„Insgesamt wünsche ich mir, dass Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft einen höheren Stellenwert haben, weil sie das beste und wichtigste sind, was wir haben.“
TT: Was ist die Kinder- und Jugendanwaltschaft und was ist ihr Auftrag?
Andrea: Die Kija wurde vor 25 Jahren als eine weisungsfreie Einrichtung des Landes Salzburg gegründet. Basis unserer Arbeit ist die UN-Kinderrechtskonvention, die im nächsten Jahr ihr 30. Jubiläum feiert. Es gibt in jedem Bundesland so eine weisungsfreie Einrichtung. Unsere Aufgaben sind gesetzlich festgelegt. Diese sind von Bundesland zu Bundesland zwar unterschiedlich, aber im Wesentlichen handelt es sich um drei Aufgaben: Erstens, die Interessen der Kinder und Jugendlichen in der Öffentlichkeit zu vertreten, also Bewusstseinsbildung und Information über die Kinderrechte bei allen Zielgruppen – wozu auch Lehrer*innen, Eltern, Kindergartenpädagog*innen, Ärzte und Ärztinnen, Richter*innen usw. zählen, aber in erster Linie bei unserer Hauptzielgruppe, bei Kindern und Jugendlichen. Das tun wir, indem wir in den Schulklassen Workshops oder Theaterstücke organisieren, wie haben Broschüren, wir haben ein App, wir sind in vielen Kanälen präsent. Die zweite Schiene ist die Einzelfallarbeit. Die kija ist Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche mit Problemen von A bis Z – von Alkohol bis Zwangsheirat: Wir beraten Kinder alkoholkranker Eltern, Mobbingopfer oder Mädchen, die von Zwangsheirat bedroht sind.
TT: HeiĂźt das, ihr betreut ein bestimmtes Kind anwaltlich?
Andrea: Ja, aber nicht wie Rechtsanwälte in einem Verfahren, sondern anwaltlich im Sinne von Parteilichkeit. Wir sehen uns als Sprachrohr für die Anliegen junger Menschen und versuchen, ihre Probleme ganz individuell zu lösen. Wir reden mit den Eltern oder mit den Betreuer*innen einer WG, wir thematisieren Mobbing in einer Schulklasse oder wir suchen um Stundung an, wenn ein Jugendlicher z.B. im Internet etwas bestellt hat und es nicht bezahlen kann. Natürlich können wir nicht alle Probleme (selbst) lösen, wir haben auch Anwälte, die wir unter gewissen Kriterien heranziehen können. Wir betreuen rund 3000 Einzelfälle pro Jahr im ganzen Bundesland, Tendenz steigend. Unsere Hilfe ist kostenlos und vertraulich, und man kann sich auch anonym an uns wenden. Wir machen nur das, was wir mit dem Jugendlichen oder dem Kind besprochen haben, so dass niemand Angst haben muss, die Kontrolle darüber zu verlieren, was weiter geschieht, denn die Kinder und Jugendlichen sind unsere „Auftraggeber“.
Als dritte Aufgabe setzen wir uns für verbesserte gesellschaftliche Rahmenbedingungen ein. Während wir in der Einzelfallarbeit versuchen, einem konkreten Kind oder dem Jugendlichen zu helfen, Hürden zu überwinden, bemühen wir uns auf der gesellschaftspolitischen Ebene diese Hindernisse für eine möglichst große Anzahl von Kindern und Jugendlichen aus dem Weg zu räumen, z.B. indem wir versuchen, ein Gesetz zu ändern, mithelfen, konkrete Angebote zu schaffen (z.B. das Clearinghouse) oder Unterstützungsleistungen erkämpfen. So ist es uns gelungen, vor dem Arbeits- und Sozialgericht Pflegegeld für Kinder mit Beeinträchtigungen auch unter drei Jahren zu erstreiten.
Ein Paradebeispiel ist auch der Beistand von Kindern, wenn sich die Eltern trennen. Mit einem Pilotprojekt konnten wir durchsetzen, dass Kinder bei einer Scheidung einen Rechtsanspruch auf einen Beistand vor Gericht haben. Das ist ein klassisches Beispiel dafĂĽr, wie sich aus einem Einzelfall eine Initiative entwickelt kann, die gesamtgesellschaftlich etwas bewirkt. Das gelingt nicht immer, aber manchmal sind wir erfolgreich.
TT: Wie erfahren die Kinder und Jugendlichen von euch?
