Kinder der Zukunft - Zukunft unserer Kinder PDF Drucken E-Mail

Kinder sind  unsere Zukunft –

aber wie gehen wir mit ihnen um?


Erziehung
bedeutet, im jungen Menschen Verhaltensweisen zu entwickeln, die ohne diese Einflussnahme nicht zustande kämen. Um auf das Kind einzuwirken, übt der Erzieher Macht über das Kind aus. Ist Erziehung ein notwendiges Übel, um das Kind auf das Leben vorzubereiten? Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire hielt Erziehung für ein Instrument der Domestizierung und Abrichtung für die Unterdrückung. „Wenn wir behaupten, Kinder müssten erzogen werden, unterstellen wir, dass sie als fehlerhafte Menschen zur Welt kommen“, meint auch der Kindheitsforscher Michael Hüter, der Erziehung als einen Akt der Gewalt und Demütigung ansieht. Könnte die Beziehung zwischen den Generationen nicht auch ganz anders aussehen?

Erziehung und Ideologie

Um sie zu guten Soldaten und Mitläufern zu erziehen, forderte das NS-Regime Mütter dazu auf, die Bedürfnisse ihres Kindes gezielt zu ignorieren und Körperkontakt zu vermeiden. In ihrem 1934 veröffentlichten Ratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ empfahl die Ärztin Johanna Haarer den Müttern, ihr weinendes Kind nicht aus dem Bett herauszunehmen, es nicht auf dem Schoß zu halten oder zu stillen, damit es nicht verwöhnt und verweichlicht wird. Das Kind gewöhnt sich an diese Frustration, nur hat es dann bereits viel Vertrauen verloren.

Diese Erziehungsmethoden, die bei den betroffenen Kindern zu emotionaler Distanz und Bindungsunfähigkeit führen können, wurden jedoch keineswegs nur von Johanna Haarer vertreten, sie waren auch keine Erfindung der Nazis, sondern lagen damals wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit. Haarers Erziehungsschriften erschienen auch nach dem Krieg in „bereinigter Fassung“ noch bis in die 1970er Jahre in immer neuen Auflagen und wurden in Hauswirtschaftsschulen sogar als Lehrbuch verwendet. Wenn eine ganze Generation systematisch dazu erzogen wurde, keine Bindungen zu anderen aufzubauen, wie konnte sie es ihren Kindern oder Enkelkindern beibringen?

Um die Kinder zum Sozialismus zu erziehen und die Frauen in die industrielle Produktion einzubinden, wurden in der Sowjetunion ganztägige Kinderkrippen und Kindergärten eingerichtet, die gut ausgestattet waren. Dass dieses Programm aber nicht so emanzipatorisch, sondern in Wahrheit frauenfeindlich war, offenbart sich in einer Aussage von Alexandra Kollontai, die als Volkskommissarin für soziale Fürsorge die kollektive Kindererziehung vorschlug. Die gesellschaftliche Verpflichtung der Mutter bestehe nur darin, gesunde Kinder zu produzieren und sie an der Brust zu stillen, sobald sie diese Rolle erfüllt habe, solle sie ihr Kind den Experten überlassen. Man kann sich vorstellen, wie abschreckend diese Aussage war. Nicht nur, weil man Kinder mit Zwang von ihren Müttern trennen wollte, sondern auch, weil man den Frauen keinerlei erzieherische Kompetenz zugestand. Statt die Frauen wie früher an den Herd zurückzuschicken, sagte man nun „Gehe an deinen Hochofen zurück“. Kinder gehören aber weder den Eltern noch dem Staat, sondern nur sich selbst.

Kindheit im Neoliberalismus

Heute sind wir Knechte einer anderen Ideologie, der des Neoliberalismus. Unser System zerstört nicht nur unsere Umwelt, sondern zunehmend auch unsere Kinder, warnt der Kindheitsforscher Michael Hüter. Obwohl in Europa materieller Wohlstand und Frieden herrschen, geht es den Kindern so schlecht wie schon lange nicht mehr. Immer mehr Kinder sind aggressiv, leiden unter Depressionen, Autismus und anderen Störungen, weil ihnen ein kindgerechtes Aufwachsen verwehrt wird. Wenn man dem Forscher glaubt, sind nur 15-20 Prozent der Kinder einigermaßen gesund (2). Wir verheizen die Kinder in ein defizitäres Bildungs- und Betreuungssystem, beklagt Hüter, damit die Eltern für wenig Geld viel arbeiten können, nur um ein Wirtschaftssystem aufrechtzuerhalten, das zum Scheitern verurteilt ist. In der Schule gehe es weniger um Bildung, so Hüter, als darum, die herrschende Ideologie durchzusetzen. Im Namen von Effizienz und Ideologie werde den Kindern die natürliche Wissbegierde und Vitalität ausgetrieben. Außerdem haben Kinder heute immer weniger Zeit zum Spielen. Wenn Kinder ständig unter Aufsicht stehen und nach der Schule auch noch zur Nachhilfe oder zum Sport- und Musikunterricht müssen, ist es kein Wunder, wenn sie unter Stress leiden.

