Das Virus und die Ungleichheit PDF Drucken E-Mail

Das Virus und die Ungleichheit


Das Virus macht keinen Unterschied, wen es befällt. Doch die Auswirkungen sind jedoch höchst ungleich, ebenso die Möglichkeiten, sich zu schützen. Die Ausbrüche in Schlachthöfen, bei Erntearbeiter*innen und in einem Postverteilerzentrum zeigen, wie schlechte Arbeitsbedingungen die Menschen krank machen. Die Corona-Krise wirft ein grelles Licht auf die Ungleichheit in unserer Welt.

Durch den Lockdown hat die häusliche Gewalt weltweit zugenommen. Auch die Schließung der Schulen wirkt sich höchst ungleich aus, nicht alle Kinder haben einen Laptop, nicht alle Eltern sind in der Lage, ihren Kindern bei den Aufgaben zu helfen. Während die einen bequem und sicher von zu Hause arbeiten können und ihr Gehalt oder ihre Pension pünktlich auf das Konto überwiesen wird, stehen viele Beschäftigte der Gastronomie, Saisonarbeiter*innen, Kleinunternehmer*innen und Künstler*innen plötzlich ohne Einkommen da. Noch schlimmer trifft es viele arme Menschen in wirtschaftlich schwächeren Ländern. Der Verlust des ohnehin geringen Einkommens und die Verteuerung der Lebensmittel bedeuten für sie Hunger.

Covid-19 und das Gesundheitssystem

Die in Südafrika lebende Autorin Salimah Valiani kritisiert, dass viel zu wenig Geld in die öffentliche Gesundheitsversorgung gesteckt wird. Das hänge mit den Privatisierungen zusammen, die seit den 1970er Jahren weltweit stattgefunden haben. Damit wurde die Gesundheit der Menschen zur Ware und Profitquelle gemacht. Selbst reiche Länder haben Mühe, die Bevölkerung vor dem Virus zu schützen. Als die Pandemie ausbrach, gab es weder genug Tests noch genug Chemikalien, um diese zu erzeugen. Es fehlte an Beatmungsgeräten, Schutzausrüstungen und Medikamenten, weil die Firmen nicht genug produzierten. Eine weitere Ursache ist, dass Menschen wegen der Umweltzerstörung und einer ungesunden Lebensweise anfälliger für Krankheiten sind. Anders als in der traditionellen chinesischen oder der ayurvedischen Medizin, wo der Ernährung eine wichtige Rolle für die Erhaltung der Gesundheit und zur Vorbeugung von Krankheiten zugemessen wird, setzt man in der westlichen Medizin auf schnelle Lösungen durch Medikamente.

Covid-19 und Arbeitsbedingungen

Ein weiterer Risikofaktor sind die Arbeitsbedingungen. Wir brauchen die Erntehelfer*innen, damit sie unsere Lebensmittel ernten, missachten aber ihr Recht auf Sicherheit und Gesundheit. Sie müssen in unhygienischen Quartieren in Stockbetten dicht zusammengedrängt auf engstem Raum schlafen, wo ein Abstandhalten unmöglich ist. Arbeitsmigration findet nicht nur in der Lebensmittelindustrie statt, sondern auch im Gesundheitssektor, und zwar weltweit entlang einer hierarchischen Kette. Pflegekräfte und Ärzte gehen von ärmeren Ländern in reichere, und von dort aus in die noch reicheren: Der globale Süden pflegt somit die Menschen in den reichsten Ländern Nordamerikas und Westeuropas. Seit den 1990er Jahren werden hochspezialisierte und gutausgebildete Arbeitskräfte nicht mehr als permanente Einwanderer mit allen Rechten angeworben, sondern nur noch als befristete Arbeiter mit weniger Rechten, geringerer Bezahlung, schlechteren Arbeitsbedingungen und schlechteren Lebensverhältnissen – sie dürfen z.B. ihre Familien nicht mitbringen. So verwundert es nicht, dass ein Großteil der Pflegekräfte und Ärzte, die als erste im Vereinigten Königreich an Covid-19 starben, aus Afrika, Südasien oder den Philippinen stammten.