Andrea: Wie gesagt, wir gehen in Schulklassen und nehmen dort Kontakt mit den Kindern auf: Wir machen z.B. einen Kinderrechte-Workshop und erzählen, was wir tun und mit welchen Fragen die Kinder und Jugendlichen zu uns kommen. Wir führen auch Theaterstücke zu bestimmten Themen auf – zum Thema Mobbing hatten wir ein Stück mit dem Titel: „Selber schuld!“
Mundpropaganda ist auch sehr wichtig oder Facebook. Da sich die Kommunikationskanäle der Jugendlichen aber ständig ändern, versuchen wir, immer auf dem aktuellen Stand zu sein. Unser Ziel ist es, dass jedes Kind und jeder Jugendliche im Land Salzburg im Laufe seines Heranwachsens von uns gehört hat und weiß, da gibt es jemanden, der mir den Rücken stärkt, da kann ich hingehen, wenn mich jemand unfair behandelt und meine Rechte verletzt.
TT: Gibt es Themen die besonders aktuell und akut sind?
Andrea: Mobbing ist leider ein Dauerbrenner, da gibt es wirklich dringenden Handlungsbedarf. Man darf die Langzeitfolgen von Mobbing nicht unterschätzen. Mobbing kann Schulabbruch, mangelndes Selbstwertgefühl, Suidzidabsichten und psychische Erkrankungen zur Folge haben. Österreich ist traurigerweise europaweit Spitzenreiter, was Mobbing betrifft. Da muss man sich schon fragen, was die Gründe dafür sind. Sorge bereitet uns auch die Segregation in der Schule, die durch die neuen Deutschförderklassen entstehen kann. Deshalb wollen wir im nächsten Jahr einen Schwerpunkt Schule setzen und planen eine Tagung zu diesem Thema.
Ein großes Thema ist auch der Umgang mit geflüchteten Menschen. Wir haben zwei ehrenamtliche Patenprojekte für Kinder, die kein familiäres Netz haben, das eine heißt „Mut machen“ für Kinder in schwierigen Situationen. Das andere Projekt „Open Heart“ ist speziell für nach Salzburg geflüchtete Jugendliche, für die wir bereits 100 Patenschaften vermitteln konnten. Das Projekt läuft sehr gut, wir haben aber immer mehr mit strukturellen Benachteiligungen und Diskriminierungen zu kämpfen, ein Beispiel sind die Aberkennungsverfahren vom subsidiären Schutz. Unsere Überzeugung ist: Alle Kinder sind gleich und sollen die gleichen Rechte und Chancen haben. Derzeit geht die Politik jedoch leider in eine ganz andere Richtung.
Die Kinder- und Jugendanwaltschaften haben sich dafür eingesetzt, dass geflüchtete junge Menschen in Österreich die Chance auf eine Lehrlingsausbildung erhalten. Wir sprechen uns massiv dagegen aus, dass diese Möglichkeit wieder abgeschafft wird und man Lehrlinge abschiebt. Wir erleben die Verunsicherung der Jugendlichen, aber auch die Sorgen und die Ängste ehrenamtlichen Paten und Patinnen, denn hier entstehen ja Beziehungen. Sie müssen erleben, wie ihre Schützlinge, die sie begleitet haben, abgeschoben werden. Ich selbst habe im August für das Bleiberecht für zwei irakische Mädchen gekämpft – die eine hatte eine Lehrstelle im Schlosshotel Mönchstein, die andere machte eine Ausbildung zur Krankenpflegerin. Man hat die Familie abgeschoben, obwohl für den Irak Reisewarnstufe 6 gilt. Da habe ich z.B. die Hilflosigkeit gespürt, wenn man miterleben muss, wie alles zunichtegemacht wird.
Gerade in dieser Frage gibt es eine breite Plattform, an der sich neben der Arbeiterkammer auch die Wirtschaftskammer und die Industriellenvereinigung beteiligen. Ihnen geht es weniger um Kinderrechte als darum, dass die Wirtschaft diese Arbeitskräfte braucht – aber in den Forderungen sind wir uns einig. Bildung und Ausbildung sind ein Teil des Lebens und gehören zum Heranwachsen dazu, wenn man daran nicht teilhaben kann, macht das etwas mit der psychischen Gesundheit der jungen Menschen. Dagegen verwehren wir uns. Aber das ist ja nicht das einzige, was zurzeit passiert. Wir wehren uns auch gegen die Pläne der Regierung, die unabhängige und objektive Rechtsberatung von Asylwerber*innen abzuschaffen. Bei einer Rechtsberatung die dem Innenministerium unterstellt ist, ist die Unabhängigkeit nicht mehr gewährleistet.
