Rojava - das Ende eines Traumes?
Freiheitsliebende Menschen auf aller Welt blicken heute besorgt nach Rojava. Für sie ist die mehrheitlich von Kurden bewohnte Region im Norden Syriens zum Hoffnungsschimmer geworden in einer Welt, in der gute Nachrichten so selten sind. Durch ihren mutigen und opferreichen Kampf gegen die IS-Dschihadisten, an dem auch zahlreiche unerschrockene Frauen beteiligt sind, haben die syrischen Kurden auf der ganzen Welt Sympathie und Bewunderung erworben. Doch die Mächte, die in der Region um Macht, geo-politischen Einfluss und Rohstoffe kämpfen, haben weder Mitgefühl für die kriegsgebeutelte Zivilbevölkerung, noch Interesse an demokratischer Selbstverwaltung.
Es ist ein Meer wehender Fahnen. Kurdische Männer und Frauen, viele von ihnen mit Kinderwägen, marschieren gemeinsam mit solidarischen Menschen auf den Straßen und schreien ihre Verzweiflung und Wut in die Welt hinaus. In ganz Europa und überall, wo Kurden und Kurdinnen leben, wurden Demonstrationen abgehalten, nachdem die türkische Armee unter dem zynischen Namen "Operation Friedensquelle" in Nordsyrien eingedrungen war. Bei vielen herrscht Angst um Angehörige, denn sie haben Familienmitglieder und Freunde in den betroffenen Gebieten. "Ich mache mir Sorgen und meine Schwester und ihre drei Kinder", erzählt eine Demonstrantin. "Wenn wir telefonieren, höre ich im Hintergrund die Bomben".
Der brutale Angriff lässt sie das Schlimmste befürchten, schließlich gehören die Söldner, die an der Seite der türkischen Armee kämpfen, zu den grausamsten Schlächtern, die die Welt je gesehen hat. An den Absichten des Angriffs lässt die türkische Regierung keinen Zweifel. Es geht darum, die Demokratischen Kräfte Syriens - ein Bündnis aus den kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG/YPJ mit arabischen und assyrischen Milizen - aus Nordsyrien zu verdrängen und eine Zone zu schaffen, in der syrische Flüchtlinge angesiedelt werden können. Aber was passiert mit den Menschen, die jetzt in diesen Gebieten leben? Dass jezidische, armenische und assyrische Menschen zu den ersten gehören, die aus ihren Dörfern vertrieben werden, lässt das keinen Zweifel daran, dass es sich nicht um humanitäre Hilfe, sondern um ethnische Säuberung handelt. Wohin sollten die Vertriebenen flüchten, wenn alle Grenzen geschlossen sind?
Gesellschaftlicher Aufbruch im Kriegsgebiet
Als der Bürgerkrieg in Syrien entbrannte, haben die Kurden die Gunst der Stunde genutzt, um ein selbstverwaltetes Gebiet in Nordsyrien einzurichten. Inmitten von Gewalt und Krieg ist es ihnen gelungen, eine Oase relativen Friedens mit demokratischen Strukturen und einer funktionierenden Verwaltung aufzubauen, die auch vielen Angehörigen religiöser und ethnischer Minderheiten Zuflucht bot, die vor den Massakern der mörderischen Banditen fliehen mussten, die man als ISIS, IS oder Daesh bezeichnet. Als die Terrormiliz im August 2014 im irakischen Sindschar einen Völkermord an der jezidischen Bevölkerung verübte, gelang es den YPG-Milizen, einen Korridor freizukämpfen, über den 10.000 Menschen flüchten konnten. In einer Zeit, in der weltweit reaktionäre Ideologien im Aufschwung sind, ließen auch die Anstrengungen aufhorchen, Rojavas Frauen in allen politischen und gesellschaftlichen Belangen gleichzustellen und basisdemokratische Strukturen aufzubauen.
In den Überlegungen der Mächte, die um die Kontrolle Syriens kämpfen, spielen jedoch weder der Wunsch des kurdischen Volkes nach kultureller Selbstbestimmung noch die Befreiung der Frau eine Rolle. Sowohl die USA und als auch Russland haben im UN-Sicherheitsrat durch ihr Veto gegen die Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffs bewiesen, dass sie beide Interesse an diesem Krieg haben, in dem es um nichts weniger geht als um die zukünftige Kontrolle der Region. Dass die Türkei gemeinsam mit den westlichen Staaten, Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten dschihadistische Gruppen benutzt hat, um das Assad-Regime zu stürzen, ist auch keine Spekulation mehr, sondern kann im Bericht des US-Verteidigungsnachrichtendienstes DIA nachgelesen werden, der auf Druck der Bürgerrechtsbewegung Judical Watch veröffentlich werden musste.
