Rechtsruck im 21. Jahrhundert, Gespräch mit Andreas Peglau PDF Drucken E-Mail

Gespräch mit Andreas Peglau, Berlin

Psychotherapeut und Autor des Buches: Rechtsruck im 21. Jahrhundert.
Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus als Erklärungsansatz

„Die allermeisten Theorien einschließlich des Marxismus bieten die Möglichkeit, mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen: Die sind schuld! Wenn man sich mit Reich eingehend befasst, kommt man jedoch sehr schnell an einen Punkt, wo man auch fragen muss: Was ist mit mir? Man kommt auf sehr unbequeme und verunsichernde Gedanken und ich glaube, dass das ein ganz entscheidender Grund dafür ist, warum es Reich und seine Ideen so schwer haben.“


Talktogether: In Ihrem Buch „Rechtsruck im 21. Jahrhundert“ beschäftigen Sie sich mit Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“. Was war für Sie das Motiv, sich mit Wilhelm Reich zu beschäftigen?

Andreas Peglau: Ich bin in der DDR aufgewachsen und habe an der Humboldt-Universität in Berlin Psychologie studiert. Ich habe mich damals sehr mit dem DDR-Staat identifiziert und mich für den Marxismus interessiert. Beim Studium musste ich jedoch enttäuscht zur Kenntnis nehmen, dass im Marxismus kaum wesentliche Aussagen über das Wesen des Menschen – über seine Psyche und seine tieferen Motive – getroffen worden sind, und habe festgestellt, dass die Psychoanalyse hier eine wertvolle Ergänzung ist. Bei der Kombination von Psychoanalyse und Marxismus bin ich schnell auf den Namen Wilhelm Reich gestoßen, der in der DDR zwar tabuisiert war, aber trotzdem auftauchte. Als dann in der DDR 1989 die sogenannte Wende einsetzte, hatte ich von Reich schon einiges gehört und habe mir mit seiner Hilfe ein Stück weit erklären können, warum die DDR zusammengebrochen ist.

Mein Interesse an Wilhelm Reich, der in meinen Augen die bessere Psychoanalyse verkörpert, vertiefte sich. Die Auffassung, die bei Freud schon in Ansätzen da war und von diesem am Anfang auch klarer vertreten wurde, nämlich dass die Psychoanalyse nicht nur als Therapiemethode, sondern auch als Mittel dienen könne, um das, was in der Welt passiert, besser zu verstehen, aber auch um die Welt so zu verändern, dass die Menschen nicht mehr so leiden und sich nicht mehr gegenseitig so quälen müssen, wurde von Reich meines Erachtens konsequenter fortgesetzt als von jedem anderen Psychoanalytiker. Der zweite, der sich später deutlich in dieser Richtung engagiert hat, war Erich Fromm. Diese Sichtweise hat mich fasziniert und nicht mehr losgelassen. Da das, was wir jetzt erleben, mit Fug und Recht als „Rechtsruck“ bezeichnet werden kann, lag der Gedanke nahe, die Massenpsychologie des Faschismus, die Reich 1933 in der ersten Fassung veröffentlicht hat, danach abzusuchen, was uns helfen kann, die gegenwärtige Situation und ihre Ursachen besser zu verstehen.

Talktogether: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem es kroch“. Dieses Zitat von Bertolt Brecht haben Sie als Motto für Ihr Buch genommen und sich gefragt: Was ist dieser Schoß? Wie lautet Reichs Erklärungsansatz für diese Frage?

Andreas Peglau: Reich interessierte sich schon in den 1920er Jahren für den Marxismus, weil er – anknüpfend an Freud – der Meinung war, dass psychische Störungen und psychisches Elend hochgradig mit der Gesellschaft und der Sozialisation zu tun haben. Er hat aber genauer hingeschaut als Freud, der zu diesem Zeitpunkt schon den Todestrieb erfunden hatte, mit dem sich alles Destruktive wunderbar wegerklären ließ, statt es aus dem Sozialen zu erklären. Diese Tendenz hat Reich nicht mitgemacht, sondern immer intensiver die gesellschaftlichen Zusammenhänge erforscht. Zum einen hat er festgestellt, dass der Faschismus, der zu diesem Zeitpunkt ja schon in Italien existierte, auch aus Zusammenhängen entsteht, die nicht nur typisch für den Kapitalismus sind, sondern im Grunde schon seit 4000 bis 6000 Jahren eine Rolle spielen, und die im Allgemeinen als Patriarchat bezeichnet werden.

