Gespräch mit Viktor Eberl
Voices of the Next Generations
TT: Wann und durch wen hast du von den Verbrechen des Nazi-Regimes erfahren?
Viktor: Durch meinen Großvater, Dr. Edouard Calic, habe ich schon als Kind sehr viel über die Verbrechen des Nazi-Regimes und des "Dritten Reichs" erfahren. Dadurch, dass er Häftling des Konzentrationslagers Sachsenhausen war und sich nach dieser Zeit als Historiker und Autor vieler Sachbücher der Aufklärung über diese Zeit gewidmet hat, war er meine erste Erfahrungsquelle und hat maßgeblichen Einfluss auf mich gehabt. Obwohl er gestorben ist, als ich noch sehr jung war, haben die Gespräche mit ihm mein Interesse für dieses Thema geweckt.
TT: Was ist dein Antrieb, dich mit diesem Thema auseinanderzusetzen?
Viktor: Durch die Gespräche mit meinem Großvater habe ich viel darüber erfahren, was er erlebt hat und was er durchmachen musste, aber auch über seine Kontakte mit anderen Häftlingen, die er auch nach der Zeit im Konzentrationslager weiter gepflegt hat. Durch ihn habe ich erfahren, dass Worte und Ideologien eines Tages sehr schnell zu Taten werden können, wenn es eine charismatische Führerfigur gibt und Leute, die die Message voranbringen. Auch wenn ich diese Zeit nicht selbst erlebt habe, waren diese Gespräche für mich ein großer Antrieb, mich dafür einzusetzen, dass man die Verbrechen der Vergangenheit niemals vergisst. Wenn man verhindern will, dass so etwas noch einmal passiert, ist es zuerst einmal wichtig, zu wissen, was in der Vergangenheit geschehen ist, um auf dieser Grundlage Präventivarbeit leisten zu können.
TT: Seit wann bist du Mitglied des Internationalen Sachsenhausen Komitees und wie bist du dazu gekommen?
Viktor: Ich habe die KZ-Gedenkstätte schon in jungen Jahren besucht. Ich war beeindruckt, wie die Gedenkstätte es geschafft hat, die Verbrechen dieser Zeit zu dokumentieren und aufzuarbeiten. Während meines Studiums habe ich dann ein Praktikum in der Mediathek der Gedenkstätte gemacht. Dabei hatte ich die Gelegenheit, im Archiv die Geschichte des Konzentrationslagers und seiner Insassen zu erforschen, dadurch bin ich immer vertrauter mit der Materie geworden. Vor zwei Jahren ist die Gedenkstätte auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob ich Mitglied im Internationalen Sachsenhausen-Komitee werden möchte. Das hielt ich für eine vernünftige Idee, weil ich der Ansicht bin, dass die Erinnerungskultur und das "Nicht Vergessen" auch in den nächsten Generationen stattfinden müssen, und dass ich als junger, dem Thema aufgeschlossener Mensch hier einen Beitrag leisten kann.
TT: Was macht das Komitee und was sind deine Aufgaben?
Viktor: Das internationale Sachsenhausen-Komitee ist eine Gruppe von Menschen, die sich verpflichtet hat, die Erinnerung an die Verbrechen des NS-Regimes lebendig zu erhalten, damit das, was damals geschehen ist, nicht noch einmal passiert. Ich selbst bin Mitglied des Komitees, habe aber dort keine aktiven Aufgaben. Aber vor einem Jahr habe ich die Möglichkeit gehabt, am Symposium "Next Generations" in der Gedenkstätte teilzunehmen, welches sich die Aufgabe gestellt hat, Nachkommen der Insassen des Konzentrationslagers aus verschiedenen Ländern zusammenzubringen. Das Seminar bot den Teilnehmer*innen die Gelegenheit, sich kennenzulernen, Freundschaften zu knüpfen und sich darüber auszutauschen, welche Auswirkungen die leidvollen Erfahrungen ihrer Großeltern oder Urgroßeltern auf ihr eigenes Leben haben. Bei diesen Gesprächen haben wir schnell festgestellt, wie stark der Einfluss der Ereignisse der Vergangenheit auf uns auch heute immer noch ist.
Zum anderen haben wir über die Frage diskutiert, wie wir mit gemeinsamen Projekten die Tradition der Erinnerung in die nächsten Generationen weitertragen können, um damit einen wichtigen Baustein zur Verhinderung zukünftiger Katastrophen zu legen. So haben wir beschlossen, die Website "Voices of the next generation"[1] ins Leben zu rufen, auf der Nachkommen der dritten und vierten Generation über ihren Umgang mit der Verfolgungsgeschichte ihrer Großväter und Urgroßväter berichten. Die Website bietet Platz für historische, persönliche und künstlerische Reflexionen über die noch immer andauernden Auswirkungen der Verfolgung und Ermordung durch den Nationalsozialismus. Das Seminar fand in der Jugendherberge statt, die in einem Haus untergebracht ist, das damals einem hochrangigen Nazi gehörte. Es war schon ein bisschen makaber, hier mehrere Tage zu verbringen und darüber zu diskutieren, was zu tun ist, damit man die Taten auch dieses Mannes nicht vergisst. Mittlerweile haben wir schon ein zweites Seminar abgehalten, und es war schön zu sehen, wie sehr die Gruppe das Leben der Mitglieder verändert hat.
