Im Zentrum der Sufis PDF Drucken E-Mail

Im Zentrum der Sufis

Erinnerungen an meine Kindheit

Von Warsame Ahmed Amalle

Gleich nach dem Abendgebet trafen wir uns hinter dem Zentrum und sangen religiöse Gesänge. Obwohl wir in einem dichtbesiedelten Stadtviertel lebten, gab es keine Beschwerde wegen Lärmbelästigung. Ganze im Gegenteil, je länger wir sangen, umso mehr Menschen sind gekommen. Frauen, Männer, Jugendliche, alle Seite an Seite. Die Frauen trugen keinen Schleier, sondern ein normales Kleid, einen Schal über den Schultern und ein Tuch über den Haaren. Ob ein Mann einen Bart trug oder nicht, interessierte niemanden. Ich kann mich auch daran erinnern, dass die Verwalterinnen und Verwalter des Zentrums weiße Tücher trugen, und wenn ein „Siyaara“ oder einen anderen Anlass gab, waren fast alle männlichen Mitglieder und der UnterstützerInnen des Zentrums in weiße Tücher gekleidet. Die Frauen trugen farbite Kleider, denn die Frauen kleiden sich nur in Weiß, wenn ihr Mann gestorben ist.

Das Sufi-Zentrum bestand aus einer Moschee, einem Hof, einer Koranschule und einer großen Küche, die die ganze Woche in Betrieb war. Jede oder jeder, die oder der Hunger hatte, bekam dort etwas zu essen. Wenn es nach meinem Wunsch gegangen wäre, wäre ich nur ins Zentrum gegangen, um dort mitzusingen, aber nicht in die Koranschule. In der Koranschule fühlte ich wie ein Vogel im Käfig, aber in der Gesangsgruppe fühlte ich mich frei und die Umgebung wirkte auf mich friedlich. Aber leider war für meine Eltern das Singen zu wenig, und ich musste neben der staatlichen Schule auch die Koranschule besuchen.

Die somalische Hauptstadt Mogadischu gehört zu den ältesten Städten Ostafrikas. Die Stadt ist zwei Teile aufgeteilt. In der Altstadt wohnen in der Mehrheit hellhäutige Somalis, deren Vorfahren ursprünglich aus dem arabischen Raum und Persien an die Stadt am Indischen Ozean gekommen waren. In diesem Stadtviertel kann man bis heute altes Gebäude und Moscheen bewundern, die im 14. Jahrhundert gebaut wurden. Die Altstadt hat schmalen Gassen und ist von orientalischer Architektur geprägt. Die Menschen, die in diesem Stadtteil wohnten (wohnten deswegen, weil nach dem Krieg vieles durcheinandergekommen ist), waren meistens Geschäftsleute. Die Frauen in diesem Viertel haben sich schon immer mit schwarzen Schleiern verhüllt, aber ich würde meinen, nicht nur wegen der Religion, sondern weil sie ihre alte Kultur und ihre Traditionen beibehalten wollten.

Unser Zentrum lag im Bezirk Hodan, im Süden von Mogadischu. Die Bewohner und Bewohnerinnen dieses Stadtviertels gehörten den unterschiedlichsten Schichten der Stadtbevölkerung an. Der größte Teil von ihnen zählte zu den Anhänger*innen des Sufi-Zentrums. Was das Zentrum bekannt und wichtig machte, war, dass die Mitglieder der damaligen Regierung und vor allen der damalige Außenminister jährlich ihre Unterstützung aussprachen und auf den Veranstaltungen manchmal zu sehen war. Auch die Medien waren da und berichteten über die Feste.

Das Zentrum veranstaltete Feste und Pilgerreisen. Wenn es ein Fest, kamen viele Menschen, auch Menschen, die am Rand der Gesellschaft standen, sogar Menschen, die Alkohol tranken und nie beteten, waren in diesem Zentrum willkommen und feierten mit. Wir standen im Kreis, Schulter an der Schulter, ob Männer oder Frauen spielte dabei keine Rolle. Vier Männer, die im Kreis nebeneinanderstanden, waren die Chorführer. Sie sangen zuerst eine Strophe vor, und wir sangen ihnen nach. Die Lieder, die wir gemeinsam sangen, waren religiöse Lieder, die Allah und seinen Gesendeten lobten. Die Text und die Melodie waren mitreißend, und wenn wir gemeinsam sangen, wurde es immer besser und wir wollten gar nicht mehr aufhören.