Außerdem setzen wir uns für die Einrichtung einer Härtefallkommission im Bundesland Salzburg ein, wenn ein Verfahren rechtsgültig negativ beschieden worden ist – abgesehen davon, dass wir die Rechtsstaatlichkeit mancher Verfahren anzweifeln. Diese soll sich u.a. aus dem Landeshauptmann, Vertretern der Kirche, der Wirtschaftskammer und der Kinderpsychiatrie zusammensetzen und die Möglichkeit haben, Entscheidungen zu prüfen, die von vielen als Unrecht empfunden werden. Dabei sollen die Integrationsleistungen des Asylwerbers, die psychische Gesundheit oder seine Bindung zum Herkunftsland berücksichtigt werden – es werden ja Jugendliche in Länder abgeschoben, in denen sie nie gelebt haben.
TT: Wäre es nicht ungerecht, wenn Lehrlinge nicht abgeschoben werden, anderen aber schon?
Andrea: Menschenrechtliche Standards und Kinderrechte müssen für alle gelten, unabhängig davon, ob der Jugendliche brav ist und gute Noten hat. Es gibt auch manche, die sich schwertun, was auch nicht verwunderlich ist, denn sie alle haben unglaublich viel Leid und Not erlebt. Es ist eine außergewöhnliche Leistung, unter diesen Umständen die Lehre zu schaffen. Wir setzen wir uns dafür ein, dass wenigstens diese jungen Menschen eine legale Möglichkeit bekommen, hierzubleiben. Aber das ist natürlich längst nicht unsere einzige Forderung.
TT: Welche gesetzlichen Regelungen haben besonders gravierende Auswirkungen?
Andrea: Zum Beispiel die Schulgesetze. Die Benachteiligung und die Ghettos fangen doch damit an, wenn man Kinder nicht integrativ und gemeinsam unterrichtet, sondern sie voneinander trennt und eigene „Ausländerklassen“ schafft. Ich kenne aus dem Schulbereich niemanden, der das befürwortet. In der Praxis sieht das so aus, dass sie 15 Stunden in den „Deutschförderklassen“ Unterricht haben. Dort sind 25 Kinder – eine ganz heterogene Gruppe in Bezug auf Alter und Sprachhintergrund – in einer Klasse mit nur einer Lehrperson. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass das gelingen kann. Tatsächlich handelt sich um eine reine Sparmaßnahme. Die übrigen Stunden werden die Kinder dann aufgeteilt auf die anderen Klassen. Wie soll da ein sozialer Zusammenhalt entstehen? Diese Kinder, so ist die Befürchtung, werden dann die Ausgegrenzten sein, diejenigen, die nicht dazu gehören. Diese Trennung ist überall spürbar: Zum einen werden die Mittel der NGOs gekürzt, in den Schulen wird gespart, und dann werden Gesetze geschaffen, um „Ausländer“ zu kontrollieren, ob sie ein Messer mithaben. Wir sind nicht prinzipiell gegen Kontrollen, aber warum nicht Kontrollen für alle? Neben der aufgeheizten Stimmung, die ständig erzeugt wird, werden den jungen Menschen kaum noch Chancen gelassen. Auf der einen Seite sollen sie unser Werte lernen, zum Beispiel, dass alle Menschen gleich sind, sie erfahren aber jeden Tag am eigenen Leib, dass das nicht stimmt.
TT: Was kann man als Einzelner tun?
Andrea: Als Einzelperson kann man nur Zivilcourage zeigen und „Stopp“ sagen, wenn man Diskriminierung beobachtet. Menschen in Schutz nehmen hilft auch bei Mobbing, denn Mobbing kann es nur dann geben, wenn es die Mitläufer gibt, die nichts sagen. Auch wenn wir damit die Entwicklung nicht zurückdrehen können, können wir in die Öffentlichkeit gehen, Dinge benennen, einen Leserbrief schreiben, damit zumindest wahrgenommen wird, dass nicht alle mit dem, was passiert, einverstanden sind. Auf ein Gespräch im Ö1-Mittagsjournal habe ich viele Rückmeldungen bekommen, auch Beschimpfungen, aber es waren viel mehr positive Reaktionen. Man kann sich engagieren, zum Beispiel in unserem Patenprojekt „open heart“. Für die Jugendlichen ist es sehr wichtige Erfahrung, dass es Menschen gibt, die zu ihnen halten, die ihnen Mut machen. Wir suchen noch Paten und Patinnen, es gibt viele Jugendliche, die sich sehr wünschen, eine Begleitung zu haben. Oder wem das zu viel ist, mit den Jugendlichen lernen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich konkret zu engagieren.
TT: Welche konkreten Forderungen hat die Kuka an die Verantwortlichen in der Politik?