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Zurück in die Zukunft?

Als die Europäer die Insel Tasmanien im Süden von Australien entdeckten, fanden sie ein Volk vor, das zwar nur wenige unterschiedliche Werkzeuge kannte, aber allem Anschein nach glücklich und gesund lebte. Aufgrund ihrer Isolation waren die Tasmanier nicht mit der Notwendigkeit konfrontiert, mit anderen Völkern in den Wettbewerb zu treten, und weil sie untereinander in Gleichheit lebten, hatten sie auch kein Bedürfnis, Reichtümer anzuhäufen. Dass sie in der Natur alles vorfanden, was sie zum Leben brauchten, mag ein weiter Grund sein für die vergleichsweise geringe Zahl ihrer technischen Erfindungen. Dafür hatten die Inselbewohner viel Zeit, sich kulturell zu betätigen und gemeinsam zu feiern.

Jahrhunderte lang hatten die Tasmanier ihre Lebensweise beibehalten, bis europäische Seefahrer auf der Insel landeten. Die ersten holländischen Siedler im 17. Jahrhundert konnten sie noch in die Flucht schlagen, doch als die Insel 1803 britisch wurde, begann unbarmherzig die Besiedlung. Die Tasmanier wehrten sich im sogenannten „Black War“, so gut sie konnten, doch sie waren den Eindringlingen hoffnungslos unterlegen. Das Töten begann. Wenn ein Ureinwohner ein Tier erlegte, wurde er erschossen, die Frauen wurden vergewaltigt und ihre Kinder entführt, oder man gab ihnen giftiges Mehl zu essen. Man tötete die Menschen aber nicht etwa deshalb, weil sie Vieh töteten, sondern einfach nur, weil sie Ureinwohner waren. So endete die Konfrontation mit dem Untergang des tasmanischen Volkes und seiner Kultur.

Keine Zahlen, keine Religion

1977 kam der amerikanische Missionar Daniel Everett zu den Pirahã, einem Volk, das unberührt von äußeren Einflüssen im Amazonas-Dschungel lebte. „Obwohl ich die Pirahã noch nicht einmal kannte, war ich überzeugt, dass ich sie verändern kann und verändern sollte“, schreibt Everett in seinem Buch, in dem er über sein Leben im Regenwald berichtet. Er war davon überzeugt, dass er sie dazu zu bringen sollte, einen ihnen fremden Gott anzubeten, an den ihnen fremde Menschen glaubten, deren Kultur und Moral sie annehmen sollten. Dies sei das Ziel jeder Missionstätigkeit, sagt Everett heute.

Um ihnen die Geschichte von Jesus zu erzählen, musste er zunächst ihre Sprache erlernen. Denn in ihrer Abgeschiedenheit hatten die Pirahã nie einen Grund gehabt, etwas anderes zu lernen als „Apaitsiiso“ – die Sprache, „die aus dem Kopf geboren ist“. Beim Studium dieser Sprache machte er ganz erstaunliche Entdeckungen. Die Sprache kennt weder Zahlen noch gestern oder morgen. Vergeblich versuchte Everett, den Pirahã das Zählen und Rechnen beizubringen, bis er erkannte, dass Zahlen für sie keine Bedeutung haben, weil sie alles, was sie besitzen – ob Kanus, Fischereigeräte oder den Fang des Tages –, gemeinsam verwenden und verzehren. Wozu also zählen oder rechnen? Auch der Vergangenheit messen die Pirahã wenig Bedeutung zu. Und weil alles, was sie zum Leben brauchen, immer in ihrer Umgebung zu finden ist, gibt es für sie keine Notwendigkeit, weit voraus in die Zukunft zu planen. Ein Wort für „danke“ oder „Entschuldigung“ brauchen sie einfach deshalb nicht, weil sie sich für nichts bedanken oder entschuldigen müssen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Pirahã wenig wissen, denn dafür kennen sie die Namen und die Verhaltensweisen von unzähligen Pflanzen und Tieren des Dschungels.

