Psychodrama: Das Theater als Therapiemethode
"Das Ziel der verschiedenen Methoden ist nicht, die Patienten in Schauspieler zu verwandeln, sondern sie dazu zu bringen, auf der Bühne das zu sein, was sie sind, nur tiefer und klarer, als sie im wirklichen Leben erscheinen.“ (J.L. Moreno1959)
„Psychodrama ist ein natürlicher und spontaner Vorgang. In jedermann Geist läuft bisweilen ein inneres Drama ab. In dieser geheimen Szene sind wir der Star einer Psychodrama-Sitzung, und sämtliche Rollen spielen wir selbst. Die anderen, denen wir in diesem Monodrama begegnen, sind vielleicht unsere Eltern, ein Arbeitgeber, ein Gott, den wir verehren oder der uns verlassen hat, unsere Ehefrau oder eine Geliebte, die uns abgewiesen hat oder mehr verlangt, als wir zu geben bereit sind. Die anderen, oder wie wir sie im Psychodrama nennen, unsere Hilfs-Ichs, sind vielleicht keine wirklichen menschlichen Gegenspieler, sondern irgendein idealer Jemand oder ein Etwas, das wir uns wünschen, aber nicht erlangen können: ein unerfüllter Traum, ein Verlangen nach Ruhm oder Reichtum.“ (1)
Mit diesen Worten beginnt das erste Kapitel des Buches von Lewis Yablonski, in dem er über seine Ausbildung beim berühmten Professor Jacob Levy Moreno in New York und seine Erfahrungen schreibt, die er mit der Psychodrama-Therapie gemacht hat. Jeder Mensch kennt die Dramen, die sich im eigenen Kopf, in der Phantasie abspielen. Psychodrama ist mehr als eine Therapieform, Yablonski bezeichnet die – oft erhebliche – therapeutische Wirkung sogar als Nebenergebnis. Denn das Psychodrama erzeugt Erlebnisse, die persönliche und gesellschaftliche Änderungen herbeiführen können.
Im Psychodrama spricht der Einzelne nicht nur über seine Konflikte und seelischen Leiden, sondern er erlebt sie mit dem ganzen Körper und mit allen Sinnen in einer Situation, die seiner Lebenssituation angenähert ist. Unterdrückte Emotionen wie Hass und Liebe können auf der Stelle ausgelebt und agiert werden. Er erlebt sein Leiden nicht in einer künstlichen Situation, sondern in direkter Beziehung zu jener Person, die sein Leiden verursacht oder dazu beigetragen hat.
Die Auflösung seiner Konflikte erfordert nicht notwendig eine ausführliche Analyse, weil er seine Gefühle ja direkt an Ort und Stelle erlebt. Die Beteiligung an einem Psychodrama, löst starke Gefühle aus, und das nicht nur bei den Protagonisten, sondern vielfach auch bei den Zuschauer*innen, die sich mit den agierenden Personen identifizieren. Das Psychodrama hat viel Ähnlichkeit mit einem wirklichen Theaterstück, doch im Unterschied dazu ist die Handlung nicht vorgegeben, sondern wird von den Spielenden selbst gesteuert. Der Protagonist im Psychodrama hat die „Wahrheit“, das, was er sieht und subjektiv empfindet, vollständig in der eigenen Hand. Er hat das Recht, die Wirklichkeit mit seinen Augen zu sehen.
Die Analyse erfolgt nicht abstrakt und theoretisch, sondern auf lebendige Weise, indem der Protagonist seine Emotionen auslebt. Man geht davon aus, dass er besser lernen und umlernen kann, wenn er eine wichtige Szene aus seinem Leben eindringlich nacherlebt, dann ist es oft nicht einmal mehr nötig, dass er die Einsicht oder Katharsis (2) verbalisiert. Viele Probleme, die durch Besprechen allein nicht gelöst werden können, können auf der Lebensbühne mit Hilfe anderer Menschen gelöst werden. Das Nachspielen der traumatischen Erlebnisse schafft manchmal erst die Voraussetzung, die Probleme gedanklich zu ordnen und in Worte zu fassen. Deshalb wird das Psychodrama häufig auch in Kombination mit anderen Formen der Therapie eingesetzt.
Die psychodramatische Situation bietet ihm die Gelegenheit, sein inneres Drama gefahrlos zu erkunden und zu spielen, was er im wirklichen Leben nicht tun kann, z.B. Neid, Hassgefühle oder Wut herauszulassen, zu schimpfen, mit Schaumgummischläger symbolisch auf eine Person einzuschlagen, ja sogar eine Person umzubringen und wieder auferstehen zu lassen. Denn Depressionen werden dadurch hervorgerufen, dass die Wut nicht herausgelassen, sondern nach innen – gegen sich selbst – gerichtet wird.
