Somalia: Gespräch mit der Sozialarbeiterin Wilo Abdulle PDF Drucken E-Mail

Gespräch mit Wilo Abdulle

Sozialarbeiterin in Somalia

TT: Du hast in Schweden und Südafrika Soziale Arbeit studiert. Welche Erfahrungen und welches Wissen hast du dadurch gewonnen?

Wilo: Ich habe 2000 mein Bachelorstudium in Schweden abgeschlossen. Danach habe ich begonnen, in Göteborg als Betreuerin für Jugendliche, Kinder und Familien zu arbeiten. Nachdem ich ein Jahr lang als Sozialarbeiterin tätig war, bin ich nach Südafrika gefahren, um dort das Masterstudium zu absolvieren. Meine Masterarbeit habe ich über ein Township geschrieben. Es ist um die Frage gegangen, wie die Partizipation von Frauen und Jugendlichen gefördert werden kann. In dieser Zeit habe ich viele Menschen – Mütter, Arbeitslose, Student*innen – kennengelernt, die dort lebten. Viele der jungen Menschen hatten eine gute Ausbildung, manche sogar ein abgeschlossenes Studium, fanden aber trotzdem keine Arbeit. Sie alle waren bereit, etwas für ihren Township zu tun, sie brauchten nur eine Möglichkeit.

Im Zentrum des Townships gab es ein leerstehendes Gebäude – ein ehemaliges Bierhaus. In den Zeiten der Apartheid haben fast alle Menschen im Township in einem Warenlager gearbeitet. Der Besitzer des Warenlagers betrieb gleichzeitig dieses Bierhaus, in dem die Leute ihr hart verdientes Geld wieder ausgaben. Als Mandela an die Macht gekommen ist, hat dieser Mann das Land verlassen, und das ehemalige Bierhaus ist verfallen. Ich dachte, dass das Gebäude ein geeigneter Ort für ein Community Center wäre, wo die Leute zusammenkommen können. Nachdem ich das Potenzial des Hauses erkannt hatte, bin ich mit dieser Idee nach Schweden zurückgekehrt.

In Schweden war ich Obfrau der Afro-Swedish Association. Ich habe den Mitgliedern die Lage geschildert und ihnen klar gemacht, dass die menschlichen und räumlichen Ressourcen für das Projekt vorhanden sind, und wir haben einen Förderantrag für die Renovierung des Gebäudes gestellt. In dieser Zeit war Südafrika ein Schwerpunktland der schwedischen Entwicklungszusammenarbeit. Ich war erfolgreich und bin mit dem Geld nach Südafrika zurückgekehrt. Dort habe ich einen Verein gegründet, um das Projekt durchzuführen. Der Vereinsvorstand bestand aus Geschäftsleuten, Lokalpolitikern und Menschen aus dem Township. Wir haben den Besitzer des Gebäudes ausfindig gemacht. Eine deutsche Familie hat das Projekt unterstützt und das Haus für uns gekauft. Nun konnte das Zentrum aufgebaut werden. So hat meine Arbeit als Sozialarbeiterin in Südafrika angefangen.

TT: Haben dich diese Erfahrungen motiviert, zurück nach Somalia zu fahren?

Wilo: Teilweise. Zum damaligen Zeitpunkt wäre es für mich unmöglich gewesen, nach Somalia zurückzukehren, weil die Gefahr zu groß war. Es wurden gezielt Menschen getötet, die sich aktiv für eine friedliche Entwicklung eingesetzt haben. Ich kann auch nur Unterstützung bekommen, wenn es im Land Frieden gibt und die Menschen darauf vertrauen können, dass mein Leben nicht Gefahr ist. Außerdem hätte mein Stamm wahrscheinlich gefordert, ihnen das Geld zu überlassen. Ich wollte aber keine schmutzige Arbeit machen, die ein System unterstützt, das Somalia in den Abgrund geführt hat. Ich will nicht Teil der Clanpolitik sein.