Ebenso unverständlich wie die Zahlen, blieb den Pirahã die Geschichte von Jesus, denn sie glauben nur an Dinge, die sie selbst erlebt oder gesehen haben. Oder die ihnen jemand anderer erzählt – vorausgesetzt, dass dieser selbst Zeuge des Ereignisses war. Deshalb sahen sie nicht ein, warum sie an eine Geschichte glauben sollten, für die es ihrer Auffassung nach keinerlei Beweis gab, und die noch dazu die Geschichte eines Mannes war, der vor langer Zeit in einem weit entfernten Land gelebt hatte. Sie sagten: „Wir wollen Jesus nicht“.

Nach und nach erkannte Everett, dass die Pirahã voll und ganz im Hier und Jetzt leben und sich am Leben erfreuen, so wie es ist. Ihm wurde klar, dass sie weder einen Gott noch eine Heilslehre brauchen. So kam es schließlich dazu, dass Everett, der Missionar, seinen Glauben aufgab und zum Atheisten wurde. Nachdem er sein Vorhaben, die Pirahã zu bekehren, aufgegeben hatte, widmete Everett sich der Erforschung ihrer Sprache. Und für seine Tätigkeit als Wissenschaftler hatte er von den Menschen im Regenwald etwas Entscheidendes gelernt, nämlich die Forderung nach Belegen.

Seine Frau, eine gläubige Christin, verließ ihn, weil er seinen Glauben aufgegeben hatte. Aber auch mit seinen sprachwissenschaftlichen Forschungen und den daraus abgeleiteten Thesen stieß Everett auf Ablehnung. Seine Beobachtungen und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen stehen nämlich in Gegensatz zu den von Noam Chomsky – einem der bekanntesten US-amerikanischen Linguisten – und seinen Anhängern proklamierten Grundsätzen, nach denen alle Sprachen der Welt nach einem universellen Prinzip funktionieren, und die Grundstrukturen von Sprache und Grammatik im Gehirn des Menschen genetisch angelegt seien. Dies sei zu vereinfachend, meint Everett, der die menschliche Sprache für flexibler hält und überzeugt ist, dass sie von den Lebensumständen und den Wertmaßstäben einer Gemeinschaft geprägt wird.

Entwicklung und Entfremdung

Weil Völker wie die Tasmanier oder die Pirahã keine Tempel und Schlösser gebaut haben, die wir heute bewundern können, werden sie manche vielleicht unterentwickelt nennen. Doch hier muss man fragen, was mit Entwicklung gemeint ist. Üblicherweise versteht man darunter Wachstum, den Ausbau von neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten und die damit einhergehende Steigerung des Wohlstands. Im besten Sinne bedeutet Entwicklung, dass die Unsicherheit des Lebens abnimmt, die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft größere Entscheidungsmöglichkeiten über ihr Schicksal haben und ihre Begabungen entfalten können. Doch haben die technischen Neuerungen und die Produktion von immer mehr Gütern und Dienstleistungen die Menschheit wirklich zu diesem Ergebnis geführt?

Ist es nicht vielmehr so, dass der Fortschritt in der Produktion nur die Macht einiger weniger Teile der Gesellschaft über die übrigen Teile vergrößert und somit die Gewalttätigkeit zwischen den sozialen Gruppen vervielfacht hat? Wenn aber nur wenige über die Produktionsmittel verfügen, und diese Ungerechtigkeit diesen Wenigen gestattet, auf Kosten der anderen Reichtümer anzuhäufen, während jene von Konsum und Entwicklung ausgeschlossen bleiben und manchmal nicht einmal ihre grundlegendsten Bedürfnisse befriedigen können, kann man nicht wirklich behaupten, dass der Mensch moralisch und gesellschaftlich eine höhere Stufe erreicht hat.

Der Psychoanalytiker Erich Fromm kam bei seinen Untersuchungen verschiedener vorindustrieller Kulturen [1] zum Ergebnis, dass die Kriegslust mit der Entwicklung der Zivilisation zugenommen hat: Je mehr verschiedene Dinge der Mensch produziert und besitzt, desto größer sind Habgier und Neid, die er als Voraussetzungen für kriegerische Handlungen auffasste. Er bestritt jedoch energisch, dass die Aggressivität – die er von der im Überlebenstrieb begründeten Abwehr gegen Angriffe unterscheidet – angeboren und in der Natur des Menschen begründet sei. Aggression werde reflexartig erlernt, so Fromm, wenn und weil sie Erfolg bringe.