Meine Freunde und ich hatten Spaß dabei und waren glücklich, unsere Freizeit in diesem Zentrum zu verbringen und jeden Donnerstagabend mitsingen zu dürfen. Jedoch wussten wir damals weder, was es für eine Gruppe war, der wir uns angeschlossen haben, noch was Sufismus bedeutet. Wir wussten auch nicht, warum unsere Eltern jedes Jahr einmal an der vom Zentrum organisierten Pilgerreise zum Grab von Sheikh Aweys, einem islamischen Gelehrten und Lehrer, der von vielen Menschen sehr verehrt wird, teilnahmen. Später, nachdem als ich das Auftreten terroristische Gruppe und ihre Gewalttätigkeit erlebet hatte, habe ich erfahren, dass ich bei einer friedlichen Richtung des Islam dabei gewesen war, die Sufismus genannt wird.

Doch nicht alle teilten unsere Freude. Es kam eine Zeit, in der immer mehr Frauen mit Schleier und mit Männern mit großen Bärten auf der Bildfläche erschienen. Diese kritisierten alles, war in unserem Zentrum stattfand. Mit der Zeit erfuhren wir, dass sie meinten, was wir dort machen, sei kein richtiger Islam, und wir seien Gotteslästerer. Diese Leute waren Anhänger einer Abspaltung der ursprünglich aus Ägypten stammenden Muslim-Bruderschaft, die in Somalia allmählich Fuß fasste. Die Muslim-Brüder sahen sich als Vorbilder für islamische Tugend und wollten ihre Moralvorstellungen verbreiten. Diese Gruppe hatte damals nicht viel Mitglieder, und wir haben sie und ihre Kritik nicht ernstgenommen. Im Nachhinein denke ich, es wäre damals leichter gewesen, ihre Einstellungen zu bekämpfen, als heute.

Während der Islam der Sufis mit der somalischen Kultur vereinbar war, wollte diese Gruppe den Menschen die Traditionen der arabischen Golfstaaten überstülpen. Die Männer trugen lange arabische Hemden und die Frauen, Frauen, die zuvor ohne Kopftuch auf die Straße gegangen waren, schleppten plötzlich lange schwarzer Kleider über den Boden und versteckten ihrer Gesichter. Auch der Koranunterricht veränderte sich. Wir sind immer auf dem Boden gesessen und hatten ein Holzbrett, auf dem wir die Koranverse mit aus Ruß und Milch hergestellter Tinte geschrieben haben. Sie dagegen hatten genug Geld zur Verfügung, um ein ganzes Haus zu mieten und eine Schule einzurichten. Auch die Art, wie sie den Koran gelesen haben, war anders.

Die damalige Regierung wollte in Somalia ein sozialistisches Programm umsetzen und wusste, dass die Sufis in der Bevölkerung sehr stark verwurzelt waren, und musste sich deshalb bemühen, sich mit ihnen gutzustellen. Vor den neu aufgetauchten fundamentalistischen Gruppen hatte sie dagegen keine Angst, da sie damals noch nicht sehr große einflussreich waren. Sie verfolgten zwar den politischen Anspruch, eine islamische Ordnung zu schaffen, doch sie bekämpften die Regierung nicht aktiv, sondern verbreiteten ihre Ideologie durch Propaganda und die Erziehung der Kinder. Sie waren auch nicht bewaffnet und gefährlich wie apäter Alshabaab, Boko Haram oder ISIS und andere Gruppen, aber man könnte sie als ihre ideologischen Vorgänger einstufen. Später ist dann eine gewaltbereite Splittergruppe der Muslim-Bruderschaft nach Afghanistan gefahren, um dort zu kämpfen, und ab diesem Zeitpunkt hat der Terror begonnen.

