Der Imperialismus auf den Tellern
Während die Menschen in Europa Angst haben, was passiert, wenn die Gaslieferungen ausbleiben, sorgen sich die Menschen in vielen Ländern um ihr Brot. Laut FAO und anderen Organisationen besteht aber derzeit keine Gefahr einer Nahrungsmittelknappheit. Warum sind trotzdem so viele Länder von Hungerkrisen bedroht? Die Krise hat jedoch lange vor dem Ukraine-Krieg begonnen. Nicht die fehlenden Angebote sind das Problem, sondern die Strukturen des globales Ernährungssystems.
Als die Kolonialmächte Afrika, Asien und Südamerika überfielen, ging es ihnen nicht nur um die Ausbeutung der Ressourcen und Arbeitskräfte dieser Länder. Die Kolonialherren waren auch auf der Suche nach Märkten für die Produkte, die sie aus den in diesen Ländern geraubten Ressourcen gewonnen haben. Die Entwicklung und die Bedürfnisse der überfallenen Menschen dagegen standen nicht auf ihrem Plan, denn es ging und geht heute nur um die Interessen der Mächtigen.
Importierte Spaghetti zu kaufen, statt Mais und Hirse zu essen, ist ein Statussymbol. Eine Familie ist stolz darauf, sich leisten zu können, dass jeden Tag Barilla auf den Tisch kommt, und sieht auf die Nachbarsfamilie herab, die jeden Tag einheimisches Getreide isst. Wenn du als Kind gefragt wirst, was du heute zum Mittag gegessen hast, sag bloß nicht, dass du Mais- oder Hirsebrei gegessen hast, denn dann wirst du ausgelacht. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter für uns Spaghetti und für meinen Vater und sich selbst Hirse gekocht hat. Meine Eltern sind mit Mais, Hirse, Bohnen, Milch und Fleisch aufgewachsen. Daher sahen sie Spaghetti nicht als nahrhaftes und sättigendes Lebensmittel an. Die Generation meiner Eltern schrumpft, dagegen werden wir und unsere Kinder immer mehr. Das bedeutet, es werden mehr importierte Lebensmittel auf dem Markt angeboten und immer weniger einheimische Getreidesorten.
Die Bauern, die weiterhin traditionelles Getreide angebaut haben, mussten einmal lange auf den Regen warten. Zwei Perioden lang hatte es nicht geregnet, Getreidelieferungen aus dem Ausland waren noch nicht angekommen, es herrschte Hungersnot. Dann begann es endlich zu regnen, und die Bauern fingen sofort mit ihrer Arbeit an. Doch bevor sie ihre Ernte auf den Markt bringen konnten, kamen mit Getreide vollbeladene Schiffe am Hafen an. Dieses Getreide überschwemmte in wenigen Tagen die Märkte. Es wurde sehr billig und teilweise sogar kostenlos abgegeben. Die Bauern hörten mit ihrer Arbeit auf, kauften das billige Getreide oder bekamen nach langem Anstellen ein paar Kilo gratis. Manche nennen diese Art von Spenden „Hilfe“, andere bezeichnen sie als Falle der Abhängigkeit.
Die Nudelfabriken arbeiten Tag und Nacht, während die afrikanischen Bauern nicht mehr von der Arbeit auf ihren Feldern leben können. Dann kommen sie in die Stadt und kaufen auch Spaghetti. Aber wie lange werden sich die Menschen importierte Produkte leisten können, wenn sie kein Einkommen haben? Wären die Italiener schlauer gewesen und hätten langfristig gedacht, hätten sie Fabriken in Afrika gebaut, wo Spaghetti aus einheimischen Getreidesorten hergestellt werden, die man sogar in Italien anbieten kann. So hätten beide Seiten profitiert.
„Manche fragen: Wo ist er denn, der Imperialismus? Der Imperialismus – schaut in eure Teller!
