Bauernproteste in Indien PDF Drucken E-Mail

Mit Traktoren gegen Regierung und Konzerne

Zehntrausende indische Landwirte wehren sich seit Monaten gegen ein Gesetz, das es großen Konzernen ermöglichen soll, in Ackerland zu investieren und mit Grundnahrungsmitteln zu spekulieren. Seit 15. Jänner ist der Dialog zwischen Protestierenden und Regierung zum Stillstand gekommen. Die Bäuer*innen pendeln zwischen ihren Feldern und dem Protest hin und her, während sich die Regierung darauf vorbereitet, ihren Widerstand mit Gewalt niederzuschlagen.


Foto: Randeep Maddoke (CC0 1.0)

Einen Tag nach dem Bharat Bandh am 26. November - einem landesweiten Generalstreik - machten sich protestierende Bauern vor allem aus dem Punjab und Haryana auf den Weg in die indische Hauptstadt New Delhi. An den Stadtgrenzen wurden die friedlich Demonstrierenden mit Betonbarrikaden, Tränengas und Wasserkanonen empfangen. Als Antwort blockierten sie die Zufahrtsstraßen in die Stadt mit ihren Traktoren. Bald schlossen sich auch Bäuer*innen aus anderen Regionen an, so dass ihre Zahl auf Hundertausende anwuchs. Weder Winterkälte und fehlende Sanitäreinrichtungen noch die Angriffe von bezahlten Schlägertrupps konnten sie aufhalten, denn diese Schwierigkeiten sind nichts im Vergleich dazu, was sie erwartet, wenn die neuen Agrargesetze in Kraft treten. Grund für den Zorn der Bauern ist das neue Agrargesetz, das im September 2020 von der rechtsgerichteten BJP unter der Führung von Premierminister Narendra Modi verabschiedet wurde, ohne die davon Betroffenen - die Bauern und Bäuerinnen - zu Rate zu ziehen. Die Regierung versucht mit drei Gesetzesänderungen, eine Liberalisierung des Agrarsektors durchzusetzen. Die Streikenden fürchten, dass diese so genannten "Reformen" sie noch angreifbarer machen und verheerende Folgen haben werden. Dazu kommt, dass viele Menschen wegen der Covid-Pandemie aus den Städten geflohen und in ihre Dörfer zurückgekehrt sind. Bis jetzt haben staatliche Regulierungen die Produktion, die Verteilung, die Lagerhaltung und die Preise von Grundnahrungsmitteln geregelt und den Bauern ein Minimum an Sicherheit gewährt. Jetzt versucht die Modi-Regierung, selbst diese beschränkten Schutzmaßnahmen abzuschaffen. Die Bauern fürchten, in Zukunft den Lebensmittelkonzernen und der Anarchie des globalen Marktes schutzlos ausgeliefert zu sein.

Der Essential Commodities Act

In den 1940er Jahren herrschte unter britischer Kolonialherrschaft eine große Hungersnot, bei der zwei Millionen Menschen starben. Um eine solche Katastrophe zu vermeiden, beschloss die indische Regierung, die Landwirtschaft zu schützen und zu unterstützen. Der Essential Commodities Act (ECA) ist ein Gesetz, das 1955 eingerichtet wurde, um die Versorgung der Bevölkerung mit den Produkten sicherzustellen, die für ihr Leben unverzichtbar sind.Dieses Gesetz wurde seitdem zur Regulierung der Produktion, Lieferung und Verteilung von lebensnotwendigen Waren angewendet, um sie den Verbrauchern zu fairen Preisen zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus kann die Regierung einen Mindeststützungspreis für Produkte festlegen, die sie als "essentiell" deklariert. Die Liste der betroffenen Waren umfasst Grundnahrungsmittel wie Getreide, Hülsenfrüchte, Zwiebeln, Kartoffeln und Speiseöle, aber auch Arzneimittel, Dünger und Treibstoffe. Dieses Gesetz wurde durch die Zusatzbestimmungen von 2020 geändert, die besagen, dass die Regierung die Versorgung der Bevölkerung mit diesen Waren nur noch unter schwerwiegenden Umständen wie Krieg, Hungersnöte, Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Preissteigerungen regulieren darf. (1)

Wer profitiert von den neuen Agrargesetzen?