Während die Kurden hoffen, dass der Krieg bald zu Ende geht, wird in türkischen Moscheen für den Sieg der türkischen Invasoren gebetet. Erdogan und die türkische Regierung instrumentalisieren nicht nur die syrischen Flüchtlinge für ihre Aggressionspolitik, sondern setzen sie auch als Druckmittel gegen Europa ein. Dabei können sie sich auf die fehlende Bereitschaft Europas verlassen, sich mit den Opfern jener Politik auseinanderzusetzen, die es mitverursacht hat, und die es in elenden Flüchtlingslagern in Griechenland oder Bosnien in völliger Aussichtslosigkeit dahinvegetieren lässt. Trotzdem ist es problematisch, jetzt nach Sanktionen gegen die Türkei zu schreien, denn die Erfahrungen in anderen Ländern haben gezeigt, dass Wirtschaftssanktionen vor allem arme Menschen treffen. Damit ein Umdenken zu erzwingen, erscheint zudem wenig erfolgversprechend, da die meisten türkischen Parteien die Invasion befürworten.
Geschichte Kurdistans
Schätzungen zufolge gelten die etwa 35 Millionen Kurden als das weltweit größte Volk, dessen Angehörige nicht zumindest teilweise in einem eigenen, international anerkannten Staat leben. Sie sprechen eine nordiranische Sprache, die jedoch in unterschiedliche Sprachgruppen und Dialekte aufgeteilt ist, und sind mehrheitlich sunnitische Muslime, es gibt aber auch Aleviten in der Türkei und Jeziden im Irak und in Syrien. Ihr Siedlungsgebiet erstreckt sich über vier Staaten: Sie leben im Süden der Türkei, im Nordirak, im nördlichen Syrien und im westlichen Iran. Auch in Armenien, Aserbaidschan, Georgien und im Libanon gibt es relativ große kurdische Minderheiten.
Die Kurden leben in einem der ältesten Kulturräume der Menschheit. Vor über viertausend Jahren wurde das Volk in sumerischen Texten erwähnt. Die kulturellen Wurzeln dürften in altiranischen und altindischen Zivilisationen begründet sein, worauf insbesondere die große Bedeutung des Newroz-Festes hinweist, das in allen iranischen Kulturen gefeiert wird. In Europa wurden die Kurden vor allem durch Karl Mays Abenteuerbuch "Durchs wilde Kurdistan" bekannt.
Seit der Ausbreitung des Islams im 7. Jahrhundert ist die Geschichte der Kurden auch an Hand von Dokumenten nachvollziehbar. Die Kurden wurden islamisiert, und es bildeten sich verschiedene Fürstentümer, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in relativer Autonomie existierten. Da die Trennlinien der Staaten fließend verliefen, zogen die nomadisch lebenden kurdischen Hirten unbehelligt von einer Seite auf die andere. Im 19. Jahrhundert traten im Osmanischen Reich jedoch Reformen in Kraft, die den Einfluss der lokalen Machthaber schwächten. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg legten Persien und die Türkei erstmals einen genauen Grenzverlauf fest.
Unterdrückung und Aufstände
Im Ersten Weltkrieg schlug sich das Osmanische Reich auf die Seite der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn. Die Kriegsgegner England, Frankreich und Russland versuchten das Vielvölkerreich von innen zu spalten, indem sie den nichttürkischen Volksgruppen die Unabhängigkeit versprachen. Nach der Niederlage der Mittelmächte musste das Osmanische Reich viele seiner Gebiete abgeben, im Vertrag von Sèvres wurde den Kurden ein eigener Staat versprochen, die erdölreiche Region um Mosul unter britisches Mandat gestellt.
General Mustafa Kemal führte die türkische Nationalbewegung und den Befreiungskrieg gegen die Besatzer an. Dabei wurde er auch von kurdischen Truppen unterstützt, denen er einen eigenen Staat versprochen hatte. Kaum war die türkische Republik gegründet und im Vertrag von Lausanne von den Alliierten akzeptiert worden, war von einem unabhängigen Kurdistan aber keine Rede mehr, und ihr Gebiet wurde zwischen der Türkei, dem Irak und dem Iran aufgeteilt. Die Kurden fühlten sich betrogen und riefen 1927 die Republik Ararat im Osten der Türkei aus, der Aufstand wurde jedoch 1931 von der türkischen Regierung militärisch niedergeschlagen.
Nationalismus war das prägende Element der modernen Türkei. Jede Abweichung von der türkisch-sunnitischen Nationalidentität wurde gewaltsam unterdrückt. Nicht-Muslime wurden durch gezielte Gesetze ausgegrenzt und enteignet, was Massenauswanderungen zur Folge hatte. Kurden und Aleviten wurden zwar nicht vertrieben, sollten aber ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Geschichte und ihre religiösen Eigenheiten aufgeben. Als alevitische Kurden in Dersim 1938 gegen die Zwangsassimilierung rebellierten, schlug die türkische Regierung den Aufstand mit massiver Gewalt nieder, mehr als 13.000 Menschen wurden getötet, zahlreiche Dörfer zerstört und bis zu 50.000 Menschen zwangsumgesiedelt. 2011 entschuldigte sich die türkische Regierung bei den Opfern des Massakers, der Völkermord an den Armeniern, der im Ersten Weltkrieg - vor den Augen Deutschlands - stattgefunden hatte, wird jedoch bis heute geleugnet.