Wenn Ihr importierte Reis-, Mais-, Hirsekörner esst – das ist der Imperialismus,
ihr braucht gar nicht weitersuchen!" (Thomas Sankara)
Der Ukraine-Krieg und die ausbleibenden Weizenlieferungen haben uns ins Bewusstsein gerufen, wie aktuell dieses Zitat heute noch immer ist. Thomas Sankara, der von 1983 bis 1987 Präsident von Burkina Faso war, fragte: Warum wird der Markt mit Importen überschwemmt, obwohl unsere Bäuer*innen das Potenzial haben, genug Getreide anzubauen? Warum sollte ein burkinischer Kleinbauer Baumwolle anbauen, obwohl er dafür auf dem Weltmarkt kaum etwas bekommt? Sankara war überzeugt, dass diejenigen, die den Menschen in Afrika Essen geben, ihnen auch ihren Willen aufzwingen wollen, und dass Nahrungsmittelhilfen aus dem Ausland die eigenen Kräfte blockieren. Die einzige Art für die Menschen seines Landes, frei und unabhängig zu leben, war für ihn, zu produzieren, was im Land benötigt wird, und zu konsumieren, was im Land erzeugt wird.
Burkina Faso liegt in der Sahelzone und gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Die meiste Zeit des Jahres herrscht Trockenheit und es weht ein heißer und staubiger Wüstenwind. Trotzdem hat Thomas Sankara in seiner kurzen Regierungszeit bewiesen, dass sich auch ein Land mit knappen Ressourcen und unzuverlässigen Niederschlägen von Nahrungsmittelimporten unabhängig machen und sogar eine bescheidene Exportwirtschaft aufbauen kann. Da fragten sich die Herrschenden in den Industrieländern: Wohin mit unseren Überschüssen, wenn auch andere Länder diesem Beispiel folgen? Sankara stand ihren Plänen im Weg und musste dafür mit seinem Leben bezahlen.
Unser Brot, unser Leben, unsere Freiheit
Die explodierenden Weizenpreise bieten für viele afrikanischen Länder auch die Chance, traditionelle Agrarprodukte wiederzuentdecken. Diese haben den Vorteil, dass die Bauern und Bäuerinnen für ihren Anbau kein teures Saatgut kaufen müssen. Zudem sind traditionelle Getreidearten und Feldfrüchte an das jeweilige Klima angepasst. Hirse zum Beispiel braucht wenig Wasser und ist daher für trockene Regionen geeignet. Darüber hinaus enthalten Hirsekörner viel Eiweiß, wertvolle Vitamine und Spurenelemente, und liefern somit einen wertvollen Beitrag für eine gesunde Ernährung.
Die derzeitige Krise zeigt, wie fragil die globalisierte Nahrungsmittelversorgung ist. Noch schlimmer ist, dass sie von Regierungen und internationalen Organisationen dazu benützt wird, das krisenanfällige Modell zu festigen. Weil aber kein Mensch ohne Nahrung überleben kann, können wir uns keine Landwirtschaft leisten, die unsere Umwelt zerstört und die Klimaerwärmung anheizt. Wir brauchen keine Spekulation mit Nahrungsmitteln und kein Verteilungssystem, das den Konzernen Profite beschert, während Menschen hungern. Wir brauchen eine Landwirtschaft, die der Bevölkerung leistbare und gesunde Nahrung sichert und den Produzent*innen ein ausreichendes Einkommen garantiert. Aufgrund der Klimaerwärmung und ausbleibender Regenfälle ist es zudem notwendig, ressourcenschonende Anbaumethoden zu entwickeln, mit denen die Biodiversität gefördert und Wasservorräte geschützt werden können.
Viele afrikanische Länder haben das Potenzial, mehr Nahrungsmittel zu produzieren, als sie für den eigenen Markt benötigen. Damit die Menschen in Afrika die große Vielfalt der Nahrungsproduktion nutzen und lokale Märkte mit afrikanischen Produkten beliefert werden können, müssen aber auch die Handelsverbindungen innerhalb des Kontinents verbessert werden, weil es heute oft billiger ist, Produkte aus Europa zu importieren, als Waren von einem Teil Afrikas in einen anderen zu transportieren.
veröffentlicht in Talktogether Nr. 81/2022
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