In der Realität sind wir alle stumm PDF Drucken E-Mail


In der Realität sind wir alle stumm


von Mariposa

In der Realität sind wir Menschen alle stumm. Ihr fragt euch wohl, was ich damit meine. Aber das ist ganz einfach zu erklären. Wir lachen. Lachen ist das beste und wohltuendste Gefühl auf dieser Welt. Aber was ist mit unserem Inneren? Weiß das jemand? Ich sage euch: Das wissen wir nur selbst. Wir glauben, dass wir unsere Probleme teilen können, in manchen Fällen stimmt das. Jedoch wer kann unser Inneres beschreiben, wenn wir das nicht einmal selbst können? Wir versuchen, für unsere Schmerzen Wörter zu finden und Sätze zu bilden, aber es gelingt uns nicht. Es gelingt uns nicht, weil es für die tiefsten und innersten Schmerzen keine Ausdrucksweise gibt, und deshalb sind wir im wahrsten Sinne mit unseren Gefühlen überfordert und fühlen uns meistens allein, sogar wenn  wir eine Familie oder einen Mann an unserer Seite haben. Da wir für unsere Gefühle keine wahren Worte finden, lassen wir unsere Liebsten in der dunklen Nacht nach der Wahrheit suchen. Was waren wir, was sind wir geworden, was wird aus uns werden?

Das betrifft nicht nur uns „normale Menschen“, dass betrifft auch mächtige Politiker und Schwerreiche, denn ein Mensch ist ein Mensch. Diese mächtigen Männer denken wohl, dass sie durch Krieg bekommen, was sie wollen. Soll ich euch sagen, was sie bekommen? Nichts. Denn in Wahrheit sind sie die unglücklichsten und verzweifelten Menschen dieser Welt. Machthaber, die andere Menschen dazu zu zwingen, in den Krieg zu gehen und gegeneinander zu kämpfen, sind Feinde der Menschheit, egal in welchem Land, egal in welchem Staat. Wegen ihnen werden Millionen Menschen dazu gezwungen, aus ihren Ländern zu fliehen, und werden in einem anderen Staat als Ausländer, Flüchtlinge oder Terroristen bezeichnet. Damit wird ihre Menschenwürde verletzt. Sie müssen ihre Familien verlassen, um sie zu beschützen, sie müssen all das, was sie lieben, stehen und liegen lassen, nur damit sie nicht getötet werden.

Sei nicht so einfühlsam, sonst leidest du mehr, als du verkraften kannst. Als 2015 die Krise begonnen hat, wollten alle damals helfen und etwas bewirken hier in Österreich. Wo sind all diese Menschen jetzt? Keine Ahnung, wo sie sind.

Angefangen hat es in Traiskirchen, als Tausende Mitmenschen aus unterschiedlichen Ländern hier ankamen. Wir haben damals Konvois organisiert und Sponsoren gefunden, um zu helfen. Wir sind aus allen Richtungen hingefahren mit Medikamenten und anderen Hilfsgütern, doch als wir ankamen, waren wir geschockt. Wir hatten gewusst, dass uns Trauriges und Schlimmes erwarten würde, aber mit so einem Ausmaß haben wir nicht gerechnet. Als wir sahen, wie die Kinder auf den Straßen schliefen und am Gehsteig eingewickelt in Kleidern lagen, war das wirklich jenseits unserer Vorstellungskraft.

Es mag zwar egoistisch klingen, aber da dachte ich mir, wie viel Glück haben wir, dass es uns gut geht. Damals war ich noch keine Mutter, aber ich wünschte mir sehnlichst ein Kind. Ich hätte am liebsten eines der Kinder mitgenommen, um wenigstens eines von ihnen retten zu können, auch wenn ich wusste, dass das nicht möglich war. Ich sah eine Frau, die ihr Kind fest in den Händen hielt, in einem fremden Land, wo sie für manche Menschen nicht mehr wert ist als ein Käfer.

Die meisten von uns haben etwas bewirkt. Auch wenn es Einzelfälle waren, wurden Familien gerettet, die jetzt ein besseres Leben führen können und zumindest nicht mehr in Containern leben müssen.