Für uns waren diese Leute wegen ihrer Kleidung auffällig. Sie sprachen unsere Sprache, vielleicht waren sie sogar deine Onkels oder Tanten, daher vertraute wir ihnen. Sie versuchten uns zu überreden, sich genauso wie sie zu kleiden wie sie, und uns davon abzubringen, ins Sufi-Zentrum zu gehen und dort gemeinsam mit Sufis zu singen. Jedoch haben wir ihr Gerede abgelehnt, denn für uns war das Zentrum eine vertraute Umgebung, in der wir uns wohl fühlten, und vor allen das gemeinsame Singen bereitete uns Freude. Es gab dort auch keine Trennung der Geschlechter, wie diese Gruppe es wollte, und nachdem wir gesungen haben, sind wir alle im Kreis beieinandergesessen und haben gemeinsam gegessen.

Bevor diese Gruppe auftauchte, dachte sich keiner etwas dabei, wenn die Frauen und Männer, Mädchen und Buben nebeneinandersaßen. Warum sollten sich plötzlich die Geschlechter voneinander fernhalten? Ich finde, das sind rein arabische Sitten, die sie unter dem Deckmantel der Religion versteckten, und die nichts mit unserer somalischen Kultur zu tun haben. Während des Kriegs zwischen Somalia und Äthiopien sind viele somalische Männer nach in Saudi-Arabien gefahren, um dort als LKW-Fahrer, Chauffeure und Handwerker zu arbeiten. Die Frauen haben dort als Haushälterinnen gearbeitet und dabei schlechtere Erfahrungen gemacht als die Männer. Die Arbeiter*innen haben Geld nach Somalia gebracht und damit Häuser gebaut. Doch nicht alle haben nur Riyal in der Tasche gehabt, manche sind mit dieser Ideologie im Gepäck zurückgekommen. Sie hatten die Mission, die somalische Gesellschaft nicht nur religiös, sondern auch politisch und kulturell zu verändern. Die Anhänger des Sufismus haben sich aber immer dagegen gewehrt.

Ich habe mich früher über die Schikanen unseres Koranlehrers beschwert. Doch wenn ich heute vier- oder fünfjährige Mädchen sehe, die Kopftücher tragen müssen, wenn ich eine somalische Frau sehe, die gegen ihren Willen oder wegen dem Druck der Mehrheit umhüllt von mehreren Schichten von Kleidern auf die Straße geht, oder wenn die Kinder nicht ohne Angst vor Bomben auf die Straße gehen können, wenn jungen Menschen eine Zukunftsperspektive verwehrt wird, weil sie nicht in die Schule gehen können, wenn die Eltern jeden Tag Angst haben, dass ihre Kinder verschleppt, getötet oder aufgehetzt werden, um andere Menschen zu hassen, weil sie eine andere Kultur, einen anderen Glauben oder eine andere Lebenseinstellung haben, dann weiß ich, dass ich damals doch Glück gehabt hatte.

Unser Vorbeter in der Moschee, hat immer zu uns gesagt: Es gibt nur einen Gott und wir sind seine Geschöpfe. Es ist nicht deine Aufgabe sie zu beurteilen, was andere tun oder woran andere glauben. Wichtig ist nur, dass du allen anderen Menschen und überhaupt allen Lebewesen mit Respekt begegnest. Es gibt auch keinen besseren oder schlechteren Gott, denn es gibt nur einen Gott für alle, nur die Menschen verehren ihn auf unterschiedliche Weise. Die Botschaft der Sufis war für mich klar: nämlich Toleranz, Weltoffenheit, Lebensfreude und Friedlichkeit und diese Botschaft hat mir Stärke gegeben und ist bis heute ein Leitfaden für mein Leben.

