In den Händen libyscher Menschenhändler PDF Drucken E-Mail

Angst um mein Ãœberleben

und meine Zukunft

Meine Notlage und die Falle der Menschenhändler

Er in einem Dorf aufgewachsen. Seine Familie besaß ein Feld, auf dem sie Mais und Hirse angebaut hat. Doch dann beschloss die Regierung, ihr Feld und die Felder ihrer Nachbarn an eine ausländische Firma zu verkaufen. Weil die Menschen arm waren und noch dazu einer ethnischen Minderheit angehörten, waren sie machtlos und konnten sich nicht gegen die Enteignung wehren. Eine Entschädigung für den Raub ihres Landes bekamen sie nicht, weil die korrupten Regierungsbeamten das Geld in die eigene Tasche steckten und die Menschen mit Gewalt von ihrem Land vertrieben. Außerdem wird er von Terrorbanden bedroht, die ihn töten wollen, wenn er sich ihnen nicht anschließt. So oder ähnlich beginnen die Geschichten vieler junger afrikanischer Menschen, die ihr Leben riskieren, um nach Europa zu kommen. Und die dann in einem Lager in Libyen oder in einem Flüchtlingsboot landen.

„Nichts konnte mich mehr von der Idee abbringen,
mich auf den Weg nach Europa zu machen ….“

„Auch die Lehrer waren bestechlich. Du hattest nur eine Chance, vorwärts zu kommen, wenn du ihnen gegeben hast, was sie von dir verlangten“, erzählt ein Jugendlicher, der sich auf diese gefährliche Reise begeben hatte. „Obwohl ich noch ein Kind war, blieb mir nichts anderes übrig, als Arbeit zu suchen. Auf dem Rindermarkt konnte man ein bisschen Geld verdienen, indem man auf die Kühe aufpasst. Mit dem Geld wollte ich meine Familie unterstützen, doch ein Polizist hat es mir auf dem Heimweg abgenommen.

Da es in unserem Dorf keine weiterführende Schule gab, sich unsere Familie aber nicht das Fahrtgeld in die tägliche Busfahrt in Stadt leisten konnte, sollte ich bei einer bekannten Familie in der Stadt wohnen. Als ich jedoch mit anhören musste, wie mein Vater die Familie angebettelt hat, mich bei ihnen wohnen zu lassen, hat mir das sehr wehgetan. Dort wollte ich nicht bleiben und beschloss, in mein Dorf zurückzufahren.

Als mich dann ein Cousin angerufen hat, der sich auf den Weg nach Europa gemacht hatte und in Italien angekommen war, dachte ich: Das will ich auch versuchen! Welche andere Möglichkeit habe ich denn sonst? Welche Zukunft erwartet mich, wenn ich zu Hause bleibe? Nicht einmal die Nachrichten von Leuten, die auf dem Weg nach Europa gestorben sind, konnten mich von dieser Idee abbringen.

In der Stadt hatte ich einen Mann kennengelernt, der mir in Aussicht gestellt hat, dass er mich nach Europa bringen könnte. Als ich ins Dorf zurückkam, wurde gerade ein Zelt aufgebaut, in dem eine Trauerfeier für einen Dorfbewohner stattfinden sollte, der auf der Überfahrt nach Europa im Meer ertrunken war. Ausgerechnet während dieser Trauerfeier hat mich dieser Mann angerufen und gesagt: ‚Das Auto steht bereit, der Fahrer auch. Wir warten nur noch auf dich‘. Am nächsten Tag schon sollte die Abreise stattfinden. Mein Entschluss stand fest. Auch ein Freund wollte mitkommen. Ich habe mich heimlich aus dem Haus geschlichen, damit mich mein Vater nicht sah, meine Sim-Karte verkauft und für das Geld Zigaretten gekauft. Dann habe ich zusammen mit meinem Freund einen Platz gesucht, wo wir die Nacht verbringen konnten, ohne von unseren Eltern gefunden zu werden.

