vom Kapitalismus vorgegeben Rahmen, und im Ernstfall fällt ihnen die Aufgabe zu, die Kämpfe der Werktätigen in Bahnen zu lenken, die das System nicht bedrohen. Das war der Fall bei der Niederschlagung der Streiks im Oktober 1950 – ein dunkles Kapitel der österreichischen Gewerkschaftsgeschichte, das erst kürzlich aufgearbeitet wurde und worüber man im 2015 im ÖGB-Verlag erschienenen Buch „Oktoberstreik“ nachlesen kann. Ein weiteres Beispiel ist der Mai 1968 in Frankreich – der bis damals größte Streik der Geschichte –, wo die Gewerkschaften mithalfen, die Streikbewegung zu beenden.
Die Höhe der Löhne wird nicht von den Bedürfnissen der Werktätigen bestimmt, sondern davon, ob der Einsatz ihrer Arbeitskraft dem Unternehmen einen Gewinn in ausreichender Höhe einbringt. Wenn ein Kapitalist nicht effizient genug arbeitet, kann er seine Waren nicht billig genug verkaufen. Er ist gezwungen, die Produktionskosten zu senken und die Produktivität zu steigern, sonst geht er unter. Das heißt, entweder müssen die Arbeiter_innen härter, schneller und länger arbeiten, oder er investiert in Maschinen, um Lohnkosten zu sparen. Hinzu kommt, dass das Kapital im Zuge der Globalisierung in den letzten Jahrzehnten die Möglichkeit bekommen hat, auf globaler Ebene Lohnunterschiede zu vergleichen und auszunutzen und so Lohnabhängige, die in verschiedenen Teilen der Erde leben und arbeiten, in Konkurrenz zu setzten.
Heute meinen manche Unternehmer und ihre politischen Vertreter, dass die Gewerkschaften die Wettbewerbsfähigkeit belasten und dadurch Jobs gefährden. Doch Gewerkschaften sind ein unverzichtbares Instrument der Lohnabhängigen, um sich gegen die Angriffe des Kapitals zu wehren. Wie würden unsere Arbeitsverhältnisse heute ohne sie aussehen? Trotzdem sollte die Arbeiterklasse, wie schon Karl Marx gewarnt hat, ihre Wirksamkeit nicht überschätzen und nicht vergessen, dass Gewerkschaften nur gegen die Auswirkungen des Kapitalismus kämpfen, aber nicht gegen deren Ursachen.
veröffentlicht in Talktogether Nr. 60/2017
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