Pariser Commune: 72 Tage gelebte Demokratie
Am 18. März 1871 nahm die Bevölkerung von Paris ihr Schicksal selbst in die Hand und versuchte, eine demokratische Gesellschaft unter der Kontrolle des einfachen Volkes aufzubauen. Auch wenn das zukunftsweisende Experiment nach nur 72 Tagen in Blut ertränkt wurde, leben die Ideen der Kommune weiter. Die Ungerechtigkeit und die Probleme, die sie zu lösen anstrebte, sind immer noch aktuell, und das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.
„Die Proletarier der Hauptstadt haben, inmitten der Niederlagen und des Verrats der herrschenden Klassen, begriffen, dass die Stunde geschlagen hatte, wo sie die Lage retten müssen, dadurch, dass sie die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten in ihre eigenen Hände nehmen ... Sie haben begriffen, dass es ihre höchste Pflicht und ihr absolutes Recht war, ihr eignes Geschick in ihre eignen Hände zu nehmen und die politische Macht zu ergreifen.“ Manifest des Zentralkomitees vom 18. März 1871
Am 2. Dezember 1851 ergriff Louis Bonaparte, später bekannt als Napoléon III., durch einen Staatsstreich die Macht und errichtete eine Diktatur, ein Jahr später proklamierte er sich zum Kaiser. Er ließ Paris umgestalten und Prachtstraßen anlegen. Während die Reichen im Luxus schwelgten, lebten die Armen am Stadtrand in unverstellbarem Elend, wie es Victor Hugo in seinem Roman „Les Misérables“ eindrücklich beschrieb. Doch die Arbeiter organisierten sich, und die Forderung nach einer sozialen Republik wurde immer lauter. Um die Wut des Volkes auf einen äußeren Feind abzulenken, erklärte der Kaiser im Juli 1870 Preußen den Krieg. Doch die französische Armee wurde in nur sechs Wochen geschlagen und Napoleon III. gefangengenommen. Auf Druck des Volkes wurde die Republik ausgerufen und eine Übergangsregierung gebildet, welche die Verteidigung des Landes übernehmen sollte.
Die Pariser Bevölkerung sammelte Geld, um Kanonen zu kaufen, um sich zu verteidigen. Eine Bürgermiliz aus Freiwilligen wurde gebildet, deren Offiziere demokratisch gewählt wurden – die Nationalgarde. Am 19. September standen preußische Truppen vor den Toren von Paris und die Belagerung begann. Für die Regierung waren aber nicht die Preußen, sondern die Pariser Arbeiter*innen die wirklichen Feinde. Schon im Herbst 1870 trat sie in Geheimverhandlungen mit Bismarck ein. Am 28. Jänner 1871 wurde ein Waffenstillstand vereinbart, der die Wahl einer Nationalversammlung im Februar vorsah. Diese brachte eine Mehrheit für die monarchistischen und bürgerlich-konservativen Kräfte, Regierungschef wurde Adolphe Thiers. Am 1. März unterzeich-nete Thiers mit Preußen einen Vorfrieden, der Reparationszahlungen in astronomischer Höhe und die Abtretung von Elsass-Lothringen besiegelte. Paris musste kapitulieren, und preußische Truppen marschierten durch den Arc de Triomphe.
Nun hatte die Regierung den Rücken frei, um gegen die Arbeiter*innen vorzugehen. Vor allem machte ihr Angst, dass die Nationalgarde, die in der Arbeiterschaft verwurzelt war, unter Waffen geblieben war. So hatte Thiers nur ein vorrangiges Ziel: deren Entwaffnung. Doch die Pariser Bevölkerung, die den ganzen Winter lang der Belagerung durch preußische Truppen standgehalten hatte, hatte gelernt, sich zu wehren. Als die Regierungstruppen in den frühen Morgenstunden des 18. März im Arbeiterbezirk Montmartre einmarschierten, um die Kanonen aus der Stadt fortzuschaffen, umringten die Frauen, die bereits in der Früh unterwegs waren, um Wasser und Brennholz zu holen, die Geschütze und schrien: „Was macht ihr hier? Schämt ihr euch nicht? Werdet ihr auf uns schießen?“ Viele Soldaten weigerten sich, auf die eigenen Landsleute zu schießen, und wechselten die Seite. So musste sich die Armee zurückziehen, und bald tönte auf allen Straßen und aus allen Fenstern der Ruf: „Es lebe die Republik! Es lebe die Kommune!“
Der Schrecken in den bürgerlichen Kreisen über die Vorfälle war groß. Noch am selben Tag verließen hohe Beamte, der Klerus und das Großbürgertum fluchtartig die Stadt. Die Nationalgarde zog ins Stadthaus, in die Verwaltungsgebäude, Polizeistationen und Ministerien ein. Auch in einigen anderen französischen Städten verbrüderte sich die Armee mit den Aufständischen, und die Kommune wurde ausgerufen.