In der Früh sind wir zur Bushaltestelle gegangen. Doch im Bus saß zufällig ein Verwandter meines Freundes. Als er uns sah, forderte er uns auf, mit ihm mitzukommen. Ihm war klar, was wir vorhatten, und er hat uns gefragt: ‚Wollt ihr denn sterben?‘ Doch wir wollten seine Warnungen nicht hören. Er hat uns im Restaurant auf ein Frühstück eingeladen und uns dann zu sich nach Hause mitgenommen. Als er zum Brunnen ging, um Wasser für uns zu holen, sind wir weggelaufen. Ein LKW, der gerade vorbeigekommen ist, hat uns in die Stadt mitgenommen. So konnte er uns nicht mehr einholen.

In der Stadt haben wir die Schlepper getroffen. Sie haben uns in einem schönen Haus untergebracht, wo uns gutes Essen serviert wurde und wir fernsehen durften. Um drei Uhr in der Früh sind wir dann aufgebrochen. Als wir in der Hauptstadt ankamen, mussten wir in ein anderes Auto umsteigen. Dann hat man uns in ein Hotel gebracht und erzählt, dass wir uns keine Sorgen machen müssten, weil alles perfekt organisiert sei und man uns bestimmt heil nach Europa bringen würde. Wir haben den Schleppern geglaubt, weil wir ihnen glauben wollten. Ein paar Tage sind wir im Hotel geblieben und haben dort alles bekommen, was wir brauchten.

„Ab diesem Zeitpunkt waren wir keine Gäste mehr, sondern eine Ware ...“

Eines Abends wurden wir abgeholt und zusammen mit anderen Männern und Frauen in ein Auto gesteckt. Ab diesem Zeitpunkt waren wir keine Gäste mehr, sondern eine Ware. Obwohl die Straße durch die Berge kurvig war, fuhr der Fahrer in einem rasanten Tempo. Wenn er zu einem Checkpoint kam, stieg er aus und bezahlte etwas Schmiergeld. Seit wir in das Auto eingestiegen waren, bekamen wir weder Essen noch Wasser mehr und durften nicht auf die Toilette gehen. In der Früh wurden wir in ein Haus gebracht, wo wir uns verstecken mussten. Ein mit einem Schwert bewaffneter Mann bewachte uns. Er brachte uns Essen, Wasser und einen Kanister, in den wir urinieren sollten. Die Frauen waren geschockt.

Gefahren sind wir nur in der Nacht. Dann hat man uns gewarnt: ‚Wenn wir zur Grenze kommen, wird es eine Schießerei geben. Haltet euren Kopf in Deckung. Sie wollen euch nicht töten, sondern entführen‘. Die bewaffneten Männer haben uns – wie eine wertvolle Ware von allen Seiten bewacht – zu einem anderen Auto gebracht. Dort erwarteten uns schwarze Männer in arabischen Kleidern, die Wasser und Datteln verteilten. Wir mussten ins Auto einsteigen. Kurz nachdem wir losgefahren waren, griffen uns bewaffnete Männer auf Motorrädern an und schossen auf uns. Dann haben uns die schwarzen Männer an hellhäutige Araber übergeben, die uns in ein Haus führten. Die Frauen haben sie von uns getrennt und weggebracht, was sie mit ihnen gemacht haben, weiß ich nicht.

Am Abend wurden wir zu einem LKW geführt, mit dem wir alle zusammen zu einem Fluss – ich glaube es war der Nil – gebracht wurden. Dort stiegen wir in ein Boot ein, das uns zum anderen Ufer brachte. Dort warteten schon Geländefahrzeuge auf uns. Hier wurde ich von meinem Freund getrennt. Wir bekamen eine Jacke und eine Sonnenbrille, um uns vor dem Sand und der glühenden Sonne zu schützen.