2012 war ich das erste Mal wieder in Somalia, aber ich habe gesehen, dass sich die Lage nicht verbessert hat und die verfeindeten Parteien nicht einmal miteinander redeten. 2013 bin ich noch einmal nach Somalia gereist und habe versucht, meinen Beruf zu erklären, habe aber wiederum Ablehnung erfahren. Hätte ich gesagt, ich sei Ärztin, wäre ich wahrscheinlich mit offenen Armen empfangen worden, aber was eine Sozialarbeiterin tun kann, hat man nicht verstanden. In dieser Zeit waren die Leute noch nicht bereit für so eine Art von Unterstützung. Soziale Arbeit als solche ist in Somalia nicht unbekannt, man unterstützt Bedürftige auf Basis von Familien- bzw. Clanzugehörigkeit oder man spendet im Namen der Religion. Die Menschen brauchen aber kein Almosen, sondern die Chance, sich weiterzuentwickeln. Was es in anderen Ländern gibt, aber in Somalia weitgehend unbekannt ist, sind Kooperativen, dass Menschen sich zusammenschließen und gemeinsam etwas aufbauen. Hier gibt es noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten, dass wir als Nachbarn zusammenarbeiten und an die Zukunft unserer Kinder denken sollten.

TT: Wie sieht deine derzeitige Arbeit aus?

Wilo: 2013 habe ich begonnen, zwei Organisationen aufzubauen, die Somali Youth Vision und Women in Blue. Den Namen Women in Blue habe ich gewählt, weil die somalische Fahne blau ist und sich die Frauen damit identifizieren. Es soll ausdrücken, dass Frauen unabhängig von Stamm oder Clanzugehörigkeit zusammenarbeiten können. Sie tragen jeden Freitag blaue Kleider als Zeichen dafür, dass sie gemeinsam in Frieden leben wollen. Es ist die Aufforderung: Nehmt eure Flagge, wo immer ihr hingeht, und zeigt, dass ihr als somalische Frauen einig seid und gemeinsam in Frieden leben wollt.

2016 habe ich angefangen, für das Justizministerium zu arbeiten. Mein Ziel war es, die Rechte von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Es ging um die Frage, wie man Kindern und Jugendlichen helfen kann, die im Gefängnis sitzen. Gibt es Anwälte für sie, gibt es unabhängige Richter, wie kann man sie wieder in die Gesellschaft integrieren? Seit 2017 arbeite ich auch für das Ministerium für Frauen und Menschenrechte, gleichzeitig habe ich meine Arbeit für die Jugendlichen fortgesetzt. Folgende Fragen habe ich immer verfolgt: Wie kann erreicht werden, dass die Justiz unabhängig ist und die Gesetze im ganzen Land geachtet und befolgt werden? Es müssen auch professionelle Sozialarbeiter ausgebildet werden, die sich um diese Jugendlichen und alle bedürftigen Menschen kümmern.

Mein Beruf ist meiner Meinung nach einer der wichtigsten, die Somalia heute braucht. Sozialarbeiter sind genauso wichtig wie Ärzte oder Polizisten, damit die Menschen unabhängig von Stämmen und Clans Begleitung und Information bekommen und ihre Rechte einfordern können. Zudem brauchen Kinder und Jugendliche Orte, an denen sie ungehindert spielen und sich treffen können. Früher gab es Spielplätze, Parks, Fußballplätze, Ferienlager und die UKO(1)-Jugendentren. Wir verlangen nichts Unmögliches, wir wollen nur etwas zurückbekommen, was es schon einmal gegeben hat. Die Gebäude existieren ja noch, nur sind sie jetzt in Privatbesitz. Das Ministerium, für das ich arbeite, versucht durchzusetzen, dass alle ehemaligen UKO-Gebäude an den Staat zurückgegeben werden, damit dort unabhängige Zentren für Kinder und Jugendliche aufgebaut werden können. Das Projekt gehört sogar zum Nationalen Entwicklungsplan.