Covid-19 und globale Lieferketten

In Mexiko nahe der US-Grenze stehen zahlreiche Fabriken, in denen Autoteile, Flugzeugkomponenten, TV-Geräte und andere Elektrogeräte hauptsächlich für den US-amerikanischen Markt erzeugt werden. Die Menschen, die dort arbeiten, verdienen durchschnittlich ein Neuntel der US-Löhne, und es gibt kaum Schutzmaßnahmen. Als die Pandemie ausbrach und viele Arbeiter*innen positiv auf Covid-19 getestet wurden, ordnete die mexikanische Regierung zum Schutz der Beschäftigten die Schließung der Betriebe an. Das befand die US-Regierung als kriminell, weil damit Lieferketten unterbrochen würden. Die Firmen widersetzten sich der Anordnung und drohten mit Entlassungen, wenn die Arbeiter*innen nicht am Fließband erscheinen. Die Folge waren viele Todesfälle.

Die Wirtschaft von Bangladesch ist abhängig von Textilexporten. Als die Geschäfte im Westen wegen des Lockdowns geschlossen wurden, verloren die Fabriken ihre Aufträge. Fast alle namhaften Firmen, die Kleidung von dort beziehen, weigerten sich, weiterhin einen Lohnanteil zu bezahlen, wie es die Gesetze Bangladeschs vorschreiben. Die meisten Arbeiter*innen wurden ohne Lohn weggeschickt und kehrten in ihre Dörfer zurück, ohne zu wissen, dass sie das Virus in sich trugen. Als konkurrierende Fabriken in Kambodscha, Vietnam und Sri Lanka wieder aufsperrten, mussten Bangladesch nachziehen, um die Aufträge nicht zu verlieren. Hunderttausende wanderten zu Fuß nach Dhaka zurück und verbreiteten das Virus in den Slums.

Covid-19 und Demokratie

Vor allem Menschen in den Ländern des globalen Südens sind vielen Risiken ausgesetzt, die aber oft nicht vom Virus selbststammen, sondern von Maßnahmen, die sie unter großen ökonomischen Druck setzen. Viele Regierungen nutzten die Krise auch aus, um demokratische Rechte über Bord zu werfen.

Obwohl das chinesische Modell für Indien völlig ungeeignet sei, habe sich die indische Regierung für einen Lockdown entschieden, kritisiert die politische Aktivistin Kavita Krishnan. Millionen Menschen haben Arbeit und Einkommen verloren und sind vom Hunger bedroht. Wenn sie sich in kilometerlangen Schlangen um Lebensmittel anstellen müssen, ist das nicht nur erniedrigend, sondern fördert auch die Ansteckung. Millionen Menschen versuchten, in ihre Heimatdörfer zurückzukehren. Weil die Fabriken jedoch die Arbeitskräfte brauchten, um die Produktion aufrechtzuerhalten, stellte die Regierung kurzerhand den Zugverkehr ein. Doch die Menschen strömten in Massen – meist zu Fuß – in ihre Dörfer und verbreiteten das Virus.

Dass das erste Cluster bei einem internationalen Treffen einer muslimischen Organisation in Delhi im März auftauchte, wurde von der rechtsgerichteten Regierungspartei schamlos ausgenutzt, um die Islamophobie anzuheizen. Rechte Politiker und Medien sprachen von Corona-Bomben und einer muslimischen Krankheit, was zur Folge hatte, dass muslimischen Patienten die Behandlung im Krankenhaus verweigert wurde und es sogar zu Lynchmorden durch wütende Mobs kam.