Im Irak wurde den Kurden mehr kulturelle Eigenständigkeit zugestanden, allerdings nur so lange, solange sie nicht mit den Machthabern in Widerspruch kamen. Am Ende des Ersten Golfkriegs griff die Armee Saddam Hussein die Stadt Halabdscha, die ein Zentrum der Autonomiebestrebungen gegen die Regierung in Bagdad war, mit Giftgas an, wobei bis zu 5000 Menschen ums Leben kamen. Schon vor dem Massaker haben Menschenrechtsorganisationen mehr als 40 deutschen und europäischen Firmen vorgeworfen, für die Kriegsverbrechen im Irak mitverantwortlich zu sein, da sie sich am Aufbau der Giftgasanlagen beteiligt hatten. Heute profitieren die Kurden in Nordirak von der Autonomie, die 2003 in die irakische Verfassung geschrieben wurde, sowie von einem durch den Ölboom wachsenden Wohlstand.
Der Traum vom freien Kurdistan
In der Geschichte gab es mehrere Versuche, unabhängige kurdische Staatsgebilde einzurichten, die jedoch nur von kurzer Dauer waren. 1923 wurde in der ehemaligen UdSSR die autonome Region Kurdistana Sor (Rotes Kurdistan) gegründet, die jedoch 1929 wieder aufgelöst wurde. Das nordirakische Königreich Memlekey Kurdistan unter König Mahmud Barzandschi existierte von 1922 bis 1924. Nach dem Zweiten Weltkriegs wurde 1946 im äußersten Nordwesten des zu jenem Zeitpunkt teils von den Briten teils von der Sowjetunion besetzten Iran die kurdische Republik von Mahabad ausgerufen, die jedoch nur elf Monate bestand. Einen unabhängigen Staat streben heute nur noch wenige an, zumal in diesem Gebiet seit Jahrhunderten verschiedene Völker und Kulturen zusammenleben. Zudem ist der Nationalismus in einer globalisierten Welt zweifellos ein zu enges Korsett geworden. Der bislang letzte Versuch, die Fremdbestimmung abzuschütteln, ist die Errichtung des selbstverwalteten Rojava. Leider ist zu befürchten, dass dieses Experiment nach dem türkischen Angriff - unabhängig vom Ausgang der Auseinandersetzung - auch bald zur Geschichte gehören wird.
Problematische Allianzen, Verrat und Heuchelei
Nun wird über Verrat der USA geklagt, die ihre Verbündeten im Stich gelassen haben. Erneut müssen die Kurden die bittere Lektion lernen, dass Freundschaft und Dankbarkeit nicht zu den Kategorien internationaler Politik zählen. Wenn es auch naheliegend und legitim ist, sich in einem ungleichen Kampf Verbündete zu suchen, hätte den syrischen Kurden klar sein müssen, dass die NATO-Partner ihr Bündnis nicht aus Sympathie für eine unterdrückte Nation aufgeben würden.
Heuchlerisch ist die Haltung der EU. Die Waffenlieferungen an die Türkei haben in den letzten Monaten Rekordausmaße erreicht, obwohl bekannt war, dass die Türkei diesen Angriff schon seit Langem geplant hat. Und auch jetzt kann sich Deutschland nicht dazu durchringen, auf das gewinnbringende Geschäft ganz zu verzichten. Während deutsche Politiker*innen Empörung heucheln, werden kurdische Aktivist*innen in die Türkei abgeschoben und Demoteilnehmer wegen des Tragens einer YPG-Fahne vor Gericht gestellt. Man hat den kurdischen Milizen aber gerne die Aufgabe überlassen, Tausende gefangene Terroristen und ihre Familien zu bewachen, unter denen sich zahlreiche EU-Bürger*innen befinden. Europa hat es versäumt, diese Menschen zurückzuholen und vor Gericht zu stellen, so dass diese nun wieder freikommen und ihre menschenverachtende Ideologie verbreiten können.
Im Nahen Osten, in Afghanistan, im Jemen und in Somalia wachsen Generationen heran, die in ihrem Leben nichts anderes kennengelernt haben als Krieg, Gewalt, Hunger und Flucht. Im Iran, im Irak, im Libanon, in Algerien, in Haiti, in ganz Südamerika und vielen anderen Ländern gehen immer mehr Menschen auf die Straße, weil die Lebensumstände für sie immer unerträglicher werden. Nicht nur in Kurdistan, sondern auf der ganzen Welt sehnen sich die Menschen nach einem Leben in Frieden, Demokratie, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit, und sie alle brauchen unsere Solidarität!
veröffentlicht in Talktogether Nr. 70/2019