Kollektiv. Produktionsphilosophie
Von Manfred Holzinger
Jedes Ding in unserer Umgebung, trägt die Spuren der lebendigen Arbeit. „Mein Blickfeld ist mein Reich“, sagte ich einmal zu mir selbst, und was befindet sich in diesem Blickfeld? Gebrauchsgegenstände bevölkern meine Umgebung, und diese Gegenstände, die ich für den Gebrauch erworben habe, weisen auf diejenigen hin, die sie für mich geschaffen haben: Der Teekocher, das Besteck, das Geschirr, der Kühlschrank, der Ofen… all diese Dinge haben eine Entstehungsgeschichte, die auf ihre „Schöpfer*innen“ hinweist, den Arbeiter, die Arbeiterin. Der Joghurtbecher, der Plastikabfallkübel, das Handy, die WC-Schüssel, die Kaffee- und die Wachmaschine – alle erzählen die Geschichte ihrer Herstellung durch Arbeiter*innenhände.
„Die Wolle, die man hier gewinnt
und an dem Rad zu Garne spinnt,
die wird allhier zu Tuch gemacht
und ferner nach der Walch gebracht.
Es folget Farb und Scher hierauf,
womit es fertig zum Verkauf.“
Sgraffito von Karl Reisenbichler am Rathausplatz in Salzburg
Zusammengefasst und auf den Begriff gebracht: Für das Entstehen eines Produkts wird der Begriff Produktion verwendet. Es ist dies ein gemeinschaftlicher Vorgang, und der Raum, in dem er stattfindet, ist die Fabrik. Sie beinhaltet die Produktionsmittel, das sind die Maschinen und Werkzeuge. Hier kommen Mensch und Maschine zusammen und produzieren das Werkstück. Mit dem Werkzeug vervollkommnet der Arbeiter oder die Arbeiterin den Gebrauchsgegenstand, der als Ware einen bestimmten Wert bekommt, den Preis. Einen Preis verlangt auch der Werktätige für seinen Dienst an der Maschine, für die Einwirkung auf das Werkstück. So entsteht in mehreren Arbeitsschritten das fertige Produkt.
Ist es ein einfaches Produkt, bedarf es dazu nur einiger weniger Handgriffe oder eines Tastendrucks, der den maschinellen Vorgang auslöst, mit dem das Werkstück bearbeitet wird. Ist das Produkt komplexer, ist auch die Zahl der Arbeitsschritte größer. So etwa bedarf die Herstellung eines Joghurtbechers nur einiger maschineller Vorgänge: Der Arbeiter oder die Arbeiterin füllt in die Spritzgussmaschine ein Pulver ein, mit einem Tastendruck wird der Becher in die Form gegossen und ist fertig für den Verkauf. Ein Wasserkocher ist schon etwas komplexer, er hat zu einem Teil metallische Bestandteile, die anderen sind aus Kunststoff, es bedarf zu seiner Fertigstellung schon mehrerer Arbeitsschritte. Für den Campingsessel sind viele Handgriffe notwendig: Auf der Biegemaschine werden die Eisenrohre in die notwendige Form gebracht, die Rohre werden zusammengenietet und dann in der Sprühmaschine mit Farbe bestäubt, die fertig zugekauften Sitz- und Rückenbretter werden von den Arbeiter*innen hinaufgedrückt. Jetzt erfolgen die nachbereitenden Arbeitsschritte: Das Verpacken, die Lieferung ins Lager, wo die Produkte in den Transport gehen. (Ich stütze mich bei der Beschreibung dieses Arbeitsvorgangs auf eigene Arbeitserfahrungen.)
Was aber geht im Bewusstsein des Arbeiters/der Arbeiterin vor sich inmitten dieser Arbeitsvorgänge rund um ihn und mit seiner/ihrer Beteiligung?
