Ursachen für die Migration
Bis zum 18. Jahrhundert veränderte sich die Weltbevölkerung wenig, die damalige Welt war europazentriert. Doch danach stellen wir ein weltweites Wachstum der Bevölkerung um etwa 0,5 Prozent pro Jahr fest. In Europa lebten die Menschen überwiegend in ländlichen Gebieten, wo sie durch die „Schollenpflicht“, also durch Leibeigenschaft gefangen waren. Mit wachsendem Wissen um die landwirtschaftliche Produktion verbesserten sich die Ernteerträge, und durch die höheren Erträge sank der Preis für die landwirtschaftlichen Produkte. Damit verarmten die Bauern, die immer noch robot- und zehentpflichtig waren.
Bis zum Revolutionsjahr 1848 war die Migration noch relativ gering, doch der Gesetzesantrag des jungen Abgeordneten Hans Kudlich zur Abschaffung der Leibeigenschaft im Sommer 1848 hatte weitreichende Folgen auf das Wachstum der Städte, denn große Teile der verarmten Landbevölkerung verließen ihre Heimat entweder als Auswanderer nach Übersee oder durch Zuzug in die großen Städte. Dieser kontinuierliche Prozess dauert bis heute an. Um 1800 waren 75% der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Heute sind es nur mehr 2%.
Prinzipiell unterschied sich die Migration in Wien nicht von der in anderen Ländern, wohl aber im Ausmaß und darin, dass die Einwanderer andere Sprachen hatten als die einheimische Bevölkerung. Während Paris zwischen 1850 bis 1910 von 1,1 Millionen auf das Dreifache (auf fast 3 Millionen) wuchs, war es in Wien das Sechsfache (von 400.000 auf 2,4 Millionen). Wien war damit um 1910 die fünftgrößte Stadt der Welt!
Viel wichtiger noch als das explosive Wachstum war aber die Herkunft der Migranten. Der Zuwachs in anderen europäischen Großstädten erfolgte meist aus dem gleichsprachigen, ländlichen Umland, in Wien aber kamen die Zuwanderer vorwiegend aus dem heutigen Tschechien. Es kamen also Menschen, die zeitlebens wegen ihrer Umgangssprache als Fremde wahrgenommen wurden. Meine Großeltern zum Beispiel, die als 18-Jährige nach Wien gekommen waren, sprachen bis zu ihrem Lebensende nur gebrochen Deutsch. Sie hätten jedem Vergleich mit einer heutigen türkischen Großmutter standgehalten. Auch das Kopftuch war damals nicht unüblich, wie alte Bilder zeigen.
In den ländlichen Vielkinderfamilien übernahmen die ältesten Söhne den Hof, die jüngeren mussten weg. Fürsorgliche Familien ermöglichten ihren Kindern eine Ausbildung, bevor sie den Weg in die große Stadt antraten. Einigen, wie zum Beispiel dem Jungakademiker Kudlich, wurde sogar eine Universitätsausbildung zuteil, während seine Eltern noch zehentpflichtig waren. Mit einer Ausbildung in der Tasche landete man in einem Handwerksbetrieb, die besser Ausgebildeten – wie Alois Miesbach – schafften es bis zum Ziegelbaron. Er war – wie sein Neffe Heinrich Drasche – ebenfalls ein Tscheche. Ohne eine Ausbildung landete man am Bau, im Haushalt oder eben im Ziegelwerk.
Aber es gab einen wichtigen Unterschied zwischen einem Bauarbeiter und einem Ziegelarbeiter. Bauarbeiter lebten in der Stadt, waren Teil der dortigen tschechischen Gemeinde, brauchten eine Wohnung oder wenigstens ein Bett als Bettgeher. Ziegelarbeiter dagegen lebten in der Fabrik und hatten kaum Kontakt mit der Gemeinde, und mit Wien schon gar nicht. Das mag am Anfang, als die Arbeiterwohnhäuser errichtet worden sind, noch einigermaßen erträglich gewesen sein. Das war die Zeit, als die Ziegelbarone Alois Miesbach und sein Neffe Heinrich Drasche wie Patriarchen über das Ziegelimperium herrschten. Diese Herren standen in der Öffentlichkeit, und das Bild, das die Geschichtsbücher von ihnen zeichnen, ist das von Mäzenen, die in den Gemeinden Sozialeinrichtungen wie Krankenhäuser und Kindergärten errichteten und sich damit ein Image als Wohltäter und Gönner aufbauten. Es gibt auch Erzählungen, die berichten, dass sie ihre Verantwortung gegenüber ihren Arbeitern wahrgenommen haben.