Hüters Aussagen sind natürlich einseitig und ungerecht, weil er meint, dass Kinder in der Familie alles für das Leben lernen, und Kindergärten oder Schulen überflüssig seien. Er ignoriert die ernsthaften Bemühungen vieler Pädagogen und erfolgreiche Reformprojekte. Zudem übersieht er, dass sich ohne Schulen in einer Klassengesellschaft wie unserer die Bildungsunterschiede nur noch weiter vertiefen würden. Eine Rückkehr in den Schoß der Großfamilie oder der Dorfgemeinschaft, wo sich alle um die Heranwachsenden kümmern, ist ja ziemlich unrealistisch. Trotzdem werfen Hüters Thesen wichtige Fragen auf und fordern zum Nachdenken über neue Wege in der Begleitung von Kindern auf. Ein gesundes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen ist jedenfalls angebracht, denn die Schule ist heute tatsächlich zu einer maßgebenden Agentur des Neoliberalismus geworden, indem sie Schüler zu Konkurrenten macht. Der Individualismus und der ständige Druck, an sich selbst zu arbeiten, überfordert die Menschen jedoch und machen sie letztlich krank und einsam.


Collin Key: Ghotul der Muria - ein Haus, in dem die Kinder regieren
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http://www.collin-key.com/portfolios/muria-ghotul/

 

Erziehung in Freiheit

Der Schotte Alexander Sutherland Neill wird als Vater des antiautoritären Erziehungsstils angesehen. Neills Überzeugung war, dass Kinder von Geburt an fähig zu Liebe und Empathie sind, doch diese natürlichen sozialen Empfindungen durch eine autoritäre Erziehung nach und nach abgetötet werden. Eine moderne Schule sollte seiner Meinung nach als Schutzraum fungieren, um die junge Generation vor dem schädlichen Einfluss der Gesellschaft zu verschonen. Um zu beweisen, dass Kinder ihre eigenen natürlichen Regeln und Grenzen finden, wenn man sie diese selbständig finden lässt, eröffnete er 1921 die demokratische Schule in Summerhill, die sich auf Problemkinder spezialisierte, die an anderen Schulen faul, träge und asozial erschienen. Neill legte drei Hauptprinzipien für seine Schule fest: Selbstverwaltung, selbstbestimmtes Lernen und die Freiheit von Moralvorstellungen. Die Abwesenheit von Hierarchien ist jedoch nicht mit Regellosigkeit gleichzusetzen. Gegenseitige Achtung und Souveränität bedeuten nämlich, dass Kinder und Erwachsene die gleichen Rechte haben.

Auf die Frage, wie er seine Schüler an die Plackerei des Lebens anpassen könnte, antwortete Neill, dass er hoffe, dass seine Schüler dazu beitragen würden, diese Plackerei abzuschaffen. In seiner fünfzigjährigen Tätigkeit in Summerhill gelang es ihm nachzuweisen, dass die in der bürgerlichen Familie entwickelten Autoritätsverhältnisse die Entstehung autoritärer Charaktere begünstige, die den Nährboden für den Faschismus geliefert haben. Summerhill existiert nun schon seit fast 100 Jahren und ist seit dem Ausgang eines Gerichtsprozesses zugunsten der Schule nicht mehr von der Schließung bedroht. Im Internat wachsen derzeit rund 75 Jugendliche verschiedener Nationen auf.

Natürliches Aufwachsen

Ursprünglich lebende Gemeinschaften kennen weder Schulen noch Kindergärten. Kinder lernen spielerisch, indem sie die Erwachsenen überallhin begleiten. Es gibt keine autoritären Verbote, und die Kinder können sich auf die Unterstützung der Erwachsenen jederzeit verlassen. Natürlich gibt es Regeln, aber nicht, um eine bestimmte Form der Kultur zu zelebrieren, sondern aus reiner Notwendigkeit. Der Sozialethnologe Branislaw Malinowski, der von 1915 bis 1918 auf den Trobriand-Inseln lebte, war beeindruckt von deren Bewohner*innen, bei denen keine Anzeichen von Neurosen oder Gewalttätigkeit feststellen konnte. Den Grund sah er darin, dass Sexualität nicht – wie in Europa – verdrängt wurde, sondern zum Alltag der Menschen gehörte. Den Heranwachsenden standen sogar eigene Häuser zur Verfügung, wo sie ihre Sexualität spielend ausprobieren konnten. Dies wurde von der Gemeinschaft gefördert und als wichtiger Schritt zum Erwachsenwerden betrachtet.