Die Reise durch die Wüste dauerte mehrere Tage. Acht Autos fuhren nebeneinander auf der Piste durch die Wüste, bis wir zu einem Hügel kamen, wo wir mit einem Kugelhagel empfangen wurden. Männer in Militäruniformen entwaffneten unsere Führer und nahmen ihnen die Wasser- und den Dieselkanister weg. Wir dachten, jetzt sei alles vorbei. Die libysche Mafia hatte uns übernommen und wir waren jetzt ihr Eigentum. Die Männer haben uns dann in verschiedene Autos verfrachtet, in denen es so eng war, dass ich die ganze Fahrt auf dem Schoß eines Mannes sitzen musste. Wenn ich ihm zu schwer wurde, schlug er mich. Neben uns fuhren Autos mit bewaffneten Männern, die uns – ihre Beute – bewachten.

Nach mehreren Tagen unter unmenschlichen Bedingungen im Auto, erreichten wir ein großes Lager mitten in der Wüste, wo man uns endlich etwas zu Essen gegeben hat. Der Mann, auf dessen Schoß ich gesessen war, entschuldigte sich, dass er mich geschlagen hatte. Im Lager konnten uns frei bewegen, und ich habe meinen Freund wieder getroffen. Wir. Dort sind wir auch einem Mann begegnet, der uns versprach, uns zu unseren Landsleuten zu bringen. Zusammen mit zwei anderen hat er uns in ein Auto gesteckt. Er hat uns auch Essen und Zigaretten versprochen, aber bekommen haben wir nichts.

Als wir schließlich zu dem anderen Lager gekommen sind, wurde uns klar, dass uns der Mann entführt hatte, und wir haben es bereut, dass wir mit ihm mitgefahren sind. Als wir durch das Eingangstor gingen, kam uns ein beißender Geruch entgegen. Wir waren geschockt. Die meisten Leute im Lager, darunter auch viele Frauen, waren völlig abgemagert und schmutzig, manche hatten nicht einmal Kleider am Leib. Man hat uns verboten zu telefonieren, mein Handy durfte ich behalten.

„Erst als mein Vater das Lösegeld bezahlt hat,
haben sie mich freigelassen …“

Zwei Tage erhielt ich einen Anruf von meinem Vater. Ich sagte zu ihm: „Wenn ich hierbleiben muss, werde ich sterben.“ Mein Vater sagte, dass er kein Geld habe, versprach mir, sich zu bemühen, die Summe irgendwie aufzutreiben, um mich freizukaufen. Er erzählte mir auch, dass er schon am Beginn meiner Reise mit den Schleppern Kontakt aufgenommen und Geld an sie bezahlt hatte. Die Schlepper hatten das Geld angenommen, mich aber trotzdem weiterverkauft. Einer Woche nach dem Telefongespräch ist das Lösegeld angekommen. Mein Vater hat 6000 Dollar geschickt. Ich durfte das Lager verlassen, mein Freund musste jedoch dort bleiben.

Nun war ich frei. Zusammen mit einer älteren Frau und einem Mann, die ebenfalls freigekauft worden waren, hat uns der Chef des Lagers einem Mann übergeben. Dieser verlangte wieder Geld von uns. Er wollte pro Person 2000 Dollar für die Überfahrt nach Europa. Woher sollte ich dieses Geld auftreiben? Er brachte uns in ein anderes Lager, wo die Situation etwas besser war. Es gab aber Läuse und anderes Ungeziefer. Nach zwei Tagen hat mir mein Vater noch einmal 2500 Dollar geschickt. Ich habe keine Ahnung, wie es ihm gelungen war, dieses Geld aufzutreiben. Der Mann hat das Geld für die Überfahr genommen und mir den Rest – 300 Dinar – gegeben. Ich war hungrig und durstig. So bin ich zu einem in der Nähe liegenden Lager gelaufen, wo Nigerianer untergebracht waren. Ich bat sie um Wasser und sie haben es mir gegeben.