Ab dem Jahr 1869 änderte sich die Situation, als Heinrich Drasche seine Ziegeleien in eine Aktiengesellschaft – die „Wienerberger Ziegelfabriks- und Baugesellschaft“ – umwandelte. Er blieb zwar Ehrenadministrator auf Lebenszeit, widmete sich aber vermehrt seinen Kohlegruben in Böhmen. Er starb 1880, noch vor den uns überlieferten schrecklichen Arbeitsbedingungen.
„Ziegelböhm“ – die Sklaven vom Wienerberg
Das Ziegelhandwerk war bis ins 20. Jahrhundert saisonal, im Winter kehrten die Arbeiter meist in ihre Heimatdörfer zurück, mit ihnen gemeinsam auch alle Arbeiter am Bau. Historiker gaben ihnen den Namen „Böhmische Schwalben“, die eben im Herbst abziehen, um im Frühling wiederzukommen. Und es kamen sogar ganze Familienpartien. Die Kinder übernahmen die einfacheren Arbeiten wie das Sandeln (Sand in den Model streuen, damit der Ton nicht kleben bleibt) oder das Aufreiben (die nassen Ziegel zum Trocknen in den Trockenhütten aufreihen), die Männer waren Lehmscheiber und brachten den Lehm in Scheibtruhen zu den Schlagtischen, wo die Frauen in einer Stunde etwa 100 Ziegel formten. Dazu kam die Betreuung der Brennöfen durch Brenner, Kohlenzuführer, Einscheiber, Ausscheiber und Lader. Nicht zu vergessen die Maltaweiber, die den Mörtel für das Zumauern der Öfen herstellten. Besonders mühsam war das Lehmtreten, bei dem der trockene Lehm mit Wasser und verschiedenen Zusätzen vermischt und bei jedem Wetter mit bloßen Füßen getreten wurde. Die Fertigung der Ziegel war bis ins 20. Jahrhundert reine Handarbeit. Die Arbeitszeit dauerte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, arbeitsfreie Tage gab es nicht. Bezahlt wurde im Akkord, jeweils für 1000 Ziegel. Einen Grundlohn gab es nicht, eine Erkrankung bedeutete gleichzeitig auch, keinen Lohn zu bekommen.
Das Wachstum der Stadt forderte immer mehr Ziegel. Mehr Ziegel bedeutete, dass mehr Menschen beschäftigt werden mussten. Die Aktiengesellschaft baute für die Arbeiter aber nicht etwa weitere Unterkünfte, sondern unterteilte ein Zimmer, das ursprünglich für eine Familie gedacht war, in Kojen, und später nicht einmal das. „Ringspatzen“ nannte man die jungen Männer, die bei jedem Wetter nur mehr einen Schlafplatz am Ringofen bekommen haben.
Der Staat war damals ein so genannter „schlanker Staat“. Seine wichtigste Aufgabe sah man in der Aufrechterhaltung von Sitte, Ruhe und Ordnung sowie der Bewahrung des Eigentums. Sozialgesetzgebung oder Arbeitsrecht waren noch nicht erfunden. Es herrschte der freie Markt, Angebot und Nachfrage regelten nicht nur die Lebenshaltungskosten, sondern auch die Lohnkosten. Ein Überangebot an Arbeitskräften ließ den Lohn auf ein Minimum sinken. Der Gewinndruck der Börse ließ die Aktiengesellschaft erfinderisch werden, um sogar noch am ohnehin geringen Lohn der Arbeiter mitzuverdienen.
Blechgeld (Trucksystem): Der Lohn wurde nicht in normaler Währung ausgezahlt, sondern in Wertmarken, die nur in werkseigenen Kantinen eingelöst wurden. Jedem Arbeiter war eine ganz bestimmte Kantine zugewiesen. Die Preise in den Kantinen waren gegenüber den Geschäften in der Umgebung deutlich überhöht.