Als Everett versuchte, den Pirahã das Paradies zu erklären, das sie nach dem Tod erwarte, sagten sie nur: Das haben wir doch schon. Wir haben alles, was wir brauchen. Wozu brauchen Menschen die Vorstellung von einem Paradies? Zeugt dieser Wunsch nicht davon, dass sie mit ihrem Leben unzufrieden sind? Doch warum sind sie dazu verurteilt, unglücklich sein? Wenn der Fortschritt die Menschen dazu befähigt hat, auf den Mond oder auf den Mars zu fliegen, aber nicht dazu, Ungerechtigkeit und Elend von der Welt zu verbannen, haben wir wenig Grund, stolz auf unsere Zivilisation zu sein.

Grenzen des Wachstums

Wir leben in einer Zeit, in der sich die Ungleichheit sowohl innerhalb der Gesellschaften als auch zwischen den verschiedenen Teilen der Erde zuspitzt. Durch die technische Entwicklung erfuhr die menschliche Arbeit eine enorme Produktivitätssteigerung, so dass immer weniger Arbeiter und Arbeiterinnen gebraucht werden, um ein Produkt zu erzeugen. Die Antwort im Kapitalismus darauf war und ist Wachstum: immer mehr Waren, immer mehr Geld, immer mehr Akkumulation – und das immer schneller. Die Folge ist nicht nur eine absurde Verschwendung von Ressourcen, sondern auch die Vernichtung der Lebensgrundlagen kommender Generationen.

Während die Werbung versucht, immer neue Bedürfnisse in uns zu wecken, um den Konsum anzukurbeln, empfinden in den wohlhabenden Ländern immer mehr Menschen den Konsum als Last. Dass mehr Besitz nicht unbedingt glücklicher macht, ist ja schon ein alter Hut. Angesichts von Problemen wie Klimawandel, Bodenerosion und der Verschmutzung der Weltmeere warnen Forscher, dass es zu einer echten Reduktion des Ressourcenverbrauchs, der Industrieproduktion und der Transporte kommen müsse, um verheerende ökologische und soziale Folgen für kommende Generationen abzuwenden, von denen viele bereits absehbar sind. Doch wie ist eine Reduktion von Produktion und Konsum in einem System vorstellbar, das auf stetigem Wachstum basiert?

Wachstum im Kapitalismus bedeutet jedoch nicht höhere Löhne und Pensionen, mehr Arbeitsplätze oder eine Verbesserung des Sozial- und Bildungssystems. Das Ziel der Produktion ist nicht die Herstellung von Gebrauchsgütern zur Befriedigung begrenzter menschlicher Bedürfnisse, sondern die Produktion von Mehrwert für den grenzenlosen Hunger nach Profit der untereinander konkurrierenden Kapitale, die um rivalisierende Nationen organisiert sind.

Was Eroberer, Kolonisatoren und Missionare nicht erreicht haben, erledigen heute sogenannte Entwicklungsprogramme, Konsum und Massenmedien, welche auch die Pirahã erreicht haben. Auch wenn ein Zurück in die Vergangenheit nicht möglich ist, kann uns die Beschäftigung mit sogenannten Naturvölkern wertvolle Erkenntnisse liefern. Zum Beispiel, dass vieles, was wir als unentbehrlich, in der menschlichen Natur begründet oder genetisch angelegt glauben, das Ergebnis gesellschaftlicher Verhältnisse und somit veränderbar ist.

Die Widersprüche unserer Gesellschaftsordnung werden immer offensichtlicher, und es ist zu erkennen, dass das gegenwärtige ökonomische System an seine Grenzen stößt. Können wir die Welt retten, indem wir unseren Konsum einschränken, auf Fleisch verzichten und Produkte aus fairem Handel kaufen? Mit Projekten wie Tauschkreisen oder Landwirtschafts- und Konsumkooperativen haben wir die Möglichkeit, neue gesellschaftliche Beziehungen erproben. Wenn wir dabei allerdings die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ausblenden, die unserem System zugrunde liegen, beruhigen wir damit nur unser Gewissen und tragen dazu bei, die wahren Ursachen der Probleme zu verschleiern.


[1] Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität 1973


veröffentlicht in Talktogether Nr. 61/2017

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