Da niemand die Einrichtung der Kommune geplant hatte, waren die Arbeiter*ìnnen zunächst förmlich erschrocken, als sie plötzlich die Macht in ihren Händen hielten. Umso bemerkenswerter ist, was sie in der kurzen Zeit erreichten. Sie nahmen nicht einfach die Staatsmacht in Besitz, sondern errichteten ein völlig neues basisdemokratisches System. Schon am 26. März fanden Wahlen statt, bei der die Revolutionäre die absolute Mehrheit erhielten. An der Spitze der Kommune stand ein Rat, dessen Mitglieder in der Mehrzahl Arbeiter oder anerkannte Vertreter von Arbeiterinteressen waren. Alle Funktionsträger waren verantwortlich und jederzeit abwählbar, ihr Lohn durfte den eines qualifizierten Arbeiters nicht überschreiten.
Zu den Reformen der Kommune zählten u.a. faire Mietbedingungen, die Kontrolle der Löhne und die Rückgabe verpfändeter Arbeitsgeräte. Leerstehende Wohnungen wurden Bedürftigen zugewiesen und von ihren Besitzern verlassene Werkstätten und Fabriken von Arbeitergenossenschaften übernommen. Die Kommune verteilte außerdem eine Million Francs an die Ärmsten zur Linderung ihrer Not. Die Schulen wurden dem Einfluss der Kirche entzogen, und alle Kinder – auch die Mädchen – sollten kostenlosen Zugang zur Schulbildung erhalten. Die Frauen erhielten das Recht, sich scheiden zu lassen und als politische Akteurinnen selbstständig zu handeln, uneheliche Kinder wurden ehelichen gleichgestellt. Das Heer wurde aufgelöst und durch die allgemeine Volksbewaffnung ersetzt.
Die Frauen der Kommune
Auffällig war, wie viele Frauen sich in der Kommune engagierten. Während der Belagerung durch die Preußen waren sie es gewesen, die sich organisiert hatten, um Nahrung und Brennstoff zu beschaffen. Zahlreiche Kooperativen und Nachbarschaftsgruppen wurden gegründet, in denen Frauen eine wichtige Rolle spielten. Nun beteiligten sie sich an der Verteidigung der Kommune auf den Barrikaden, gründeten Ambulanzstationen und Volksküchen und kämpften dafür, die arbeitenden Frauen von der Ausbeutung zu befreien. Um ihre Projekte zu finanzieren, waren sie sehr einfallsreich: So gingen sie am Sonntag in Begleitung eines Nationalgardisten mit aufgestecktem Bajonett in die Kirchen, um Spenden einzusammeln. Viele Frauen taten sich auch in politischen Clubs hervor, wo diskutiert und agitiert wurde, darunter die Buchbinderin Nathalie Lemel, die russische Sozialistin Elisabeth Dmitrieff und die Schriftstellerin Louise Michel. Sie gründeten den „Frauenbund zur Verteidigung von Paris“, dessen erstes Treffen im April stattfand und der Versammlungen mit bis zu 4.000 Teilnehmerinnen organisierte.