Er oder sie fühlt sich als Teil eines Ganzen, geht auf in der Musik der Handgriffe, atmet die ölhaltige Luft, die Ausdünstungen der Maschine, den Maschinenlärm und die maschinellen Vorgänge. In seinem achtstündigen Tun nimmt er/sie teil an der Schöpferkraft der Maschine und am Werk der vielen Hände und der vielen Werkzeuge. Er hat acht Stunden lang die Fabrik geatmet, in sich aufgenommen, inhaliert, die Größe des Raumes der Industriehalle, seine mächtigen Tore, durch die der Stapelfahrer, der mit der Produktlast nach draußen fährt. Mit dieser Kraft, die er/sie einen Werktag lang in sich aufgesogen hat, geht er/sie hinaus, und die mitgenommene Kraft erlebt er als Größe und Schönheit von Gottes Natur. Mit dem angenehmen Gefühl einer wohlverdienten Müdigkeit betrachtet er die Lebensvorgänge draußen. Je nachdem, ob er mit dem PKW in die Arbeit kommt oder mit dem Regionalzug, lässt er auf dem Nachhauseweg die Landschaft an sich vorbeiziehen wie in einem Film.
Ich war einmal bei dieser Firma im Verpackungsrondell tätig, zusammen mit zwei kurdischen Arbeitern, und da kam durch den Gang vom Lager herüber eine Arbeiterin mit langem wallendem Haar mit dem Hubwagerl hereingefahren, und da war auf einmal eine MELODIE aus dem deutschen Requiem von Brahms. Natürlich habe ich auf der Weihnachtsfeier mit ihr getanzt.
Hier werde ich zum ersten Mal in theoretischer Hinsicht Bezug nehmen auf den Begriff Entfremdung, der von Karl Marx geprägt wurde, um die Tätigkeit der Arbeitenden zu charakterisieren. Marx meinte, der Arbeiter sei nur „bei sich“ außerhalb der Arbeit und in der Arbeit „außer sich“. Durch meine eigenen Fabrikerfahrungen kann ich das nicht nachvollziehen, es ist meiner Ansicht nach die „Sicht eines Intellektuellen“ auf die Arbeitssphäre, ohne das konkrete Erleben zu berücksichtigen.
Ohne eine Phänomenologie der Arbeit anzustrengen, wie ich schon angeführt habe, geht der Arbeiter auf im Tun, er inkarniert sich gleichsam in den Arbeitsvorgang, in das von ihm überwachte Tun der Maschine, die Begleitmusik der anderen Maschinen und die vielen Handgriffen in der Industriehalle, im Kraftort Fabrik. Später hat es mich gelegentlich in größere leere Kirchen hineingezogen, nicht um zu beten, sondern um auf dem Klavier zu spielen, das da auf der Seite stand. Die Größe eines Raumes geht in einen über, haben auch die Knechte und Mägde, die später die Fabrikhallen füllen sollten, früher ähnliche Gefühle gehabt, wenn sie gemeinsam auf der Tenne gearbeitet haben?