Er hat zuerst einmal eine für das Patriarchat typische Sexualitäts- und Gefühlsunterdrückung sowie eine entfremdende Erziehung und Sozialisation festgestellt, die dazu führen, dass sich die Menschen von sich selbst und von ihren eigenen gesunden, auch sozialen Maßstäben entfernen. Reich ist nämlich davon ausgegangen, dass wir Menschen von Geburt an soziale und mitfühlende Wesen sind, aber durch die Erziehung und Sozialisation so geformt werden, dass wir zu der leider wenig lebensbejahenden Gesellschaft passen. Dadurch wiederum stauen sich Wut, Traurigkeit, Enttäuschung, Hass und Angst an, was dann zu Neurosen aber auch zu einer permanenten Aggressions- und Unterordnungsbereitschaft sowie zum Wunsch zu herrschen führt. So wird der typische autoritäre Charakter nach dem Motto „nach oben buckeln und nach unten treten“ geformt, den Reich schon 1930 beschrieben hat.

Zusätzlich zu den äußeren Umständen wie Inflation, Arbeitslosigkeit und Verelendung haben also noch ganz andere Faktoren zum Erfolg des Faschismus beigetragen. Reich war überzeugt, dass der Aufstieg des Faschismus in erster Linie weder an Hitler noch an der NSDAP lag, sondern hochgradig an den Charakterstrukturen innerhalb der Volksmassen, die nach einem solchen Führer und einer solchen Partei schreien, damit die angestauten destruktiven Impulse und Motive umgesetzt werden können. Faschistische Parteien wie eben damals in Deutschland die NSDAP konnten sich dieser massenhaften Charakterstrukturen bedienen und diese ansprechen.

Talktogether: Wilhelm Reich erfuhr zu seinen Lebzeiten von allen Seiten Ablehnung, aber auch heute wird seine Forschung weitgehend ignoriert. Woher kommt diese Abwehr?

Andreas Peglau: Zum einen muss man sagen, Reich war schon 1933 so unbequem, dass er fast zeitgleich aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung – auf Betreiben von Sigmund Freud – sowie aus den Kommunistischen Parteien ausgeschlossen wurde. 1925 war er insgeheim in die österreichische Kommunistische Partei eingetreten, während er gleichzeitig noch Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs war. Bei den Sozialdemokraten ist er 1930 vor allem deshalb rausgeflogen, weil er eine antifaschistische Einheitsfront propagiert hat. Aus der Kommunistischen Partei Deutschlands, wo er eine führende Position innerhalb der Sexualreform-Bewegung eingenommen hatte, ist er mit der Begründung rausgeschmissen worden, er argumentiere zu psychoanalytisch, während er den Psychoanalytikern zu kommunistisch war. Vor allem ging es aber darum, dass die Psychoanalyse dabei war, sich an den Nationalsozialismus anzupassen, und Reich dabei störte. Hinzu kam, dass er zahlreiche theoretische Differenzen mit Freud hatte, u.a. über den realitätsfernen Todestrieb, den Reich grundsätzlich in Frage stellte.

Ich denke, die allermeisten Theorien einschließlich des Marxismus bieten die Möglichkeit, mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen: Die sind schuld! – zum Beispiel eben die Vertreter des kapitalistischen Systems. Doch schon der Marxismus sagt, dass die herrschenden Ideen immer die Ideen der herrschenden Klasse sind, und dass es Zusammenhänge gibt zwischen oben und unten – zwischen Volk und Führung. Reich ist hier noch einen Schritt weiter gegangen und hat gesagt, dass sich ein Gesellschafts- und Regierungssystem nicht entwickeln und halten kann ohne die massenhaft vorhandenen, leider hochgradig neurotischen und destruktiven Strukturen und Bedürfnisse in der Bevölkerung.

Wenn man sich mit Reich eingehend befasst, kommt man also sehr schnell an einen Punkt, wo man auch fragen muss: Was ist mit mir? Was ist mit meiner Kindheit? Bin ich auch neurotisch gemacht worden, bin ich nicht auch Bestandteil des Systems? Habe ich auch bestimmte Haltungen übernommen, mit denen ich dieses System stabilisiere? Auch wenn ich mich für einen Linken oder einen Antifaschisten halte, kann es sein, dass ich am Leistungsdenken festklebe, was wiederum auf Hierarchien und Unterordnung hinausläuft. Man kommt auf sehr unbequeme und verunsichernde Gedanken, und ich glaube, dass das ein ganz entscheidender Grund dafür ist, warum es Reich und seine Ideen so schwer haben.

