Gespräch mit Mohammad Sadeghi PDF Drucken E-Mail

Gespräch mit Mohammad Sadeghi

Künstler und Jugendbetreuer in einer sozialpädagogischen Wohneinrichtung

TT: Du bist als Flüchtling nach Österreich gekommen. Heute betreust du Jugendliche, die geflüchtet sind. Wie ist das für dich – gestern Asylwerber heute Betreuer?

Mohammad: Auf der einen Seite ist meine eigene Fluchterfahrung ein Vorteil, wenn ich mit Menschen arbeite, die aus Afrika oder Asien als Schutzsuchende nach Österreich gekommen sind. Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht wie sie und kann mich in sie einfühlen, außerdem habe ich in Afghanistan mit Straßenkindern gearbeitet. Deshalb glaube ich, dass ich minderjährige Flüchtlinge verstehen und sie unterstützen kann. Mein Prinzip ist Hilfe zur Selbsthilfe, das heißt, mein Ziel ist, sie in die Lage zu versetzen, dass sie sich selbst helfen können. Auf der anderen Seite ist es aber auch nicht immer leicht mit geflüchteten Menschen zu arbeiten, wenn man selbst eine Fluchtgeschichte hat. Am Anfang war jede Geschichte, die mir erzählt worden ist, wie ein Flashback, das meine eigenen Erlebnisse wieder hervorgerufen hat. Mit der Zeit habe ich aber gelernt, abzuschalten und meine eigene Geschichte während der Arbeit zu Hause zu lassen. Seit drei Jahren gelingt mir das recht gut. Derzeit arbeite ich in einer pädagogischen Wohngemeinschaft für Jugendliche. Ich denke, dass es mir gelungen ist, eine gute Beziehung zu den Burschen dort aufzubauen.

TT: Du kannst die Jugendlichen verstehen und sie verstehen dich. Aber gibt es auch Momente, in denen du dich machtlos fühlst?

Mohammad: Natürlich, das kommt immer wieder vor, denn ich kann nicht für alle Probleme eine Lösung finden. Wenn ich bei einem Problem nicht weiterweiß, wende ich mich an Experten, um Rat und Hilfe zu finden. Es gibt aber auch Probleme, auf die ich keinen Einfluss habe. Wir führen zum Beispiel fast jeden Tag mit den Jugendlichen Gespräche über ihre Asylverfahren, und immer wieder äußern sie den gleichen Wunsch, nämlich schnell Asyl zu bekommen und hier in Österreich ihre Zukunft planen zu können. Was kann ich hier für sie tun? Ich kann nur versuchen, sie zu beruhigen, ich kann sie informieren, wie die Asylverfahren hier in Österreich laufen, und ihnen Mut zusprechen, damit sie nicht die Hoffnung verlieren.

TT: Was hast du empfunden, als du von dem schrecklichen Mord an dem Mädchen in Wien erfahren hast? Wie haben deine Schützlinge reagiert?

Mohammad: Als ich davon erfahren habe, war ich selbst traumatisiert. Ich habe sogar Angst gehabt, auf die Straße zu gehen, weil ich mir eingebildet habe, dass die Leute sofort erkennen, dass ich aus Afghanistan stamme, und denken könnten, dass ich auch so einer bin wie die Täter in Wien. Für die Jugendlichen war es noch schlimmer. Sie haben sich eine Woche lang nicht getraut, ihre WG zu verlassen.

TT: Wie bist du damit umgegangen? Was hast du zu den Jugendlichen gesagt?

Mohammad: In jedem Land gibt es Menschen, die sich kriminell betätigen. Gewalt gegen Frauen ist leider auf der ganzen Welt verbreitet. In Österreich wurden im Jahr 2021 schon 17 Frauen ermordet, und viele der Täter sind hier geborene Österreicher. Dieses schreckliche Verbrechen wird aber für politische Zwecke und für rassistische Propaganda instrumentalisiert, und das macht es so schwer. Wir sollten uns daran erinnern, dass in Amstetten ein Mann seine eigene Tochter jahrelang vergewaltigt und mit ihren Kindern in einem Keller gefangen gehalten hat. Ich frage mich, wie die Medien reagiert hätten, wenn der Täter kein Österreicher sondern ein Afghane gewesen wäre. Das versuche ich, den Jugendlichen, die ich betreue, und auch anderen Menschen, mit denen ich in Kontakt bin, klarzumachen.

TT: Was haben die Jugendlichen zu dir gesagt?