Außerdem haben wir nach schwedischem Vorbild ein Curriculum für ein vierjähriges Bachelorstudium entwickelt, um Sozialarbeiter*innen auszubilden. Derzeit läuft der erste Jahrgang mit 270 Studierenden. Die Ausbildung wird zum Teil von UNICEF und zum Teil vom Ministerium für Frauen und Menschenrechte finanziert. Wir sind überzeugt: Wenn ein Teil der Gesellschaft diese Ausbildung erhält und es professionelle und ausgebildete Sozialarbeiter*innen gibt, die Menschen in sozialen Notlagen unterstützen können, wird dieser Beruf bekannt und anerkannt. Ohne ausgebildete Sozialarbeiter*innen werden wir nicht vom Clansystem wegkommen.

TT: Leute, die so eine Arbeit machen wie du, machen sich auch Feinde. In Kismayo wurde kürzlich die bekannte Journalistin Hodan Nalayeh von Terroristen ermordet.

Wilo: Bevor du mit dieser Arbeit beginnst, musst du das Risiko einkalkulieren. Wenn du etwas in Somalia aufbauen möchtest, bist du jede Stunde in Lebensgefahr. Ich musste abwägen: Was passiert, wenn ich nichts tue? Was passiert, wenn ich die Arbeit mache? Zum Schluss war mir klar, dass mir die Arbeit so wichtig ist, dass ich dieses Risiko in Kauf nehme.

TT: Elman Ali Ahmed und Starlin Abdi Arush haben sich vor dir für Frieden und Entwicklung eingesetzt, wurden jedoch ermordet. Was ist von ihrer Arbeit geblieben?

Wilo: Ja. Es gibt heute zwei große Organisationen, die ihre Arbeit weiterführen. Sie leisten eine unverzichtbare Arbeit.

TT: Wie ist die Sicherheitslage in Somalia heute? Kann die Regierung die Sicherheit der Menschen gewährleisten?

Wilo: Aber die Stadt ist zwei Teile getrennt, ein Teil wird von der Regierung kontrolliert und der andere von Alshabaab-Milizen, man ist aber weder da noch dort sicher. Dazwischen gibt es eine Grenze, die sich ständig ändert. Du kannst nie sicher sein, ob du am Abend auf demselben Weg nach Hause fahren kannst, auf dem du in der Früh zur Arbeit gekommen bist. Nicht einmal den Nachbarn kannst du vertrauen. Das hat zur Folge, dass sich die Leute sich gegenseitig misstrauen und in den Wohnungen einsperren.

TT: Die somalische Gesellschaft liebt Kunst und Sport, besonders die Musik. Wie geht es den Künstlern und Künstlerinnen heute?

Wilo: Es gibt heute neue Musiker und Musikerinnen, ich kenne sie aus dem Fernsehen. Ich muss aber sagen, dass die Qualität ihrer Lieder nicht mehr so gut ist wie vor 1991. Damals gab es ein Kulturministerium, das eine Agentur betrieben hat, um Talente auszubilden. Die Liedtexte stammten damals von bekannten Dichtern und die Melodien von berühmten Komponisten. Leider bekommen die Künstler und Künstlerinnen heute nicht dieselben Förderungen und Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln.

TT: Damals leisteten Sänger*innen und Musikgruppen auch Überzeugungsarbeit, um die Leute zu motivieren, ihr Land voran zu bringen. Ist es nicht viel schwieriger, ohne diesen Hintergrund etwas auf die Beine zu stellen?