Talktogether: Warum wenden sich – damals wie heute – Teile der Arbeiterklasse nach rechts, obwohl es eigentlich ihren objektiven Interessen widerspricht?

Andreas Peglau: Erst einmal muss man festhalten, dass die ganze Vorstellung im Marxismus vom gesetzmäßigen Fortschritt offenbar nicht real ist. Hitler war nicht zuletzt unter Arbeitern sehr populär. Man hätte fragen müssen: Wie kann es sein, dass in einer Situation, die immer revolutionärer wird, plötzlich ein Hitler an die Macht kommt, und wieso hält er sich dort auch? Diesen Widerspruch wahrzunehmen, dazu hat es aber bei den meisten Wissenschaftlern nicht gereicht. Reich hat die Begründung zurückgewiesen, dass der Erfolg des Faschismus darauf zurückzuführen sei, dass dieser die Massen täusche – denn dazu ist der Faschismus ja da, das ist sein Programm. Die entscheidende Frage für Reich war: Warum fallen so viele Leute darauf rein? Hitler hat nahezu gleichzeitig dem Adel versprochen, dass er seine Privilegien zurück erhält, während er den Arbeitern versprochen hat, sich für ihre Rechte einzusetzen, und das erschien sogar in der selben Zeitung. Warum schauten die Arbeiter da nicht nach, warum erkannten sie diese Widersprüche nicht?

Dafür gibt es auch heute zahlreiche analoge Beispiele. Wenn man sich das Programm der leider so erfolgreichen Alternative für Deutschland (AfD) ansieht, kann man sehr leicht die Widersprüchlichkeit dieser Partei erkennen, die sich einerseits als Volkspartei aufspielt, gleichzeitig aber eindeutig neoliberale, marktradikale Positionen vertritt. Wie passt das zusammen? Das passt gar nicht zusammen, doch das wird nicht erkannt und die Partei wird trotzdem gewählt, weil unbewusste Motive wie Wut, Protest, Unterdrückungsgefühle eine Rolle spielen. Man sucht nach hasserfüllten Feindbildern, nach Sündenböcken. Parteien, die so etwas anbieten, setzen genau an dieser Charakterstruktur an. Deshalb sind sie erfolgreicher als Parteien, die konstruktivere Positionen vertreten. Sich mit den gesellschaftlichen Machtverhältnissen grundsätzlich auseinanderzusetzen würde nämlich bedeuten, mit der eigenen autoritären Charakterstruktur in Konflikt zu kommen. Man hat ja gelernt, sich zu unterwerfen, man hat Angst davor aufzubegehren, deshalb sucht man innerhalb des Systems ein Ventil, um die aufgestaute Wut abzulassen. Flüchtlinge, Homosexuelle, Sinti und Roma, alle, die irgendwie fremd erscheinen – also vor allem Menschen, die schwach erscheinen und sich nicht wehren können –, sind bestens geeignet als Ventil zu dienen, weil man so den Hass herauslassen kann, ohne sich selbst zu gefährden.

Talktogether: Die europäischen Gesellschaften haben sich – insbesondere in Bezug auf Sexualmoral und Frauenbild – seit der Zeit, in der Reich sein Buch geschrieben hat, stark gewandelt. Auch die materielle Not ist mit damals nicht vergleichbar. Warum sind die psychosozialen Kräfte, die Menschen für lebensfeindliche Ideologien empfänglich machen, immer noch wirksam?

Andreas Peglau: Eine kurze Antwort: Weil deren Existenz nicht anerkannt und erforscht wird, geschweige denn systematisch daran gearbeitet wird, sie abzubauen. Wenn man Statistiken anschaut, stellt man zudem fest, dass die Regionen der Erde, in denen der größte Hunger und die größte Arbeitslosigkeit herrschen, keine vom Faschismus akut bedrohten Regionen sind. Deutlich rechte Tendenzen sind dagegen gerade in den reichsten Regionen zu verzeichnen – in den USA und in Europa. Warum ist das so? Sozialwissenschaftliche Studien haben festgestellt, dass Menschen allein durch die bloße Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren und arm zu werden – ob sie die nun zu Recht oder zu Unrecht haben –, die Tendenz haben, sich rechten Ideologien zuzuwenden. Ich denke, das hat auch zu tun mit der Leistungsideologie in unserer Gesellschaft, einer Ideologie, die Arbeitslose verachtet, die auf Menschen, die wirklich arm sind, herabsieht und behauptet, sie seien selbst schuld an ihrer Situation. Hier entsteht in Verbindung mit der Unterdrückung aus der Kindheit der Nährboden für eine Wut, die dann nach Ventilen sucht, um sich zu entladen.