Mohammad: Nachdem sie von dem Mord an dem jungen Mädchen erfahren hatten, haben sie gesagt: Wir hassen Afghanistan. Wir hassen afghanische Menschen. Dann habe ich mit ihnen ein langes Gespräch geführt. Ich habe ihnen erklärt, dass es auch Gewalt gegen Frauen in Österreich gibt, und dass ein Verbrechen ein Verbrechen ist, und es keinen Unterschied macht, woher der Täter kommt oder welche Nationalität er hat. Wenn drei afghanische Männer so etwas Schlimmes getan haben, heißt das nicht, dass alle aus Afghanistan stammenden Männer so sind. So eine Verallgemeinerung ist Propaganda von rechten und fremdenfeindlichen Kräften. Das habe ich versucht, ihnen klarzumachen. Es war aber ist nicht einfach, die Jugendlichen davon zu überzeugen, am Anfang haben sie meine Argumente nicht akzeptiert, und ich musste immer wieder mit ihnen darüber diskutieren.

TT: Warum waren sie so betroffen?

Mohammad: Die Medien spielen eine große Rolle. Im Internet wird jeden Tag gegen Ausländer und Flüchtlinge gehetzt. Die Jugendlichen lesen das, und es beeinflusst ihre Gedanken und ihre Gefühle. Die kollektiven Schuldzuweisungen führen dazu, dass sich die Jugendlichen selbst schuldig fühlen, obwohl sie nichts getan haben. Diese jungen Menschen haben Traumatisierungen erlitten aufgrund der Gewalterfahrungen und der Trennung von ihren Familien, dazu kommt die Sorge um die zurückgebliebenen Familienmitglieder. Wenn sie dann auch noch das Gefühl haben, in der österreichischen Gesellschaft nicht willkommen zu sein, fühlen sie sich schutz- und machtlos, und die Medien spielen dabei eine große Rolle.

TT: Welche Unterstützung brauchen traumatisierte und alleingelassene Jugendliche in dieser neuen Umgebung?

Mohammad: Wir versuchen den Jugendlichen so viel Unterstützung wie möglich zu geben. Doch wir leben nicht auf einem anderen Planeten. Sie gehen jeden Tag hinaus, und da spüren sie die fehlende Akzeptanz der Gesellschaft.

TT: Stell dir vor, du wärst Integrationsminister, was würdest du vorschlagen?

Mohammad: Zuerst einmal brauchen die Jugendlichen eine Chance, hier zu arbeiten, zu lernen und ohne Angst leben zu können. Es gibt Jugendliche, die sehr fleißig sind, die sich anstrengen, die Sprache gut zu lernen und sich zu integrieren. Wenn aber all ihre Bemühungen nichts nützen und sie trotzdem einen negativen Bescheid bekommen, ist das sehr frustrierend.

TT: Wenn Jugendliche ohne Schulbildung nach Österreich kommen und hier auch nicht genug Unterstützung bekommen, sind die Probleme dann mitgebracht oder hier gemacht?

Mohammad: Das kann man natürlich nicht genau bemessen, aber ich denke schon, dass ein großer Teil der Probleme auch durch die Situation hier verursacht wird. Die Menschen flüchten vor Krieg und Gewalt. Sie suchen hier Sicherheit und ein besseres Leben, sind aber mit vielen Hindernissen, Unsicherheit und Ablehnung konfrontiert. Viele Schutzsuchende sind traumatisiert, aber nur wenige haben die Möglichkeit, psychologische Betreuung zu bekommen. Ich möchte nicht undankbar gegenüber Österreich sein, denn es gibt auch viele Österreicher*innen, die Flüchtlinge willkommen heißen und sich für ihr Wohl engagieren. Österreich ermöglicht Flüchtlingen auch viele Chancen. Aber die Leute sind verschieden und haben unterschiedliche Bedürfnisse, manche brauchen einfach mehr Unterstützung, vor allem wenn es sich um Heranwachsende handelt.

TT: Wie könnte verhindert werden, dass junge Geflüchtete auf die schiefe Bahn kommen?

Mohammad: Ich kenne Jugendliche, die mit 12 oder 13 Jahren nach Österreich gekommen sind. Bei allen Jugendlichen in diesem Alter – egal ob aus Österreich oder aus anderen Ländern – sehe ich die Neugierde und damit auch das Potenzial, auf die schiefe Bahn abzugleiten, vor allem wenn sie ohne Eltern, ohne Beschäftigung und ohne intensive Betreuung sind.

TT: Wie wirkt es sich auf die jungen Menschen aus, wenn sie hören, dass fleißige und gutintegrierte junge Menschen von Abschiebung bedroht sind?