Wenn ich hier ein positives Bild der Fabrikarbeit zeichne, weiß ich sehr wohl, dass zu Marx Zeiten die Arbeiter*innen in einem 15-Stundentag ausgebeutet wurden, mit Kinderarbeit und vielen Arbeitsunfällen. Der moderne Arbeiter in Europa arbeitet nicht mehr bis zum Rand der Erschöpfung, er hat das Anrecht auf Urlaub, und die Sicherheitsrisiken sind vergleichbar gering. Doch wir brauchen nur nach China zu blicken, Jean Ziegler beschreibt es: 1983 wurde China durch Deng Xiaoping in das kapitalistische Weltsystem eingegliedert, er öffnete das Land für westliche Investitionen, privatisierte Zehntausende Fabriken und schaffte nach und nach den Schutz der Arbeiter*innen ab. Der Journalist David Barboza, den Jean Ziegler zitiert, bringt es auf den Punkt: „Die Fabrikarbeiter*innen erleiden an ihrem Arbeitsplatz jedes Jahr den Bruch oder Verlust von 40.000 Fingern.“ Ein normaler Arbeitstag hat zwischen 14 und 16 Stunden, die Löhne werden auf ein Existenzminimum eingefroren. Hier noch ein Auszug aus Jean Ziegler (Der Hass auf den Westen, 2009): „In den Kohlezechen kommen jedes Jahr mangels ausreichender Belüftung und Sicherheitseinrichtungen Hunderte von Arbeitern durch Schlagwetterexplosionen ums Leben.“
Oder betrachten wir die Lage der nepalesischen und bengalischen Wanderarbeiter in Qatar, wo gerade für die Fußball-WM 2022 Hotelkomplexe, Stadien und Infrastrukturen errichtet werden. Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen haben im Februar 2021 gemeldet, dass mindestens 6751 Arbeiter auf WM-Baustellen tödlich verunglückt sind. Kinder arbeiten in Koltanminen im Kongo, in Textilfabriken in Bangladesch und werden für die Ernte von Kakaobohnen in Westafrika herangezogen. (Selbst Kofi Annan, der UNO-Generalsekretär aus Ghana, konnte das nicht abstellen, ebenso wenig wir das gesundheitsschädliche Ausschlachten von Elektromüll durch Kinder.)
Aber warum versuche ich dann trotzdem diese positive Beschreibung der Fabrikarbeit?
Ich beobachtete und erlebte die Kraft der Produktionssphäre Fabrik durch eigene Praxis, und durch das selbst Erlebte liegt es vor mir als positives Tun, als Inkarnation in die Handgriffe und das Werk der Maschine. Zum anderen Teil ergibt sich die positive Wertschätzung der Maschine wegen des Nutzens, den sie für die Menschen hat. Sie produziert die „guten Dinge“, die wir zum Leben brauchen, sie dient uns, so wie der Arbeiter sich gering macht und sie bedient. Der Arbeiter/die Arbeiterin kann als Mitschöpfer gesehen werden. Gott hat alle Natürliche geschaffen, Tiere, Pflanzen, Bäume und die „guten Minerale“, die der Bergarbeiter aus der Erde hervorbringt. Dieser ist nicht gefeit gegen Unglücke, wie wir schon vor einigen Jahren in Soma in der Türkei gesehen haben, wo ähnliche Sicherheitsdefizite beobachtet wurden, wie wir sie aus China kennen.
Aber der für mich wichtigste Beweggrund, die Kraft aus dem „redlichen Tun“ zu beschwören, weht mir aus der Liedzeile der proletarischen Hymne, der Internationale, heraus: „Hoch die Internationale, sie erkämpft das Menschenrecht!“ Die KRAFT, die entsteht beim gemeinschaftlichen Tun, ist der Mehrwert, (der für Marx etwas anderes bedeutete), die Kraft, die wir brauchen, um die Menschenrechte durchzusetzen. Der weltweite Zusammenschluss aller Werktätigen lässt diese Kraft entstehen, die von den Händen auf die Köpfe überspringt. Wir werktätigen Bäuer*innen und Arbeiter*innen in der Lebensmittelindustrie werden es nicht länger ertragen können, dass die wertvollen Güter, die wir ernten und herstellen, auf diesem Planeten so ungerecht verteilt werden. Für 10 Milliarden Menschen könnten die weltweit angebauten Nutz-pflanzen reichen. Arbeiter*innen müssen in allen von der Weltgemeinschaft geschaffenen Gremien Stimmrechte bekommen, damit der Grundsatz FOOD FIRST, das Primat der Ernährungssicherheit, durchgesetzt werden kann.