Auch durch das Zuschauen wird viel gelernt.
Schüchterne Menschen, die sich normalerweise dagegen sperren, in einer Gruppe aus sich herauszugehen, werden durch die beobachtende Teilnahme einer intensiven Psychodrama-Sitzung zur eigenen Aktivität angeregt. Eine bestimmte bedeutungsvolle Situation kann vergrößert werden, damit der Protagonist und die Gruppe eine deutliche Ansicht bekommen – wie unter dem Mikroskop. Die TeilnehmerInnen lernen sich mit all ihren Facetten zu sehen, in einer Situation, in der Irrtümer und Fehlverhalten keine zerstörerischen Folgen haben wie im wirklichen Leben. Dieses Erkunden bewirkt im Nachhinein, dass die Teilnehmer später auch schöpferischer, erfinderischer und spontaner in ihren wirklichen Sozialbeziehungen werden.
Das Psychodrama bietet die Gelegenheit, verschiedene soziale Rollen zu spielen und so Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu erfahren. Das kann nicht nur helfen, persönliche Probleme zu lösen, sondern kann auch gesellschaftliche Folgen haben. Das Psychodrama bietet die Gelegenheit, das Leben in einer Vielfalt neuer Situationen kennenzulernen und neue Verhaltensweisen auszuprobieren und damit zu experimentieren. Manchmal kann es auch zu einer Betrachtung und neuen Erkenntnissen über das Dilemma einer ganzen Gesellschaft führen, also wie ein mitreißendes Bühnenstück zu einer philosophischen Erschütterung führen. Psychodrama ist also eine Methode, die nicht nur zur Lösung von persönlichen Lebensproblemen hilft, sondern auch Wirkungen hat, die darüber hinaus gehen. Ein Psychodrama-Regisseur ist sich der Tatsache bewusst, dass die Änderung einer individuellen Rolle in einer Gruppe immer auch die gesellschaftliche Umgebung beeinflusst.
Warum Psychodrama?
Das Psychodrama eröffnet durch das Nachspielen von Szenen und Rollenspiele die Möglichkeit, Hemmungen und Blockaden zu überwinden, unbewusste und unterdrückte Gefühle an die Oberfläche zu bringen und zu bearbeiten. Der Protagonist wird durch die Gruppe gestärkt und erkennt, dass er mit seinen Problemen nicht allein ist. Im Psychodrama spricht der Einzelne nicht nur über die Konflikte und seelischen Leiden, sondern erlebt mit dem ganzen Körper und mit allen Sinnen eine Situation, die seiner Lebenssituation angenähert ist. Der Protagonist hat das Recht, die Wahrheit mit seinen Augen zu sehen. Der Rollentausch ermöglicht, Konflikte auch aus der Perspektive des Gegenübers zu betrachten. Das Psychodrama bietet die Gelegenheit, neue Verhaltensweisen auszuprobieren und damit zu experimentieren.
Die Auflösung seiner Konflikte erfordert nicht notwendig eine ausführliche Analyse, weil der Protagonist seine Gefühle direkt an Ort und Stelle erlebt (vgl. Yablonsky 1978, S. 9). Die Beteiligung an einem Psychodrama löst nicht nur bei den Protagonist*innen starke Gefühle aus, sondern auch bei den Zuschauer*innen, die sich mit den Personen auf der Bühne identifizieren. Menschen, die Scheu davor haben, sich in einer Gruppe zu präsentieren, können durch die beobachtende Teilnahme an einer intensiven Psychodrama-Sitzung zur eigenen Aktivität angeregt werden. Viele Probleme können auf der Bühne mit der Hilfe anderer Personen (Hilfs-Ich, Double) gelöst werden.
Grundelemente des Psychodramas
Der Protagonist repräsentiert die Gruppe, er ist der Star, seine Probleme werden dargestellt.
Der Regisseur hat drei Funktionen: Er ist Spielleiter, Therapeut und Analytiker.
Die Hilfs-Ichs sind Gruppenmitglieder, die in der Sitzung dem Regisseur und dem Protagonisten als „verlängerter Arm“ dienen, sie schlüpfen in Rollen, die der Protagonist für die Darstellung seines Problems benötigt.
Methoden und Techniken
Rollentausch: Wenn der Protagonist die Rolle eines für ihn wichtigen Anderen spielt, kann er allmählich Verständnis für die Position des anderen und für seine Reaktionen in der Situation bekommen. Es hilft dem Protagonisten, sich selbst wie in einem Spiegel zu sehen und spontaner zu werden, weil er ihn aus seinen gewohnten Abwehr-haltungen herausreißt. Der Rollentausch bewirkt, dass jemand aus sich selbst herausgeholt wird, um so sich selbst aus dem Blickwinkel der anderen betrachten zu können.