Ich hoffte, vielleicht wird die Lage besser, doch dann kamen die Menschen nach Salzburg. Dort mussten sie am Hauptbahnhof auf Liegen und auf dem Boden schlafen, danach wurden sie in die Garage unter dem Hauptbahnhof einquartiert, da wurde es wenigstens ein bisschen besser. Wir hatten viele Helfer und Helferinnen. Manche haben Essen ausgeteilt, manche brachten Kleidung mit, wir hatten sogar eine Gruppe, die sich um die Kinder kümmerte und mit ihnen spielte.

Dann kam die Zeit, wo alle plötzlich alle an der Grenze zu Freilassing campierten. Da begann das Drama wieder von Neuem. Alle schliefen auf dem harten Asphaltboden oder auf dem Gras. Wir, die Helfer und Helferinnen, waren wieder an Ort und Stelle und versorgten die Menschen mit Essen, Kleidung und Decken und spielten mit den Kindern.

Manchmal frage ich mich: Haben wir unser Bestes gegeben für unsere Mitmenschen, die in Not geraten sind? Ich weiß, die meisten kümmert es nicht, wie es diesen Menschen geht. Viele wollen sogar, dass sie unser Land verlassen, weil sie denken, sie schaden unserer Gesellschaft. Aber wie wäre es, wenn wir an Ihrer Stelle wären, wenn wir in ihr Land flüchten müssten, wenn es hier bei uns Krieg gäbe? Daran denken diese Menschen nicht. Warum glauben sie, dass sie dieses Schicksal nicht auch einmal treffen könnte?

Ich werde nie vergessen, wie ich Familien aus der Tiefgarage herausgeholt und in meine Wohnung mitgenommen habe, damit sie sich waschen, einmal richtig essen und schlafen konnten. Alle paar Tage habe ich eine andere Familie mitgenommen, weil ich das Elend nicht länger ansehen konnte. Sie waren so dankbar, die Mütter weinten vor Freude, und die Kinder waren zumindest für ein paar Stunden glücklich. Wir haben versucht, so vielen Kindern wie möglich, eine Freude zu bereiten, und es wurden immer neue Spielzeuge gebracht. Das Lächeln eines Kindes, dessen Augen vor Freude glänzen, ist dieses Gefühl nicht unbeschreiblich?

Als wir an der Grenze waren, ging es einigen uns nicht mehr so gut. Mitanzusehen, wie sie an der Grenze feststeckten, war für viele eine große Belastung. Aber wenigstens gelang es uns, drei Familien zu retten, indem wir sie durch die Grenze geschleust haben. Es war meine Idee, aber ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte. Als ich einem Freund, der auch mitgeholfen hat, von meinem Plan erzählte, sagte er zu mir: „Du bist verrückt! Was ist, wenn wir erwischt werden?“

Doch ich war entschlossen, das Risiko in Kauf zu nehmen. Das Glück stand auf unserer Seite, sodass wir unerwartete Hilfe bekamen und es tatsächlich geschafft haben. Ich habe mich aufgeopfert für diese Aufgabe, habe mein Bestes gegeben. Mir war es egal, 20 Stunden am Tag durchzuarbeiten: Zuerst in der Wohnung frisches Essen zubereiten und dann damit in die Tiefgarage oder an die Grenze, ohne Pause.

Das allerschlimmste daran war für mich, dass mich meine eigene Mutter verstoßen hat. Ihre Worte werde ich nie vergessen: „Du bist nicht mehr meine Tochter, du hilfst Terroristen, entweder lässt du es sein oder du kommst nie wieder vor meine Türe.“ Was sollte ich darauf sagen? Meine Antwort war: „Das sind nur Menschen, die Hilfe brauchen. Mein Mann steht hinter mir, ich gehe jetzt aus deiner Wohnung, und du hast keine Tochter mehr.“ Danach sah ich meine Mutter Monate lang nicht.