Die Gesellschaft hat sich in diesen Fragen auch nicht so grundsätzlich verändert, wie sie vorgibt. Für Deutschland lässt sich sagen, dass der Sexismus noch immer weit verbreitet ist. Kinder werden zudem noch immer autoritär erzogen, vielfach misshandelt und vernachlässigt, sexueller Missbrauch ist noch immer keine absolute Seltenheit. Und nicht zu vergessen: Wir leben immer noch im Kapitalismus, der vorübergehend als soziale Marktwirtschaft freundlicher daherkam, aber seit 1990, seit dem Wegfall des sozialistischen Konkurrenten immer härter, brutaler und marktradikaler wird.

Dass manches besser geworden ist, bedeutet auch noch lange nicht, dass die Lage sich nicht jederzeit wieder zuspitzen kann. Weder im DDR-Sozialismus noch in der BRD sind die Wurzeln der Problematik anerkannt, geschweige denn beseitigt worden. Wir sehen auch, wie schnell Verbesserungen innerhalb kurzer Zeit wieder rückgängig gemacht werden können. Gerade erleben wir, wie anhand der Flüchtlingsproblematik Menschen, die schon vorher rechte Anschauungen gehabt haben, jetzt damit auf die Straße gehen und eine Partei wie die AfD so weit nach vorne bringen, dass sie in einem Bundesland – in Sachsen – sogar die stärkste Partei wird.

Talktogether: Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach dabei der Neoliberalismus?

Andreas Peglau: Der Neoliberalismus ist teilweise so klar rechts, dass es logisch erscheint, dass er rechte Tendenzen nicht nur nicht unterdrücken kann, sondern dass er diese fördert. Nehmen wir einmal die grundsätzliche Vorstellung, dass es keine soziale Gerechtigkeit geben darf, so Friedrich von Hayek, einer der Wortführer des Neoliberalismus. Das ist doch eine mit rechten Ideologien wunderbar übereinstimmende Auffassung. Oder dass Hierarchien zwischen den Menschen notwendig sind, dass Menschen, die unten sind, dort auch hingehören, und das Menschen die oben sind, ebenfalls dort hingehören, dass nur Menschen, die etwas leisten, verdienen, dass es ihnen gut geht, und dass Völker, die nicht in der Lage sind, sich selber zu erhalten, vom Erdboden verschwinden sollen. Das alles sind Vorstellungen, die mit rechten Ideologien kompatibel sind und deshalb hierzulande auch immer wieder von rechten Parteien aufgegriffen werden.

Talktogether: Reich hat davor gewarnt, den Faschismus zu unterschätzen und als ein Werk von Gaunern und Volksbetrügern abzutun. Was ist der Grund für den Erfolg von Populisten wie AfD, Strache, Trump, Erdogan und Co?

Andreas Peglau: Ich möchte mich jetzt nicht auf internationales Parkett begeben, weil ich mich dafür nicht für ausreichend kompetent halte. Gleichsetzungen sind auch immer eine ganz schwierige Sache. Aber man kann es vielleicht am Begriff der Konservativen Revolution festmachen: Die Vorstellung, innerhalb des Systems zu bleiben und das vermeintlich gute Alte zurück zu kriegen. Das heißt, wir sind brave Bürger, wir kritisieren zwar die Führung, aber wir kritisieren sie nicht wegen der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit, sondern weil sie die Flüchtlinge ins Land lässt. Mit anderen Worten ist es eine Bitte um mehr autoritäre Führung. Es ist nicht die Forderung: Wir wollen endlich selber unser Schicksal in die Hand nehmen, sondern: Bitte führt uns anders. Wer autoritär geführt werden will, braucht aber Leute, die er für seine Probleme verantwortlich machen kann. Aber dies dürfen eben nicht die insgeheim gefürchteten Herrschenden und ihr System sein. Er wird also eher dazu neigen, sozial Schwächere oder bereits Entrechtete zu Feinden zu erklären. So wie es 1933 die Juden waren, die angeblich an allem schuld waren, und jetzt sind es eben die Flüchtlinge, die dieses sonst angeblich so wunderbare Land durcheinanderwirbeln. Und Parteien, die so etwas anbieten, auf der einen Seite eine Anbiederung an das neoliberale System und an nationalistische Ideologien, auf der anderen Seite klare Feindbilder, die ohne Risiko übernommen werden können – und genau das waren Hauptpunkte im Wahlkampf der AfD –, setzen an den Charakterstrukturen vieler Menschen an und erreichen diese auf einer unterbewussten Ebene, die gerade deshalb höchst effektiv wirkt.

