Wirtschaftsdemokratie - Utopie oder Notwendigkeit?
Wer sehnt sich nicht nach einer langen Arbeitswoche nach dem Wochenende, wartet ungeduldig auf den Urlaub oder zählt die Tage bis zur Pension? Trotzdem leiden Menschen, wenn sie ihre Arbeit verlieren, und das nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen. Denn Arbeit ist mehr, als nur eine Tätigkeit, die man ausüben muss, um die Rechnungen bezahlen zu können. Sie kann uns Befriedigung, Selbstbestätigung und Identität geben, zumindest wenn wir das Gefühl haben, eine sinnvolle Arbeit zu leisten, auf die wir stolz sein können. Arbeitende Menschen wollen für ihre Leistung Wertschätzung erfahren. Sie wollen nicht wie ein Ding behandelt werden, das man wegwerfen und jederzeit ersetzen kann. Bereits in den frühen Arbeitskämpfen ging es deshalb nicht nur um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten, sondern auch um Würde und Respekt. Respektiert zu werden bedeutet aber auch, in seinen Kompetenzen wahrgenommen zu werden, und dass man Einfluss auf Entscheidungen nehmen kann, von denen man selbst betroffen ist.
Halbe Demokratie
Demokratische Rechte werden zu Recht als wichtiges Gut angesehen, denn wer möchte schon in einer Diktatur leben? Kann man aber ernsthaft von einer demokratischen Gesellschaft sprechen, wenn so zentrale Bereiche unseres Lebens wie die Wirtschaft und die Arbeit, die unsere Lebensbedingungen maßgeblich bestimmen, völlig undemokratisch organisiert sind? Wirkliche Demokratie bedeutet mehr, als nur alle paar Jahre politische Repräsentant*innen wählen zu können. Wäre Demokratie wirklich eine Herrschaft des Volkes, müssten wir als Produzent*innen und Konsument*innen auch die Verhältnisse bestimmen können, in denen wir leben. Die Beschäftigten eines Betriebs können in der Regel jedoch weder über die Produktionsweise entscheiden noch darüber, welche Produkte sie herstellen, wem diese zugutekommen oder ob die von ihnen erzeugten Waren für die Gesellschaft nützlich sind. Solange Freiheit, gleiche Rechte und Mitbestimmung im Bereich der Wirtschaft ausgeklammert werden, muss die Demokratie eine unvollständige bleiben.
Die Forderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft war eine Initiative der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in den 1920er Jahren. Damals entwarf Fritz Naphtali in Zusammenarbeit mit dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) und sozialdemokratischen Wissenschaftlern ein Programm für eine Wirtschaftsdemokratie, die als Zwischenetappe auf dem Weg zum Sozialismus angesehen wurde. Dieser Entwurf enthielt unter anderem die Kontrolle von Monopolen, Demokratie und Mitbestimmung in den Betrieben, den Aufbau öffentlicher Unternehmen, die Förderung einer Gemeinwirtschaft sowie die wirtschaftliche Selbstverwaltung vor allem der Sozialversicherungen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten war von diesen Ideen natürlich keine Rede mehr.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges griffen die Gewerkschaften jedoch diese Idee wieder auf mit folgender Begründung: „Die Erfahrungen der Jahre 1918 bis 1933 haben gelehrt, dass die formale politische Demokratie nicht ausreicht, eine echte demokratische Gesellschaftsordnung zu verwirklichen. Die Demokra-tisierung des politischen Lebens muss deshalb durch die Demokratisierung der Wirtschaft ergänzt werden.“ Das Münchener Programm von 1949 erhob die Forderung nach einer Wirtschaftspolitik, die die volle Beschäftigung aller Arbeitswilligen und ihre Mitbestimmung in allen personellen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen garantiere, zudem die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum, soziale Gerechtigkeit durch angemessene Beteiligung aller Werktätigen am volkswirtschaftlichen Gesamtertrag sowie die Gewährung eines ausreichenden Lebensunterhalts für alle nicht Arbeitsfähigen. Ein wesentliches Hindernis für ihre Umsetzung des Programms waren jedoch die Eigentumsverhältnisse. Gemeineigentum, Wirtschaftsplanung und Mitbestimmung passten nicht mehr zur politischen Realität, und so wurden nur Bruchstücke der Forderungen in die Verfassung aufgenommen.