Prämiensystem: Der Name ist wie ein Hohn, klingt er doch so, als würde man – etwa für besondere Leistungen – eine Prämie bekommen. Es war genau umgekehrt, denn ein Teil des Lohns wurde einbehalten, um ihn am Saisonende im November als eine Art „Weihnachtsgeld“ auszuzahlen. Eine Auszahlung erfolgte aber nur, wenn es keine Arbeitsunterbrechung gab, daher wurde die Prämie sehr oft nicht ausbezahlt.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Verstöße gegen die Einkaufspflicht die sofortige Kündigung zur Folge hatten, ebenso wie ein unerlaubtes Übernachten im nahegelegenen Ort.
Spätestens mit der Ende 1857 von Kaiser Franz Joseph I. angeordneten Schleifung der Ringmauern und dem Bau der Ringstraße setzte in der Hauptstadt ein regelrechter Bauboom ein. Die Bauwirtschaft verbrauchte allein im Jahr 1872 an die 330 Millionen Ziegelsteine. Produziert wurden diese von den Arbeitern und Arbeiterinnen der Wienerberger Ziegelwerke, die, obwohl sie als Arbeitskräfte dringend gebraucht wurden, ein elendes und rechtsloses Dasein am Rand der Gesellschaft fristen mussten. Wer seinen Arbeitsplatz verlor, wurde abgeschoben.
Foto: Bezirksmuseum Favoriten
Geburt und Aufstieg der Sozialdemokratie
Es war einem Umstand zu verdanken, der möglicherweise damals in einer Zeit des Turbokapitalismus selten war und auch heute in Zeiten des allgemeinen Wohlstands abhanden zu kommen scheint: Mitgefühl. Victor Adler, ein Arzt aus Wien Alsergrund agitierte gegen die Arbeitsbedingungen in seiner Zeitschrift „Gleichheit“. Aber er behandelte auch unentgeltlich Menschen, die sich kein Arzthonorar leisten konnten, und dabei fiel ihm der oft erbärmliche Gesundheitszustand dieser Patienten auf.
Dadurch wurde er auf die Lebensbedingungen der Arbeiter im Süden von Wien aufmerksam. Mit Hilfe des Großvaters von Amalie Pölzer, der späteren ersten Gemeinderätin in Favoriten, konnte er sich am Wienerberg – als Maurer verkleidet – im November 1888 umschauen. Seine Eindrücke beschrieb er im berühmt gewordenen Text in seiner „Gleichheit“ vom 1. Dezember 1888 mit „…diese armen Ziegelarbeiter sind die ärmsten Sklaven, welche die Sonne bescheint.“
Die schon seit 1874 existierenden Gruppierungen mit sozialistischen Ideen waren bis zu diesem Zeitpunkt zerstritten und in radikale und gemäßigte Gruppierungen aufgespaltet. Ihre Aktivitäten waren zudem durch die behördliche Unterdrückung behindert. Der Appell von Victor Adler ließ sie aber ihre Differenzen begraben, und bereits im Jänner 1889 wurde beim berühmten Einigungsparteitag in Hainfeld die damalige SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) gegründet. Ihr erster Vorsitzender war Victor Adler. Die Ziegelarbeiter am Wienerberg waren also der Auslöser für die Vereinigung der verschiedenen sozialistisch orientierten Gruppierungen.
So wichtig diese Einigung für die Parteigründung war, dauerte es noch weitere sechs Jahre, bis sich an den Lebensbedingungen der Ziegelarbeiter etwas änderte. Die Arbeiter organisierten sich immer mehr, und im April 1895 kam es zu einem Generalstreik in praktisch allen Ziegelwerken südlich von Wien. Es gab beim Einschreiten der Gendarmerie 13 Tote und 13 Festnahmen. Die Arbeiter wurden von der SDAP versorgt. Das Ergebnis: Einführung der Sonntagsruhe, 11-Stunden-Arbeitstag, Einschränkung der Kinderarbeit, arbeitsfreier Erster Mai, Lohnerhöhungen sowie die Abschaffung von Blechgeld und Prämiensystem.
veröffentlicht in Talktogether Nr. 68/2019
Der zweite Teil folgt in Talktogether Nr. 69