Wilo: Das ist richtig. Wir vermissen diese Musiker und Musikerinnen so sehr. Wir leben in einer Zeit, in der man den Leuten Musik, Dichtung und Radiohören verbieten will, manche meinen sogar, es sei „haram“(2), somalisch zu sprechen. Die Künstler*innen von damals erfahren keinen Respekt, im Gegenteil, sie werden bedroht und sogar ermordet. Wir leben in einer Zeit der Verhinderung. Die Absicht dieser Menschenfeinde ist, zu verhindern, dass die Leute ihren Verstand und ihre Muskeln einsetzen, um sich abhängig zu machen. Man schränkt ihre Freiheit und ihr Wissen absichtlich ein. Wer ausspricht, dass sie damit die ganze Gesellschaft in die Irre und in die Dunkelheit führen, steht bei ihnen auf der Todesliste.

TT: Was denkst du, wenn du die Flüchtlinge siehst, die sich auf den Weg durch die Sahara machen, sich in Boote setzen, um das Mittelmeer zu überqueren, oder in libyschen Lagern gefangen gehalten werden?

Wilo: Unser Ministerium arbeitet mit dem UNHCR zusammen, damit die jungen Leute aus den Lagern in Libyen wieder zurückgeholt werden. Viele von ihnen sind gut ausgebildet, sprechen mehrere Sprachen, haben Uni-Abschlüsse. Viele kommen aus einem Haushalt, der von einer alleinerziehenden Mutter geführt wird. Diese Mütter haben alles getan, damit sie eine gute Ausbildung erhalten. Doch trotzdem haben sie keine Arbeit gefunden und sind so in den Lagern der Sklavenhändler gelandet. Die Regierung hat es verpasst, den jungen Leuten eine Möglichkeit zu bieten, ihr Wissen einzusetzen.

Von Afgooye bis Kismayo liegt ein Gebiet, das sehr fruchtbar ist und wo man alles anbauen kann, um die gesamte Bevölkerung Somalias zu ernähren. Doch die Bauern kultivieren hauptsächlich Zitronen und Sesam für den Export, und ich bin überzeugt, dass die Preise, die sie dafür erhalten, nicht fair sind. Die Menschen in Somalia können ihren Hunger nicht mit Zitronen oder Sesam stillen, sie brauchen Mais, Hirse, Bohnen, Kartoffeln. Dasselbe gilt auch für andere afrikanische Länder, wo die Felder voll mit Kakao oder Kaffee sind. Die Menschen in Afrika ernähren sich aber nicht von Kakao oder Kaffee.

TT: Wie lange wird es dauern, bis die somalischen Frauen aufstehen und für ihre Rechte kämpfen werden?

Wilo: Es ist wichtig, dass sich die Frauen, egal in welcher Position sie sich befinden, sichtbar machen. Frauen sind in allen Lebensbereichen stark benachteiligt. Im Vorstand des Handelsverband ist zum Beispiel nur eine einzige Frau, und auf dem Bakaaraha – dem größten Markt von Mogadischu – bekommen die Männer die besten Plätze. Wir Frauen müssen uns organisieren, uns gegenseitig unterstützen und dafür aufstehen, die Diskriminierung und Benachteiligung zu bekämpfen. Um ihre Kräfte zu bündeln, haben sich 350 Frauen aus ganz unterschiedlichen Berufen – Journalistinnen, Rechtsanwältinnen und Straßenverkäuferinnen – eine Organisation gegründet und einen Katalog mit Forderungen ausgearbeitet, der dem Ministerium vorgelegt wurde. So sieht meine Arbeit aus. Ich bin überzeugt, wenn wir Frauen etwas erreichen, trägt das zum Fortschritt der gesamten Bevölkerung bei.

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  1. UKO: Ubaxa Kacaanka Oktoobar (Blume der Oktoberrevolution): Siad Barre kam am 26. Oktober 1969 durch einen Militärputsch an die Macht. Er versuchte, in Somalia den Sozialismus aufzubauen und führte zahlreiche populäre Reformen durch.
  2. Haram: Nach islamischem Gesetz verboten

 


veröffentlicht in Talktogether Nr. 69/2019

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