Auch wenn diese Mitbestimmungsrechte große Defizite und Grenzen haben, können sie in der Praxis oft nicht verwirklicht werden. Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus ist die Debatte um eine Demokratisierung der Wirtschaft fast in Vergessenheit geraten. Im Gegenteil sind wir mit einer zunehmenden Aushöhlung demokratischer Rechte konfrontiert: Entscheidungen werden oft außerhalb formeller Gremien getroffen, einflussreiche Unternehmen wirken durch Lobbyismus in die Gesetzgebung ein, Politiker erweisen sich als korrupt, die neoliberale Ideologie ist fest in der EU-Verfassung verankert und die allgegenwärtige Überwachung schränkt unsere Grundrechte immer mehr ein. Die Politik scheint nur mehr dazu da zu sein, um den Unternehmen die Standorte zu sichern und für sie geeignete Bedingungen zur Profitmaximierung zu schaffen.
Erkämpfte Arbeiterrechte und die Möglichkeiten zur betrieblichen Mitbestimmung geraten durch neue Arbeitsformen wie Leiharbeit, Werkverträge, Mini-Jobs, Arbeit auf Abruf und Scheinselbständigkeit immer mehr in Bedrängnis, und der Druck auf die arbeitenden Menschen wird ständig erhöht. Auch die Existenz von Gewerkschaften ist keineswegs gesichert: Gewerkschaftsvertreter*innen werden attackiert, Unternehmen finanzieren „gelbe“ Gewerkschaften (1), Betriebsräte werden bestochen, oder die Gründung eines Betriebsrats wird von der Unternehmensleitung behindert. Zudem herrscht in vielen Betrieben eine „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ zwischen Stammbelegschaft und Leiharbeiter*innen.
In Parteien und Gewerkschaften wurde aber in den letzten Jahren die Debatte über eine Demokratisierung der Wirtschaft wieder aufgenommen. Dabei geht es nicht nur um mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz, sondern um das Recht auf ein gutes Leben in einer gesunden Umwelt für alle. Zu Recht zweifeln viele daran, dass profitgetriebene Unternehmen den sozialen und ökologischen Wandel, den unsere Gesellschaft so dringend benötigt, rechtzeitig und umfassend genug einleiten können. Eine demokratische Kontrolle der Wirtschaft ist aber mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln und Profitmaximierung nur schwer in Einklang zu bringen.
Selbstverwaltung durch die Belegschaft – eine Alternative?
Dass sie in der Lage sind, Betriebe erfolgreich selbst zu verwalten, haben Arbeiter*innen mehrfach bewiesen: im spanischen Bürgerkrieg, im ehemaligen Jugoslawien, während des Ungarnaufstands 1956, in Frankreich 1968, in Chile 1973 und in Polen 1980. Oftmals entschieden Belegschaften aus der Not heraus, einen Betrieb zu übernehmen, um ihn vor der Pleite zu retten und die Arbeitsplätze zu erhalten. Während der Krise in Argentinien 2001 entstand so eine Vielzahl von empresas recuperadas (zurückeroberte Unternehmen), von denen die meisten trotz vieler Schwierigkeiten heute noch existieren, auch neue sind dazu gekommen. Ein weiteres Beispiel ist die Firma Vio.me in Thessaloniki. Nachdem sich die Besitzer einer Baustoff-Fabrik während der griechischen Schuldenkrise 2010 aus dem Staub gemacht und die Löhne nicht mehr bezahlt hatten, beschloss die Belegschaft, den Betrieb zu besetzen. Selbstverwaltet, solidarisch und ohne Vorgesetzte werden dort seitdem Seife und biologische Putzmittel hergestellt. Dass Kooperativen einer Krise besser trotzen als normale Firmen, wurde inzwischen auch durch eine Studie der Universität Thessaloniki bestätigt.