Talktogether: Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen faschistischen und fundamentalistischen religiösen Bewegungen?

Andreas Peglau: Wenn ich etwas von der Psychoanalyse und Sigmund Freud gelernt habe, ist es die Erkenntnis, dass es notwendig ist, immer die Motive zu betrachten. Also nicht bei Äußerlichkeiten stehen zu bleiben, sondern zu fragen, was steckt dahinter. Es kann sich jemand auch unheimlich für den Frieden oder für Ökologie einsetzen und dabei nur ein Ventil gefunden haben für seinen eigenen Hass. Man kann auch jemandem mit dem Plakat „für den Weltfrieden“ den Kopf einschlagen. Hinter allen lebensfeindlichen Bewegungen – egal ob rechte, linke, ökologische oder religiöse – steckt diese anerzogene massenhafte Destruktivität. Umgekehrt kann man sagen, nur die massenhaften destruktiven Charakterstrukturen machen es möglich, dass solche Strömungen zustande kommen. Was aber nicht heißt, dass dies die einzige Erklärungsebene ist. Natürlich spielen politische, ökonomische und andere Zusammenhänge eine wichtige Rolle. Wenn man jedoch nur ökonomische und politische Zusammenhänge betrachtet, aber das Zusammenwirken mit den Individuen und ihren Charakterstrukturen ignoriert, wird man weder verstehen, was gerade abläuft, noch angemessen darauf reagieren können.

Talktogether: Warum tun sich fortschrittliche Kräfte so schwer, die Menschen anzusprechen?

Andreas Peglau: Die rechte Ideologie passt viel besser zu den neurotischen Charakterstrukturen, die die meisten von uns in sich tragen, wenn auch unbewusst, nachdem sie durch Erziehung deformiert worden sind. Wir kommen zwar psychisch ziemlich gesund auf die Welt. Wählen tun aber nicht kleine Kinder, sondern Menschen, die schon diese Gehirnwäsche durchgemacht haben. Viele Menschen holt man, wie gesagt, eher dort ab, wenn man ihnen eine autoritäre Führung und hasserfüllte Feindbilder vorgibt. Die Linke argumentiert nicht so – was natürlich gut so ist –, erreicht aber gerade deswegen leider nicht so viele Leute. Sie macht aber auch einen Fehler, nämlich dass sie es seit 1933 versäumt hat, die Ideen von Wilhelm Reich, Erich Fromm und teilweise auch Sigmund Freud zur Kenntnis zu nehmen und zu integrieren, um sich selbst ein realistisches Menschenbild zu schaffen. Man muss sich doch fragen, wie Menschen bereits als Kinder geformt werden, die ja noch nicht arbeiten und noch nicht vom Kapitalismus direkt ausgebeutet werden. Wer das nicht einbezieht, und das tut auch die Linke leider so gut wie nicht, klammert Entscheidendes aus.

Talktogether: Inwiefern können uns Reichs Ideen heute helfen, lebensfeindlichen Ideologien entgegenzutreten?

Andreas Peglau: Reichs Ideen können uns hier deshalb helfen, weil sie uns ein tieferes Verständnis ermöglichen, wieso Menschen an Auffassungen festhalten, die rational betrachtet realitätsfern und ihrem eigenen Wissen, ihrer Intelligenz und ihren Lebensinteressen diametral entgegengesetzt sind. Wenn wir die Analysen der letzten deutschen Bundestagswahl betrachten, finden wir aber genauso oberflächliche Erklärungen wie schon 1933. Wenn wir diese Ursachen jedoch nicht wahrnehmen und verstehen, können wir sie auch niemals beseitigen –, und das ist der entscheidende Punkt.


Andreas Peglau, 2017: RECHTSRUCK IM 21. JAHRHUNDERT. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus als Erklärungsansatz.

Nora-Verlag Berlin, 174 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-86557-428-2.

Das Buch kann direkt beim Verlag bestellt oder hier kostenlos heruntergeladen werden: http://andreas-peglau-psychoanalyse.de

veröffentlicht in Talktogether Nr. 62/2017