Die neuen Gesetze erlauben den Firmen, die Ernte den Bauern direkt abzukaufen, statt wie bisher über staatlich regulierte Märkte. Das bedeutet, dass Bauern rechtsverbindliche Verträge mit großen Konzernen und privaten Akteuren eingehen müssen. Die Regierung argumentiert, dass sie dadurch höhere Gewinne erzielen könnten und der Wettbewerb die Landwirtschaft modernisiere. Die Bauern hingegen befürchten einen Preisverfall, weil sie in den Verhandlungen mit mächtigen Agrarkonzernen in einer viel schwächeren Position sind. Ob über den freien Markt oder über Vertragsanbau können die Konzerne die Landwirte unter Druck setzen, ihre Produkte zu niedrigeren Preise zu verkaufen. Es bedeutet aber auch, dass die Aufkäufer auch darüber entscheiden können, welche Feldfrüchte wann und wie auf den Feldern angebaut werden. Ernteeinbußen und Lieferschwierigkeiten könnten zur Folge haben, dass die Bauern ihre Verträge nicht einhalten können und deshalb ihr Land verlieren. Da keine rechtliche Unterstützung für Bäuer*innen vorgesehen ist, fürchten diese, dass sie in Zukunft als Tagelöhner*innen auf ihren Feldern arbeiten müssen.

Es ist wichtig zu verstehen, warum die Konzerne so scharf auf die fruchtbaren Böden des Punjabs und anderer indischer Bundesstaaten sind. In den letzten Jahren ist die indische Wirtschaft stark geschrumpft. Die Geldentwertung und die darauffolgende Corona-Pandemie haben dazu geführt, dass der Konsum der indischen Mittelklasse eingebrochen ist und der Unternehmenssektor einen großen Umsatzrückgang zu verzeichnen hat. Die Landwirtschaft ist der einzige Sektor, nach dessen Produkten die Nachfrage niemals enden wird, weil es immer Bedarf an Nahrungsmitteln gibt. So sind einige Konzernriesen entschlossen, die Kontrolle über den Agrarsektor und den Lebensmittelmarkt an sich zu reißen. Manche Unternehmensgruppen haben sogar schon damit begonnen, Lagerhäuser und Silos im ganzen Land bauen zu lassen.

Die Gesetze treffen jedoch nicht nur die Bäuer*innen sondern auch die Konsument*innen, da das neue Gesetz den Konzernen die Macht gibt, Produkte zu lagern und den Markt auszuhungern, um dann die Preise für die Verbraucher*innen zu erhöhen. Zudem werden ihnen die Aktivitäten auf dem Agrarsektor große Steuervorteile verschaffen. (2)

Nahrungsmittelimperialismus

Nahezu 60 Prozent der indischen Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig. Der Großteil der Bäuer*innen verfügt nur über sehr geringen Landbesitz und lebt unter ärmlichen Bedingungen. Die Verschuldung hat zusammen mit den Folgen der Klimaerwärmung seit den 1990er Jahren Zehntausende indische Kleinbäuer*innen in den Selbstmord getrieben, meist haben sie Pestizide getrunken. Die höchste Selbstmordrate von Bäuer*innen wurde im Jahr 2019 verzeichnet.

Als Nahrungsmittel-Imperialismus bezeichnet Vandana Shiva, die das Forschungszentrum für ökologischen Landbau Navdanya leitet, diese Politik: "Wie kann sich ein Kleinbauer gegen vier Konzernriesen, die von allen Staaten der Welt subventioniert werden, behaupten? Gäbe es einen fairen Wettbewerb, würden ihn die Kleinbauern gewinnen. Sogar die FAO hat festgestellt, dass kleine Farmen produktiver sind. 80 Prozent unserer Nahrung wird auf kleinen Farmen erzeugt, sie ernähren 1,3 Milliarden Menschen." Mit der richtigen Anbauweise - mit Biodiversität und ohne Chemie - könnten auch doppelt so viele Menschen ernährt werden, ist Shiva überzeugt. Sie weist darauf hin, dass der Kampf der Bäuer*innen um das Land eine lange Tradition hat, die in die Kolonialzeit zurückreicht und sich in den 1990er Jahren fortsetzte, als Hunderttausende Bäuer*innen gegen die von der Welthandelsorganisation erzwungene Liberalisierung des Marktes und die Öffnung des Agrarsektors für Investitionen durch global agierende Konzerne protestierten. (3)

Der Bundesstaat Punjab, aus dem die meisten der Streikenden stammen, war bereits in den 1960er Jahren Schwerpunktregion einer "Grünen Revolution", die das Ziel hatte, den Ernteertrag zu steigern und das Land unabhängig von Importen zu machen. Die Erträge konnten mit der Einführung von Hochertragssorten zwar gesteigert werden, doch der jahrelange Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden führte mit der Zeit zur Auslaugung der Böden. Die intensive Bewässerung ließ den Grundwasserspiegel absinken und zahlreiche Flüsse und Seen austrocknen. Studien des indischen Umweltforschungsinstitutes zeigten außerdem, dass das Blut der Einwohner*innen eine hohe Belastung mit dem Pflanzenschutzmittel DDT aufweist.