Warum erzähle ich euch diese Geschichte: Die somalische Bevölkerung, vor allen in den südlichen und zentralen Regionen des Landes, haben sich entschlossen, ehr die Gewalt und die Ausbeutung von der Terrorgruppe Alshabab nicht länger zu dulden. Nun kämpft die Bevölkerung seit Mai vereint gegen die Terroristen, und die jetzige Regierung, die zwar sehr schwach ist, hilft der ihre dabei. Somit ist Terroristen schwächer geworden und es gibt in Somalia wieder Sufis-Feste. Das sehe ich als Niederlage der Terroristen und Gewinn der Bevölkerung.

Sufismus

Sufismus oder Sufitum ist eine Sammelbezeichnung für islamische Strömungen mit einer spirituellen Orientierung aufweisen, die oft mit dem Wort Mystik bezeichnet wird. Das Wort Sufi stammt wahrscheinlich vom arabischen Wort für Wolle „suf“. Damit bezeichnete man die, die Wolle tragen, was bei den Asketen üblich war. Wollgewänder galten als Zeichen der Bescheidenheit und Einfachheit.

Die meisten Sufis berufen sich auf Ali, den Schwiegersohn und Cousin des Propheten. Dieser gilt als Hüter der Weisheit, weil ihm der Prophet Mohammed vor seinem Tod die mystischen Geheimnisse übertragen hat. Wie für jeden Muslim ist auch für den Sufi das im Koran offenbarte Gotteswort die Grundlage seines Lebens. Die Sufis sind jedoch überzeugt, dass es keines Mittlers bedarf, um mit Gott in Verbindung zu treten, denn ihr Ziel ist die Einswerdung mit Gott, die sich durch mystische Erfahrungen mithilfe von Askese, Atemtechniken, Gesang und Tanz zu erreichen versuchen.

Wo immer der (die) Tanzende mit dem Fuß auftritt,
da entspringt dem Staub ein Quell des Lebens.

Dschalal ad-Din Muhammad Rumi (1207 - 1273)

Der Mittelpunkt der sufistischen Lehre ist die Liebe, die immer im Sinne von „Hinwendung zu Gott“ zu verstehen ist. Diese Liebe wird in den Gedichten vieler islamischer Mystiker besungen. Die Sufis suchen durch tägliche Meditation (Dhikr) Gott nahezukommen, wobei die Musik ein Bestandteil des Dhikr ist. Die ersten Sufis soll es schon zu Lebzeiten des Propheten Mohammed gegeben haben. Die Bewegung hat es in den darauffolgenden Jahrhunderten geschafft, sich über weite Teile der Welt zu verbreiten: vom Iran bis nach Indien, von der Türkei bis nach Ägypten und nach Ost- und Westafrika.

Die aufgeklärtesten und fortschrittlichsten muslimischen Zivilisationen der Geschichte waren vom Sufismus gekennzeichnet. Andererseits ist die Geschichte des Sufismus geprägt von Verfolgung. Schon früh wurden die frommen Mystiker von den Machthabern islamischer Länder verfolgt oder sogar getötet. Das wurde häufig mit religiösen Argumenten begründet. Tatsächlich erkannten die Mystiker Gott in allen Dingen, da ihrer Ansicht nach schließlich alles aus Gott als dem einzigen Schöpfer entsteht.

Im Gegensatz zu anderen Muslimen verwechseln Sufis die muslimische Religion nicht mit arabischen Traditionen und halten an den Traditionen ihrer eigenen Kulturen fest. Bekannt geworden sind die Sufis für ihre Poesie in Arabisch. Persisch, Urdu und anderen Sprachen. In Europa wurde die Sufi Dichtung durch den persischen Lyriker Hafiz bekannt, der Goethe zu seinem West-östlichen Diwan (1819) angeregt hat. Auch Musik hat für Sufis eine große Bedeutung, weil sie in ihr einen Ausdruck der Freude über die Gegenwart Gottes sehen. In Pakistan und Indien hat die Musik der Sufis ein großes Publikum gefunden und ist durch bekannte Sänger*innen wie Nusrat Fateh Ali Khan oder Abida Parveen auch im Westen bekannt geworden.

veröffentlicht in: Talktogether Nr. 82/2022