Weniger bekannt ist, dass es in den USA mehr als 29.000 Kooperativen gibt, zum Beispiel in Cleveland. Nach dem Niedergang der Industrie waren Arbeitslosigkeit und der wirtschaftliche Niedergang der Stadt die Folge. Doch die Bevölkerung in Cleveland wollte das nicht hinnehmen und schuf einen Wirtschaftsplan mit Genossenschaften und lokaler Produktion. Heute betreiben dort Genossenschaften unter anderem das größte System an Gewächshäusern und die größte Solarenergie-Anlage der USA. Insgesamt beziehen in den USA 42 Millionen Haushalte ihre Elektrizität von Non-Profit-Stromkooperativen.
Die größte Kooperative der Welt ist der Konzern Mondragón im Baskenland. Das Unternehmen war im Spanischen Bürgerkrieg vom Priester José Maria Arizmendiarrieta gegründet worden, um das Elend der Bevölkerung mit genossenschaftlichen Strukturen der Selbsthilfe zu mindern. Neben der Mitbestimmung auf allen Ebenen ist es die Solidarität, die das Unternehmen bis heute so erfolgreich macht. So sind die Lohnunterschiede wesentlich geringer und die Löhne der unteren Lohngruppen weit höher als in anderen Unternehmen.
Heute umfasst der Verbund ca. 120 Genossenschaften (Industriegenossenschaften, eine Konsumgenossenschaft, Land-wirtschafts-, Wohnbau- und Dienstleistungsgenossenschaften sowie Forschungs- und Ausbildungszentren und eine Universität) mit über 80.000 Beschäftigten auf fünf Kontinenten. Die Gewinne werden in regionale Arbeitsplätze, in die Forschung und in Bildungseinrichtungen reinvestiert. Allerdings hat die Größe des Unternehmens zur Folge, dass es sich heute nicht mehr allzu sehr von anderen Konzernen unterscheidet. Dennoch hat die Schaffung von Arbeitsplätzen noch immer Vorrang, und so wurde seit der Gründung der Genossenschaft bis heute kein Stellenabbau durchgeführt.
Demokratie für Gesellschaft und Umwelt
Solange die Selbstverwaltung auf einzelne Betriebe beschränkt ist, können diese nur Modellcharakter haben. Wirtschaftsdemokratie bedeutet mehr als selbstverwaltete Betriebe. Demokratisch organisierte Unternehmensstrukturen schließen nämlich nicht aus, dass sich Betriebe gegenseitig konkurrieren oder dass Entscheidungen getroffen werde, die auf Kosten der Umwelt oder der Verbraucher*innen gehen. So stellt sich die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen selbstverwaltete Betriebe eine gesellschaftliche Alternative aufzeigen können.
Wenn die Abstimmung der betrieblichen und gesellschaftlichen Bedürfnisse nicht den anonymen Kräften des Marktes überlassen werden soll, müssen Branchen und Regionen demokratisch gesteuert und koordiniert werden. Da Probleme wie die Klimakrise und die steigende Schere zwischen Arm und Reich global sind, versteht sich von selbst, dass sich die Planung nicht auf den nationalen Rahmen begrenzen darf. Mit den modernen Informations- und Kommunikationstechnologien, die heute von global agierenden Unternehmen angewendet werden, wäre es aber möglich, auch ganze Industriesektoren und Volkswirtschaften auf globaler Ebene demokratisch zu planen.
Die entscheidende Frage bleibt jedoch die Eigentumsfrage, denn wirtschaftliche Macht bedeutet auch politische Macht. Der Zustand, in dem sich unsere Welt befindet, zeigt uns, dass zu viele Unternehmen nicht in der Lage sind, verantwortungsvoll zu handeln und Rücksicht auf die Bedürfnisse von Mensch und Umwelt zu nehmen. Deshalb werden eine umwelt- und ressourcenschonende Produktionsweise sowie eine demokratische, soziale und friedliche Gesellschaft wohl eine Utopie bleiben, solange sich die Entscheidungen großer Unternehmen an den Renditewünschen privater Anteilseigner statt an den Bedürfnissen der Mehrheit der Menschheit orientieren.
veröffentlicht in Talktogether Nr. 76/2021
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