Mohammad: Auf der einen Seite hört man immer, dass die Leute brav sein, sich integrieren und in Berufen arbeiten sollen, wo dringend Arbeitskräfte gesucht werden. Wenn aber die Leistungen der jungen Leute, die sich angestrengt haben, die Sprache zu lernen und eine Ausbildung zu absolvieren, nicht anerkannt werden, wird damit signalisiert, dass Integration in Wirklichkeit keine Bedeutung hat. Das ist nur eines der vielen Paradoxe in der Asylthematik. Ich betreue einen Jugendlichen, der immer sehr fleißig Deutsch gelernt hat und bei drei verschiedenen Organisationen freiwillige Arbeit leistet. Als sein Freund, der auch so brav war wie er, einen Brief bekommen hat, in dem stand, dass er das Land verlassen muss, war das für ihn ein Schock. Er hat sich völlig zurückgezogen und wollte nicht mehr lernen. Es hat einen Monat lang gedauert, bis er motiviert werden konnte, wieder zu lernen und aus dem Haus zu gehen.

TT: Ein Experte, der selbst aus Afghanistan stammt, hat in einem Medieninterview behauptet, viele Flüchtlinge kommen bereits kriminell nach Österreich. Was sagst du zu dieser Aussage?

Mohammad: Ich weise die Aussage, dass die Jugendlichen bereits kriminell hierherkommen, entschieden zurück. Mit solchen Aussagen wird nur den Rechten in die Hände gespielt. Von einem Gutachter erwarte ich objektive und sachliche Informationen.

TT: Bestimmt ist es für junge Männer, die in Afghanistan aufgewachsen sind, eine große Umstellung, wenn sie nach Europa kommen. Was müssen sie lernen, um sich hier zurechtzufinden?

Mohammad: Natürlich gibt es einen großen Kulturunterschied. Aber wenn ein Österreicher oder eine Österreicherin nach Afghanistan fährt, muss er oder sie sich auch informieren, wie es dort läuft, und sich an die Verhaltensregeln anpassen. Selbstverständlich brauchen die jungen Männer Orientierung und müssen über die Regeln im Umgang mit Mädchen und Frauen in Österreich aufgeklärt werden. Das ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit, und ich sehe mich hier in einer Vermittlerrolle zwischen der österreichischen und der afghanischen Kultur.

TT: Wie sollte mit Menschen umgegangen werden, die hier um Schutz angesucht haben, sich aber dann als gefährliche Gewaltverbrecher entpuppen?

Mohammad: Wer ein so schweres Verbrechen begangen hat wie jene drei Männer in Wien, muss den Gesetzen gemäß bestraft und eingesperrt werden, egal woher die Personen kommen. Wenn man jedoch Kriminelle nach Afghanistan oder in ein anderes Land abschiebt, werden die Probleme nur ausgelagert. Was ist denn mit den afghanischen Frauen? Sind denn die afghanischen Frauen egal? Außerdem bin ich der Meinung, wenn es auf dieser Welt irgendwo eine Krankheit gibt – wie zum Beispiel Corona – muss sie bekämpft werden, sonst breitet sie sich aus. Deshalb halte ich Abschiebungen für den falschen Weg. Mit meiner Arbeit möchte ich einen Beitrag leisten, damit das Zusammenleben in Österreich gut funktioniert. Deshalb werde ich bei der Männerberatung in Wien die Fortbildung META (Mehrsprachige Täterarbeit) absolvieren, damit ich auch mit männlichen Gewalttätern arbeiten kann.

TT: So viele junge Menschen verlassen Afghanistan. Kann das Land auf diese jungen Frauen und Männer verzichten?

Mohammad: Natürlich ist das ein unersetzbarer Verlust für das Land, aber die Menschen haben einfach keine andere Wahl. Ich selbst bin Jurist und habe in Afghanistan einen guten Beruf gehabt, trotzdem konnte ich nicht dortbleiben. Flucht ist keine freiwillige Entscheidung, sondern ein Muss.

TT: Würdest du – sollte es eines Tages wieder friedlich sein – nach Afghanistan zurückkehren?

Mohammad: Das weiß ich nicht, ich glaube aber eher nicht. Nach neun Jahren ist Österreich meine zweite Heimat geworden. Ich kann mir nicht vorstellen, in Kabul wie 2011 zu leben, und würde mich wahrscheinlich dort fremd fühlen. Außerdem hat die Nationalität keine Bedeutung für mich, dort wo ich frei leben und arbeiten kann, bin ich zuhause.

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Das Interview wurde am 09.08.2021 geführt.

veröffentlicht in Talktogether Nr. 77/2021