Ein weiteres tragisches Beispiel für die Folgen der Abhängigkeit von Biotechnologie-Konzernen ist der Baumwollanbau in Südindien. 95 Prozent der indischen Baumwolle stammen heute von gentechnisch verändertem Saatgut. Dieses ist jedoch steril und zudem durch Patentrechte geschützt, so dass die Bäuer*innen jedes Jahr teures Saatgut zukaufen müssen, außerdem erfordern sie einen hohen Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden. Wenn die Ernte aufgrund von extremen Wetterereignissen ausfällt, die sich aufgrund von Klimaveränderungen häufen, müssen die Bäuer*innen bei Geldverleihern und Grundbesitzern zu Wucherzinsen Geld ausleihen. Und dann müssen sie gegen die übermächtige Konkurrenz einer hoch subventionierten Agrarindustrie konkurrieren. Die Weltmarktpreise sind aber viel zu niedrig, um die Schulden jemals zurückzahlen zu können. Der intensive Einsatz von chemischen Hilfsmitteln hat zudem dazu geführt, dass Schädlinge resistent wurden, die Böden ausgelaugt sind und die Erträge sinken. Das Ergebnis ist der Verfall einer Branche, die einst so vielen Menschen ein Einkommen bot. Soll nun dasselbe mit dem Anbau von Getreide und anderen Grundnahrungsmitteln passieren?

Teile und herrsche!

Zahlreiche Journalist*innen, Aktivisti*innen und Landwirte, die versucht haben, die Hintergründe der neuen Gesetze ans Licht zu bringen, wurden verhaftet und gefoltert. Dass die Protestbewegung von Künstler*innen und bekannten Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland unterstützt wird, ärgert die Regierung. Diese versucht nämlich, die Massenproteste als eine von Sikh-Separatisten angeführte und manipulierte Bewegung darzustellen, um die Bevölkerung dagegen aufzubringen und die harten Polizeimaßnahmen zu rechtfertigen - eine Teile-und-Herrsche-Politik, wie sie bereits von den Kolonialherren eingesetzt wurde, um Bevölkerungsgruppen gegeneinander aufzuhetzen. Heute wird diese Strategie von populistischen Politiker*innen auf der ganzen Welt - leider erfolgreich - praktiziert, um die Menschen von den wahren Ursachen ihrer Probleme abzulenken.

Was in Indien passiert, ist ein Ausdruck davon, wie der Lebensmittelimperialismus das Leben von fast 8 Milliarden Menschen bestimmt. Biotechnologiekonzerne entwickeln und patentieren Saatgut, Pestizide und Düngemittel, um ihr Monopol über diese Produkte zu sichern. Heute dominiert das globale Agro-Business ein Netzwerk von Vertragsbauern auf der ganzen Welt, wodurch die kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft ausgelöscht wird. Die Ökonomien der Länder des Südens werden dazu gedrängt, Produkte für den Export in wohlhabende Länder zu produzieren und großflächige industrielle Landwirtschaft zu betreiben - von der brasilianischen Rinderzucht bis zu asiatischen Shrimps-Farmen. Die industrielle Landwirtschaft und der massive Einsatz von Chemikalien zerstören die Artenvielfalt und vergiften die Menschen, die auf den Plantagen arbeiten. Rund 26,7 Millionen Hektar Ackerland haben sich Investoren seit 2000 weltweit angeeignet, wobei der am stärksten betroffene Kontinent Afrika ist. 38% der Fläche ist für Pflanzen bestimmt, die nicht der menschlichen Ernährung dienen, auf 15% wachsen so genannte Flex-Crops, die je nach Marktlage zu Sprit, Tierfutter oder Nahrungsmitteln verarbeitet werden können. (4)

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(1) vlg. Daljeet Singh: The Essential Commodities (Amendment) Act 2020 EXPOSED, 02.01.2021: https://sikhsiyasat.net/indias-essential-commoditiesamendment-act-2020-exposed/

(2) vlg. Jaspreet Kaur: India's New Farm Laws: Who really gets the benefit? 22.02.2021: https://sikhsiyasat.net/indias-new-farm-laws-who-really-gets-the-benefit/

(3) vlg. Dr. Vandana Shiva on India's Farmers' Protests. Indian Farmers are victims of food imperialism. Going underground on RT, 13.02.2021: https://www.rt.com/shows/going-underground/515462-vandana-shiva-farmers-protests/

(4) vlg. Weltagrarbericht: www.weltagrarbericht.de


veröffentlicht in Talktogether Nr. 76/2021

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