Eine ähnliche Einrichtung existiert bei den Gond, eine Gruppe indigener Völker in Zentralindien: Der Ghotul, ein gemeinsames Haus für Jugendliche, zu dem Erwachsenen der Zutritt verwehrt bleibt, und wo Jugendliche voneinander lernen und mit ihrer Sexualität experimentieren können. K. L. Kamat beschreibt seine Eindrücke: „Die Anthropologen glauben, dass der Ghotul eine archaische Einrichtung ist. Er ist eine lebendige Universität. Es gibt keine Bücher oder Prüfungen, der Unterricht ist eine Ausbildung für das Leben. Die Studenten sind Lehrer, und die Lehrer Studenten. Es ist ein wahres Wunderwerk. Typischerweise liegt der Ghotul außerhalb des Dorfes. Lange bevor im Westen Universitäten zur Regel wurden, haben die Adivasi einen Teil des Landes für die Erziehung der Jugendlichen reserviert. Im Garten wird Gemüse gepflanzt, und die Kinder werden ins Gemeinschaftsleben eingeführt. […] Nachdem es im Ghotul keine Lehrer gibt, existiert auch die Vorstellung nicht, dass Lehrer und Schüler unterschiedlichen Generationen angehoren. (3)

Kinder sind fähig, Verantwortung zu übernehmen, wenn man sie nur lässt. Wenn man jedoch aus dem Lernen und dem Leben zwei getrennte Bereich macht, raubt man den Kindern die Möglichkeit, aufgrund eigener Erfahrungen unabhängig zu werden. Was ist denn falsch daran, wenn bereits Kindergartenkinder ihrem Alter angemessene Arbeiten verrichten, zum Beispiel nach dem Essen das Geschirr abzuwaschen oder Gemüsebeete zu gießen, wie es in China zu Maos Zeiten üblich war? Würden Schulkinder ihre Klasse selbst reinigen, hätten wir wohl weniger Jugendliche, die rücksichtslos ihren Müll hinterlassen. Ähnlich wie im damaligen China gehört es in den Waldorfschulen auch heute noch zum pädagogischen Konzept, die Schüler*innen in die Arbeitswelt einzuführen, was auf die sozialistischen Elemente in Rudolf Steiners Ideen hinweist.

Kinder der Zukunft

Die herablassenden Äußerungen mancher Politiker gegenüber der Fridays for Future-Bewegung sind Ausdruck für die Missachtung, die unsere Gesellschaft der Jugend entgegenbringt. Um die gewaltigen Herausforderungen zu meistern, die wir den nachfolgenden Generationen hinterlassen, brauchen wir aber keine unterwürfigen und autoritätshörigen Kinder, sondern neugierige, empathische und verantwortungsbewusste Menschen, die den Mut haben, Risiken einzugehen und neue Wege zu beschreiten. Im notwendigen „Kampf gegen Rechts“ helfen weder Proklamationen noch eine oberflächliche Symptombekämpfung, sondern wir müssen das Problem an der Wurzel angehen. Und das beste Mittel zur Vorbeugung von Extremismus ist es nun einmal, die Bedürfnisse von Kindern zu achten, damit sie zu gesunden und selbstbewussten Menschen heranwachsen können.

Es ist unmöglich, in die Vergangenheit zurückzukehren, wir können aber aus den unterschiedlichen Erfahrungen lernen und daraus neue Konzepte entwickeln, damit wir Unterdrückung, Elend und Hass eines Tages überwinden und einer Gesellschaft näher kommen können, in der, wie Erich Fromm (4) es formulierte, „sich niemand mehr bedroht fühlen muss: nicht das Kind durch die Eltern; nicht die Eltern durch die über ihnen Stehenden; keine soziale Klasse durch eine andere; keine Nation durch eine Supermacht.“ Dabei sollte alles von allergrößtem Interesse für uns sein, was uns zu verstehen hilft, wie wir in das – politische, wirtschaftliche, soziale, ökologische und psychische – Dilemma geraten sind, in dem wir uns heute befinden.

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veröffentlicht in Talktogether Nr. 70/2019

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