Wir können auch von einem moralischen Überschuss oder Vorteil reden, den der Arbeiter/die Arbeiterin für sich behaupten darf. Der Unternehmer steht unter dem Druck, Gewinn und Profit zu erwirtschaften, und das färbt auf seinen Charakter ab. Wenn wir also die moralische Komponente ins Spiel bringen und versuchen, eine Anthropologie der Herrschenden und Beherrschten zu skizzieren, erkennen wir den ethischen Vorteil der Lebensweise der Arbeiter*innen, die durch ihre Art des Einkommenserwerbs, nämlich ihre Arbeitskraft zu verkaufen, mit dem Lohn lediglich so viel zur Verfügung haben, damit sie sich und ihre Familien ernähren können. Der Kapitalist dagegen sorgt sich um seinen Gewinn – zwei diametrale Gegensätze des Lebenszwecks prallen hier aufeinander.
Wer die Maschine bedient, sollte sie auch besitzen
August Bebel, von Beruf Drechsler, aus Leipzig gebürtig, kam als Drechslergehilfe bis nach Salzburg. Er war die Stimme der Arbeiterklasse im Reichstag, hat also den parlamentarischen Weg befürwortet, und hielt doch eisern fest an der Kollektivierung des Privateigentums, die herbeizuführen sei. Doch wie könnte sie real werden? Man könnte ein Szenario denken, in dem eine Verfassungsänderung durchgesetzt wird, die es der zu einem Kollektiv zusammengeschlossenen Belegschaft ermöglicht, das Besitzrecht vom Eigentümer zu übernehmen. Dieser könnte dann sogar in die Firma aufgenommen werden, als Schreibkraft oder in der Exportabteilung.
Aber brauchen wir die, die bisher die Manager Geschicke des Unternehmens geleitet haben? Wir sehen, dass der Arbeiter/die Arbeiterin im herrschenden Wirtschaftsmodell an seinen Arbeitsplatz gefesselt ist, während der Manager seine Auslandstätigkeit in großen Städten damit verbinden kann, Konzerte zu besuchen, ins Museum zu gehen und mit Geschäftsfreunden gut zu essen. Und all diese Klassenvorteile sind dem Profiteur der Wirtschaftsordnung noch nicht genug, er lässt sie sich auch noch saftig honorieren mit dem bis zu 30-fachen des Einkommens eines einfachen Arbeiters, einer Arbeiterin. Dieser Unrechts-Zustand bietet Anlass, wie eh und je für Lohngerechtigkeit einzutreten, und was der Manager an Lebensqualität dazu verdient, muss auch den anderen Arbeiter*innen zugestanden werden.
Es gibt auch noch einen anderen Begriff bei Marx, den ich für meine Zwecke in einem anderen Zusammenhang verwende: die Akkumulation. Marx bezeichnete damit die bis ins Uferlose steigende Anhäufung des Kapitals in den Händen der Bourgeoisie, der Geldmenge, die durch den Mehrwert geschaffen wird. Ich sehe eine neue Akkumulation am Werk, die sich aufgrund der neuen Informationstechnologien auftut. Die neuen Informations-spender ermöglichen es den Arbeiter*innen, sich Wissen zu erwerben und sich global zu vernetzen.
Hier wird die Frage eingeschaltet: Was nützt wem wofür? Komplexe soziale Analysen von Marcuse oder Benjamin nützen den Arbeiter*innen nicht, sondern Intellektuelle, die aus den unteren Schichten entwachsen und ihrer Herkunft verpflichtet sind, oder auch geistige Arbeiter*innen aus dem Bildungsbürgertum, die durch Sympathie und ein unbedingtes Solidaritätsgefühl mit der Arbeiterklasse verbunden sind. Und es nützt den Intellektuellen, wenn sie die Orte der KRAFT besuchen, denn die Arbeiter*innen sind die Mitte der Gesellschaft! Der Arbeiter ist der König, die Arbeiterin ist die Königin, und die Fabrik ist ihr Palast, besucht sie in ihrem Palast!
veröffentlicht in Talktogether Nr. 78 / 2021
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