Ich dachte, ich könnte jetzt gleich in das Boot einsteigen, doch in Wirklichkeit lag noch eine lange Fahrt vor uns. Zum Glück hatte ich vor der Fahrt genug getrunken, denn wir bekamen die ganze Fahrt kein Wasser, Als wir in Sirte ankamen, durften wir endlich aussteigen. Einer von uns fiel ohnmächtig aus dem Auto. Weil er zwischen den anderen eingezwängt war, hatten wir nicht bemerkt, dass er vor Durst das Bewusstsein verloren hatte. Ich habe im nächsten Geschäft eine Dose Tomaten gekauft und sie sofort aufgegessen, weil ich so hungrig war. Davon musste ich erbrechen und bekam Durchfall.

Um vier Uhr in der Früh konnten wir dann endlich ins Boot einsteigen. Wir waren 500 Personen zusammengepfercht in einem kleinen Boot. Unserem Steuermann – einem Mann aus dem Tschad – haben sie nur gezeigt, nach welchem Stern er sich orientieren sollte. Der Mann hatte nämlich keine Ahnung, wie er mit dem GPS-Gerät umgehen solle. Als er den Stern nicht mehr sehen konnte, ist das Boot jedoch statt nach Italien, in Richtung Tunesien gefahren. Das Boot wurde immer instabiler und schiefer. Plötzlich ist ein Flugzeug gekommen. Einer der Passagiere hat das Funkgerät in die Hand genommen und auf Italienisch gerufen, dass wir Hilfe brauchten, weil das Boot bald sinken würde. Schließlich sind Rettungsschiffe gekommen. Die Leute waren in Panik und drängen auf eine Seite, weil sie alle gleichzeitig aussteigen wollten. Man musste sie zurückhalten, um das Schiff nicht zum Kentern zu bringen.

Weil ich während der Fahrt neben dem Steuermann gesessen war, dachte die Polizei zuerst, dass ich zu den Schleppern gehörte. Man hat mich festgenommen, ein paar Tage lang eingesperrt, danach aber wieder freigelassen. So bin ich in Sizilien angekommen. Die Organisation „Save the children“ hat mich mitgenommen und in eine Flüchtlingsunterkunft für Unbegleitete Minderjährige gebracht. Ich war endlich in Sicherheit.“

Dies ist die wahre Geschichte eines jungen Mannes aus Ostafrika. Er hatte Glück, aus der Gefangenschaft in Libyen freizukommen und Europa lebendig zu erreichen. Die Menschen jedoch, die nicht von den Menschenhändlern freigekauft werden, erwartet ein grausames Schicksal. Es gibt Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die belegen, dass in Libyen Menschen auf Markt als Sklaven verkauft werden. Diejenigen, die es noch über das Mittelmeer schaffen, kommen in einem immer schlechteren gesundheitlichen Zustand an, berichtet ein sizilianischer Arzt, der schon über 150.000 Ankommende untersucht und behandelt hat. Der 22-jährige Eritreer Tesfalidet Tesfom wog nur noch 35 Kilo, als er im April dieses Jahres Italien erreichte. Kurz nach seiner Ankunft verstarb er an den Folgen von Unterernährung.

Die Verbrecherbanden, die seit der Zerstörung des libyschen Staates ohne jede Kontrolle ihr Unwesen treiben, nutzen die Ahnungs- und Hoffnungslosigkeit afrikanischer Menschen für ihre skrupellosen Geschäfte aus. Angesichts der unmenschlichen Verhältnisse in Libyen und der ständig ansteigenden Zahl von Todesopfern im Mittelmeer, sind die Maßnahmen europäischer Regierungen, die Seenotrettung im Mittelmeer zu unterbinden und die mutigen Retter von Menschenleben sogar vor Gericht zu bringen, an Grausamkeit und Menschenverachtung kaum noch zu überbieten.

Die Menschen werden erst dann von der Flucht abgehalten werden können, wenn sie in ihren Heimatländern nicht nur eine Überlebenschance, sondern auch Zukunftsperspektiven haben. Es wird zwar oft über die Beseitigung von Fluchtursachen gesprochen, doch man muss die Frage stellen, ob die europäischen Regierungen bis jetzt tatsächlich etwas dafür getan haben.


veröffentlich in Talktogether Nr. 65/2018

 

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