Das Double: Das Double oder der Doppelgänger sitzt dicht beim Protagonisten und versucht, körperlich und emotional dessen Haltung anzunehmen. Das Double verstärkt das Spiel des Protagonisten und fügt der Szene oft eine weitere Dimension hinzu. Das Double kann dem Protagonisten helfen, Gefühle der Angst, des Hasses oder der Liebe zu äußern, die er selbst nicht auszusprechen vermag.
Der Monolog: Der Protagonist spricht seine Gedanken in einer Szene laut aus. Der Monolog gleicht dem Verfahren der „freien Assoziation“ in der Psychoanalyse, ist jedoch in den Kontext einer aktuellen Situation eingebunden.
Die Zukunftsprobe: Der Protagonist spielt, unterstützt durch Hilfsdarsteller und die Gruppe, eine wichtige Situation, die ihn in der Zukunft erwartet. Die Zukunftsprobe soll den ihn auf die erfolgreiche Bewältigung einer zukünftigen Situation vorbereiten.
Spiegeln: Bei dieser Methode spielt das Hilfs-Ich jemanden, der nicht gewillt oder fähig ist, selbst zu spielen, springt sozusagen für ihn ein. Der Protagonist sieht zu und immer wird dazu ermutigt, die Spiegelung durch den Hilfsdarsteller zu kommentieren und auf sie zu reagieren.
Erfinden neuer Methoden: Methoden und Techniken werden der Gruppe nicht diktiert, sondern können nach den Anweisungen der Gruppe modifiziert werden.
Mit dem Theater die Gesellschaft verändern?
Geboren wurde Jacob Levy Moreno 1889 in Bukarest. Als er fünf Jahre alt war, übersiedelte die Familie nach Wien. Schon während seines Medizinstudiums entwickelte Moreno großes Interesse am modernen Theater und gründete 1923 ein experimentierfreudiges Stegreiftheater. Durch die Beobachtung spielender Kinder im Wiener Augarten erkannte er die Wichtigkeit von Spontaneität und Kreativität. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete er als Arzt im Flüchtlingslager Mitterndorf, in dem zum Teil verheerende Zustände herrschten. Dort entwickelte er erste Ansätze seiner späteren Methode der Soziometrie. Der Psychoanalyse von Sigmund Freud, die damals ebenfalls noch jung war, stand Moreno stets skeptisch gegenüber, da er sie als lebensfern empfand. Seine Methode des Psychodramas konzipierte daher als Gegenentwurf zur Theorie Freuds.
1925 reiste er in die Vereinigten Staaten, wo er dann auch blieb. Seine Arbeit mit Kindern und seine Studien mit Strafgefangenen fanden dort bald Resonanz. 1936 übernahm er eine kleine psychiatrische Klinik in Beacon, in der er seinen therapeutischen Ansatz des Psychodramas (Psychotherapie mittels Stegreifspiels) zur Reife weiterentwickelte. Moreno hat sich das Psychodrama aber nicht nur für den klinischen Bereich vorgestellt, sondern auch für Menschen im pädagogischen Bereich, am Arbeitsplatz oder an allen Orten, wo Menschen einander begegnen.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgte auch der brasilianische Theatermacher Augusto Boal. Mit dem Forumtheater entwickelte er eine Form des interaktiven Theaters, das für alle erreichbar sein soll und den Menschen Spielräume eröffnen möchte, um Lösungsmöglichkeiten für Probleme und soziale Konflikte zu erproben. Das Publikum tritt dabei aus seiner passiven Rolle heraus, greift in die Handlung ein und versucht, die unterdrückende Situation in eine andere Richtung zu lenken. Boals „Theater der Unterdrückten“ kombiniert somit Kunst und Selbsterfahrung mit politischem Probehandeln und bietet viele Möglichkeiten, im Alltag oft unterdrückte soziale und kommunikative Ressourcen zu aktivieren. Inwieweit kann Theater Veränderung bewirken, und wo liegen die Grenzen des Theaterspiels? Moreno meinte dazu: „Wir alle spielen immer noch unser Stück jeden Tag in diesem Theater, obwohl wir nicht wissen, dass wir es spielen. Wir haben unsere Bühnen überall aufgeschlagen.“
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1) Lewis Yablonsky, 1978: Psychodrama: Die Lösung emotionaler Probleme durch das Rollenspiel.
2) Katharsis: Psychische Reinigung durch das Ausleben innerer Konflikte und verdrängter Emotionen
veröffentlicht in Talktogether Nr. 71/2020
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