Der Vernichtungsfeldzug
Doch die Gegner der Kommune begannen nach einer kurzen Zeit der Überraschung, sich in Versailles auf den Gegenangriff vorzubereiten. Begonnen wurde mit einer Pressekampagne, in der kein Stereotyp ausgelassen wurde, um die Kommune zu diffamieren. Nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa wetterte die bürgerliche Presse über die „Verschwörung einer Terroristengruppe“, „die Pöbelherrschaft von Kriminellen“ oder die „Flintenweiber“. Bismarck entließ bereitwillig Tausende Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft, um die französische Armee bei der Eroberung von Paris zu verstärken. Am 17. April begann die Offensive auf die Stadt mit Bombardements. Auch in Paris selbst waren die Gegner der Kommune aktiv: politische und wirtschaftliche Maßnahmen wurden sabotiert, führende Delegierte auf offener Straße ermordet, eine Patronenfabrik wurde in die Luft gesprengt. Die Versailler Truppen, die Dank Bismarcks Hilfe nun 130.000 Mann umfassten, umringten die Stadt und blockierten die Lebensmitteltransporte, um die Bevölkerung auszuhungern. Am 21. Mai gelang dann der Vorstoß nach Paris, und der Vernichtungsfeldzug erreichte seinen Höhepunkt.
Die Kämpfenden verbarrikadierten sich in ihren Stadtvierteln und leisteten über eine Woche lang erbitterten Widerstand. Auch Nathalie Lemel, Elisabeth Dmitrieff, Louise Michel und andere Frauen kämpften auf den Barrikaden und versorgten Verletzte. Doch die Niederlage war nicht mehr aufzuhalten. Wahllos erschossen die Soldaten, die direkt aus den Kriegsgefangenenlagern Preußens kamen, Menschen auf offener Straße. In den Kasernen fanden Massenhinrichtungen statt. “Bald floss von der Kaserne Lobau das Blut in zwei Bächen Richtung Seine, deren Wasser lange rot blieb“, erinnerte sich Louise Michel.
Am 29. Mai erklärte Adolphe Thiers, die Ordnung in Paris sei wiederhergestellt. Die Bilanz der blutigen Maiwoche: Über 30.000 Tote und 50.000 Gefangene, von denen viele zur Zwangsarbeit in Häftlingskolonien geschickt wurden. Auch wenn diejenigen, die die Kommunard*innen verraten, niedergemetzelt und verschleppt haben, alles versucht haben, die Kommune aus der Geschichtsschreibung und aus dem Bewusstsein der Menschen zu tilgen, bleiben die mutigen „Himmelsstürmer von Paris“ unvergessen, zumal die Probleme, die sie lösen wollten, bis heute aktuell geblieben sind.
Und heute, 150 Jahre später?
In den 150 Jahren seit der Pariser Kommune hat sich vieles verändert. Die Produktivität hat sich vervielfacht, der technische Fortschritt hat unseren Alltag verändert, die Menschheit ist durch das Internet global vernetzt. Doch wenn wir heute die Verhältnisse auf unserer Welt betrachten, erkennen wir, dass wir uns im Grunde in keiner besseren Lage befinden wie damals:
- > Während sich unermesslicher Reichtum in den Händen einer kleinen Minderheit befindet, leidet ein großer Teil der Menschheit unter Elend und Not. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. - > Trotz Nahrungsmittelüberproduktion haben 800 Millionen Menschen nicht genug zu essen. - > Die Ausbeutung von Mensch und Natur verschärft sich. - > Die Rivalität der Großmächte spitzt sich zu, es wird aufgerüstet und die Kriegsgefahr steigt. - > 80 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. - > Rassistische Ausgrenzung und Nationalismus nehmen zu. - > Der Kolonialismus wurde von neokolonialer Dominanz abgelöst. Nach wie vor beherrschen die Großmächte die abhängigen Länder und diktieren die Regeln. - > Nach wie vor herrscht das Patriarchat. Die Gewalt gegen Frauen nimmt zu, frauenfeindliche Weltanschauungen sind weltweit auf dem Vormarsch. - > Große Konzerne beherrschen Wirtschaft und Politik, während demokratische Rechte abgebaut werden. - > Die Zerstörung der Natur und systemgemachte Klimaveränderungen bedrohen die Zukunft der Menschheit …
veröffentlicht in Talktogether Nr. 76/2021
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