Chemnitz
Die furchteinflößenden Ereignisse in Chemnitz stellten nur einen Höhepunkt der aktuellen politischen Entwicklung in Deutschland, Europa und anderen Weltregionen dar. Viele politische Parteien und Bewegungen stellen sich die Frage, was sie dem Rechtsruck entgegensetzen können. Einer Konfrontation mit dem Rassismus auszuweichen und sich einseitig auf wirtschaftliche Fragen zu konzentrieren, wäre jedoch falsch und gefährlich.Â
Als im August die schockierenden Bilder aus Chemnitz über die Fernsehbildschirmen liefen, fragten sich viele, ob sie hier einen Rückblick in eine entsetzliche Vergangenheit oder eine Vorschau in eine schreckliche Zukunft sahen. Nazi-Slogans schreiende Hooligans jagten Fußgänger, die sie aufgrund ihres Aussehens als „Migrant_innen“ identifizierten. Auslöser für die Menschenjagd war der Tod eines 35-jährigen Deutschen, der bei einem Streit zwischen Betrunkenen auf einem Straßenfest erstochen wurde. Zwei Asylwerber wurden unmittelbar nach dem Vorfall verhaftet, einer von ihnen aber kurz danach aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen.
Die Polizei in Chemnitz ließ den Nazi-Mob gewähren, sogar als dieser Menschen bedrohte und attackierte. Während sich viele angesichts dieser neuen Dimension der Gewalt fragten, wie es so weit kommen konnte, reagierten die verantwortlichen Politiker zögerlich. Die Ereignisse in Chemnitz können jedoch nicht isoliert von der allgemeinen politischen Entwicklung betrachtet werden. Angefeuert wurden sie auch durch die schmutzige Kampagne der CSU, in der vor Gewalt und Not geflüchtete Menschen als „Asyltouristen“ verleumdet wurden. Innenminister Seehofer äußerte sogar Verständnis mit den Demonstranten in Chemnitz und meinte, dass die Migration die wirkliche Ursache der Probleme sei. Seehofer hofft, mit seiner verantwortungslosen Politik der AfD Stimmen abringen zu können. Unabhängig vom Wahlergebnis ist die AfD die Gewinnerin: Sie diktiert die Themen und setzt ihre Agenda durch.
Der Aufstieg der AfD wäre nie ohne die offene oder verdeckte Unterstützung von breiten Teilen des deutschen Bürgertums möglich gewesen. In vielen europäischen Ländern – auch in Österreich – sitzen heute bereits Faschisten in den Regierungen, besetzen oft entscheidenden Positionen und arbeiten daran, die Länder nach ihren Vorstellungen umzuformen. Auch wenn eine Regierungsbeteiligung der AfD in Deutschland noch kein Thema ist, ist die Entschlossenheit, Brutalität und zynische Skrupellosigkeit der Koalition von AfD und militanter Neonazi-Szene erschreckend. Wie AfD-Führer Alexander Gauland ankündigte, sei ihr Ziel, das „Merkel-System“ zu Fall zu bringen, womit er aber nicht nur den Sturz der Regierungschefin meint, sondern den der liberalen Demokratie. Wer diesen Kampf gewinnen wird, ist ungewisser denn je.
Während die AfD den politischen Mainstream immer weiter nach rechts treibt, sucht die linke Opposition nach Strategien, um dem Rechtsruck zu begegnen. Sahra Wagenknechts Projekt „Aufstehen“ möchte mit einem Programm, das die materiellen Sorgen und Nöte der Menschen anspricht, Wähler und Wählerinnen zurückgewinnen, die vom neoliberalen Programm der AfD enttäuscht sind. Die Linke propagiert die Rückkehr zum Sozialstaat der 1980er Jahre, scheut sich aber davor, sich mit der rassistischen Ideologie der AfD auseinanderzusetzen.
Die einseitige Fokussierung auf ökonomische Themen ist jedoch aus mehreren Gründen falsch. Eine emanzipatorische Politik kann es nicht vermeiden, sich mit rassistischen und reaktionären Denkweisen auseinanderzusetzen und sie zu bekämpfen. Nur die eng gefassten Eigeninteressen der Menschen anzusprechen würde ja bedeuten, dass man sie für unfähig hält, über den eigenen Tellerrand zu blicken.
Zahlreiche Studien widerlegen zudem die Annahme, dass der Zulauf zu rechten Parteien vor allem auf die Folgen der neoliberalen Politik zurückzuführen sei. AfD-Wähler_innen begründen ihre Entscheidungen nämlich meist mit kulturellen Faktoren wie der sozialen Entfremdung, dem Verlust gemeinsamer Werte oder der Auflösung traditioneller Geschlechterrollen und Familienbeziehungen. Wer diese Menschen gewinnen möchte, darf diese Fragen nicht ignorieren. Zudem gibt es innerhalb der AfD bereits Bestrebungen, sich vom neoliberalen Programm abzuwenden. Wenn die AfD einen höheren Mindestlohn fordert, wie wird die Linke darauf reagieren? In der Weimarer Republik (1919-1933) war es eine Strategie der KPD, die Arbeiterklasse davon zu überzeugen, dass die Nazi-Partei ihr Versprechen, Arbeitsplätze zu schaffen, brechen würde – eine Politik, die sich jedoch als tragischer Irrtum erwies.
Es sind jedoch auch positive Entwicklungen zu verzeichnen. Immer mehr Menschen gehen auf die Straße, um gegen die Polizeiüberwachung, die unmenschliche Abschiebepraxis und die tödliche Abschottungspolitik zu protestieren. Diese Proteste müssen noch stärker werden. Viele der Menschen, die mit ihren berechtigten Forderungen auf die Straße gehen, setzen aber ihre Hoffnungen in ein Europa der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit, obwohl es gerade die herrschende Politik war, die – auch mit sozialdemokratischer Beteiligung – Europa in diese Situation gebracht hat. Heute machen liberale Demokraten weitreichende Zugeständnisse an die Rechten und kümmern sich mehr um die Aufrechterhaltung der Ordnung als um soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte.
Ein paar Tage nach der Menschenjagd wurde in Chemnitz ein großes Open-Air-Konzert organisiert, bei dem zahlreiche bekannte Gruppen auftraten und 65.000 Menschen skandierten: „Wir sind mehr!“ Auch wenn das stimmen mag, ist es noch lange kein Grund, sich in Sicherheit zu wiegen. Auch 1933 bestand die Bevölkerung nur zu einem Bruchteil aus überzeugen Nationalsozialisten. Dem Nazi-Regime ist es trotzdem gelungen, seine Macht innerhalb kürzester Zeit durch Gewalt, Bestechung, Betrug und Propaganda zu festigen. Und viele – darunter auch spätere Opfer des Nazi-Regimes – schwiegen aus Angst, aus Opportunismus oder weil sie hofften, dass es schon nicht so schlimm werden würde. Wir sollten aus dieser historischen Erfahrung lernen, bevor es zu spät ist.
Quelle: aworldtowinns.co.uk │20.09.2018 Foto: Hadi, Bleiberecht Salzburg
veröffentlicht in Talktogether Nr. 66/2018
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