Die Verbreitung von Angst und Hass hatte zur Folge, dass viele die Krankheit als Stigma empfinden und Angst haben, bei Symptomen einen Arzt aufzusuchen und es oft sogar verheimlichen, wenn jemand in der Familie an Covid-19 gestorben ist. Krishnan plädiert für einen demokratischen Zugang zur Bekämpfung der Pandemie. Man solle auf die Erfahrungen und in das Wissen der Menschen vertrauen und gemeinsam mit ihnen Lösungen entwickeln. Da Abstand halten in überfüllten Slums nicht möglich ist, sollten geschützte Räume für die Quarantäne von Personen mit Symptomen geschaffen werden. Die Menschen lernen bereits, so Krishnan, wie sie sich gegenseitig schützen und helfen können, das werde von den Machthabern jedoch als Gefahr angesehen.

Covid-19 und Rassismus

Benachteiligte Gruppen erkranken häufiger an Covid-19. Besonders hart betroffen sind Indigene. Erst kürzlich kontaktierte Völker im Amazonasgebiet haben weder Abwehrkräfte gegen das Virus noch Zugang zu medizinischer Versorgung. In Brasilien beispielsweise ist zudem die Diskriminierung von indigenen Völkern in der Mehrheitsbevölkerung tief verwurzelt. Von Seiten der industriellen Landwirtschaft bestehen Interessen, die „Menschen im Busch“ aus dem Weg zu schaffen, um den Regenwald für die Viehzucht zu nutzen. Die Gewalt gegen die Natur schreitet im Schatten der Pandemie schneller voran denn je, Morde an Aktivisten und indigenen Führern, die um ihre verfassungsmäßig garantierten Landrechte kämpfen, stehen an der Tagesordnung.

Auch in Nordamerika sind indigene Gemeinschaften überproportional vom Corona-Virus betroffen. Die Vergiftung ihrer Umwelt – etwa durch Uranabbau oder Fracking – schwächt die Abwehrkräfte der Menschen. Sie haben kein sauberes Trinkwasser, so Janene Yazzie, Aktivistin der Diné (Navajo) Nation, und Abstand zu halten ist unter den beengten Wohnverhältnissen sehr schwierig. Das nächste Krankenhaus ist 50 bis 60 Meilen entfernt und nur über staubige Schotterstraßen erreichbar. Die Gemeinschaften erhalten keine Unterstützung durch die Regierung, und weil viele keinen Zugang zum Internet haben, gibt es auch ein Informationsdefizit.

All das sei ein Erbe der Kolonialisierung und des Genozids an der amerikanischen Urbevölkerung, ein Ergebnis von Ausgrenzung, Rassismus sowie der ungerechten Aufteilung von Reichtum und Macht. Doch die Pandemie habe viele aufgeweckt, so Jazzie. Trotz des Risikos haben sich indigene Gemeinden an den Black-Lives-Matter-Demos beteiligt, denn schließlich leiden sie unter demselben System.

Trotz der Trauer über die vielen verlorenen Menschen regt sich auch Hoffnung, sagt Yazzie: „Wir wissen, dass wir nicht in die Normalität zurückkehren können. Aufgrund der Zerstörung der Umwelt werden wir in Zukunft häufiger mit Pandemien konfrontiert sein. Unsere Gemeinschaften haben aber die Werkzeuge, um diese Herausforderungen zu meisten. Indigene Kulturen haben Wissen, die Widerstandkraft und die Erfahrung, wie man auch unter widrigen Umständen überleben kann. Wir haben eine enge Beziehung zur Natur, die uns Nahrung und Medizin bietet. Unsere traditionellen Werte wie Gemeinschaft, Kollektivität und Gleichheit zeigen uns eine alternative Lebensweise abseits vom Kapitalismus auf. Die kommenden Generationen sind von uns abhängig. Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um für uns alle eine bessere Welt aufzubauen, denn jeder Mensch hat es verdient, von der Unterdrückung befreit zu werden.“


Quelle: Salimah Valiani, Kavita Krishnan und Janene Yazzie im Gespräch mit Firoze Manji. Organising in Times of Covid-19, darajapress.com

 

veröffentlicht in Talktogether Nr. 73 /2020