Als sie danach die Männer in der Alpenstraße in Zelten untergebracht hatten, half ich auch dort, um den Menschen Deutsch beizubringen. Es waren schwierige Verhältnisse dort. Bei Regen unter dem Zeltdach Deutsch lernen, essen …

Letztes Jahr im Sommer, als ich an der Salzach spazieren ging, ist mir ein Mann entgegengekommen und sagte: „Abla nasilsin, große Schwester, wie geht es dir?“ Ich habe ihn nicht wiedererkannt, aber er mich, und er sagte: „Du hast vieles für mich getan damals im Camp in der Alpenstraße, du hast uns Unterlagen besorgt, damit wir Deutsch lernen können, du hast uns immer etwas mitgebracht, du warst für uns alle wie eine Schwester. Dank dir kann ich jetzt sehr gut Deutsch.“ Ich erschrak. Dann hat er hat mir seinen Namen und sein Herkunftsland gesagt, und da fiel mir wieder vieles ein und ich erinnerte mich, wie ich mit ihm und den anderen im Ragen im Zelt gelernt hatte. Er war mein großer Beschützer, der aufpasste, dass mich keiner schlecht anredet. Dann erzählte er mir, was danach geschah, und ich hatte keine Worte, die ich ihm darauf erwidern konnte. Es zerriss mein Herz, er hatte noch immer keinen positiven Bescheid. Sollte man da nicht verrückt werden? Oh ja, da dreht man durch. Ich dachte, warum nur ist die Regierung so grausam?

Ich habe bis jetzt noch immer mit ihm Kontakt und mit ein paar Familien, denen wir geholfen haben, und die es geschafft haben, hier ein neues Leben anzufangen. Es ist ein wunderbares Gefühl, nicht vergessen zu werden.

Fünf Jahre später haben viele noch immer keinen positiven Bescheid, obwohl die meisten anständige Menschen sind und nichts verbrochen haben, seitdem sie hier sind, die versucht haben, eine ehrliche Arbeit zu machen, und deren Deutschkenntnisse gut sind. Da fehlen mir einfach die Worte und ich weiß nicht mehr, wie ich weiterhelfen kann, wer kommt schon gegen die Regierung und ihre Gesetze an? Keine normale Person wie ich.

Und was ist mit den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln und dem Balkan? Die Menschen werden unter den erbärmlichsten Zuständen dort festgehalten. Es gibt keinen Platz für so viele Menschen, sie müssten dort unter unverstellbaren und menschenunwürdigen Verhältnissen leben, das finde ich, ehrlich gesagt, kriminell. Ich finde, ehrlich gesagt, keine Worte dafür. Fünf- oder sechsköpfige Familien müssen auf drei Quadratmetern schlafen. Derzeit sitzen über 42.000 Menschen in griechischen Lagern fest.

Wie konnte es soweit kommen? Keine Lebensmittel, keine Kleidung, keine Medikamente, keine Hygieneartikel … Was können wir tun, um sie daraus zu holen, so schnell wie möglich, oder damit sie zumindest ein besseres Quartier bekommen? Wie können wir das erreichen?

Und wo sind die Menschen jetzt, die damals so begeistert waren, zu helfen, warum helfen sie nicht jetzt und stehen auf gegen dieses Elend? Die Antwort würde mich wirklich interessieren. Wenigstens versuchen manche Freiwillige und Hilfsorganisationen vor Ort, ihr Bestes zu geben, auch wenn es für sie sehr anstrengend ist, kämpfen sie sich durch und helfen, soweit sie können. Aber das alles muss endlich ein Ende haben! Wenn ich nur an die Kinder denke, das kann doch so nicht weiter gehen! Ja, Deutschland nimmt jetzt paar hundert auf aber was ist mit den restlichen Menschen dort? Lasst sie doch einfach ihren Weg gehen!!!

Niemand verlässt sein Land freiwillig, ihr könntet an ihrer Stelle sein, bitte vergesst das niemals. Letztlich zählen die Taten und nicht das, was man nur sagt.

veröffentlicht in Talktogether Nr. 73 / 2020