TT: Inwiefern hat die Haft in Sachsenhausen das Leben auch der nachfolgenden Generationen geprägt? Und wie hat die Gruppe das Leben der Betroffenen verändert?
Viktor: Wenn jemand mehrere Jahre im Konzentrationslager inhaftiert war und danach auf den Todesmarsch geschickt wurde, ist das ein tiefgreifender Einschnitt in der Lebensgeschichte, der zwangsläufig auch die nachfolgenden Generationen beeinflusst. Es war interessant zu sehen, dass viele der Nachkommen der KZ-Opfer eine künstlerische Laufbahn eingeschlagen haben, um ihre Empfindungen zu verarbeiten. Und wenn du dann eine Person aus einem anderen Land triffst, deren Opa als politischer Häftling mehrere Jahre im KZ-Sachsenhausen eingesperrt war, genauso wie dein eigener Opa, dann ist dir klar, dass sich die beiden wahrscheinlich gekannt haben und sich oft über den Weg gelaufen sein mussten. Mittlerweile ist die Gruppe zu einer zweiten Familie geworden. Wir treffen uns regelmäßig entweder Online oder wenn wir eine Stadt besuchen, in der ein Mitglied der Gruppe lebt. Wenn man diese Erfahrungen in der Familiengeschichte teilt, ergibt das eine Verbindung auf einer ganz anderen Ebene, das merkt man auch am Umgang miteinander.
TT: Seid ihr auch mit Widerstand konfrontiert?
Viktor: Unsere Gruppe nicht, aber von der Gedenkstätte hören wir, dass bei Führungen oder im Austausch in der Gedenkstätte manchmal eine Argumentation an den Tag gelegt wird, mit der die Nazi-Verbrechen, ich will nicht sagen verharmlost, aber zumindest in Relation gestellt werden. Zudem hat sich die Gedenkstätte in den letzten Jahren auch der Seite der Täter gewidmet, was eine zusätzliche Angriffsfläche bietet. Es war für uns schon heftig, zu sehen, wie viele der Täter aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen im Nachkriegsdeutschland ihre Karriere nahtlos fortsetzen konnten. Es wird oft gesagt, dass man diese Leute für den Wiederaufbau gebraucht hat, was ich jedoch für ein schwieriges Argument halte. Im letzten Jahr ist dann auch einmal die Frage aufgetaucht, ob wir auch eine Gruppe gründen sollten, die mit den Nachfahren der Täter in Austausch tritt. Diese Idee ist jedoch vorerst zurückgestellt worden, weil wir uns zuerst mit dem Fortkommen unserer eigenen Projekte und der Erinnerungskultur in der Gedenkstätte widmen wollen. Wir müssen uns außerdem gegen das Argument wehren, dass der Weltkrieg jetzt seit fast 80 Jahren vorbei ist und es doch endlich gut sein müsse.
TT: Wird von der Politik deiner Meinung nach genug getan, damit solche Verbrechen nicht wieder passieren?
Viktor: Wir sehen gerade angesichts der aktuellen Situation, ob das nun die Pandemie oder der Krieg in der Ukraine ist, dass viele Menschen in Existenznot geraten. Politische, ökonomische und soziale Missstände sind jedoch Auslöser für soziale Unruhen und Frustration. Wenn die Politik keine Antworten auf die Probleme liefern kann, bietet das einen idealen Nährboden für die Propaganda rechter und rechtspopulistischer Parteien, die mit ihrem Hass das gesellschaftliche Klima vergiften. Das hat man in Frankreich gesehen und sieht es jetzt in Italien, aber auch in Deutschland und in Österreich. Wenn es so weiter geht, wird in der Gesellschaft bald so viel Frustration herrschen, dass man jenen, die einfache Lösungen versprechen, Tür und Tor öffnet. Wenn jedoch europaweit rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien an die Macht kommen, wird das zweifellos die europäischen Gesellschaften grundlegend verändern. Solche Bewegungen heften sich zwar immer die Freiheit an die Fahnen, doch in Wirklichkeit haben sie etwas ganz anderes im Sinn.
Ob genug getan worden ist? Es gibt Länder, in denen das Thema Nationalsozialismus aufgearbeitet wurde, aber auch andere, die das nicht oder in zu geringem Ausmaß getan haben. Das Ergebnis sieht man, wenn rechte Parteien in manchen Regionen bis zu 30 Prozent der Stimmen bekommen. Ich bin auch der Meinung, dass in einigen Teilen Europas das Bildungssystem versagt hat. Ich finde den Ansatz gut, wie er beispielsweise in Deutschland praktiziert wird, dass Schüler*innen mindestens einmal eine KZ-Gedenkstätte besucht haben sollten. Manche meinen, das Thema sei für die jungen Menschen nicht zumutbar, aber ich bin davon überzeugt, dass ab einem gewissen Alter das Thema ausführlich behandelt werden kann und muss.
TT: Warum ist Erinnerungsarbeit so wichtig?
Viktor: Ich denke, dass es für eine aufgeschlossene und fortschrittliche Gesellschaft notwendig ist, auch die Tiefpunkte unserer Zivilisation anzusprechen und in Erinnerung zu rufen, dass aus Worten auch Taten werden können. Meiner Meinung nach ist es sehr wichtig, auch jüngere Leute einzubinden, die mehr Distanz zu dieser Zeit haben und das Thema Erinnerungskultur auch in ferner Zukunft vorantreiben können. Ich habe nämlich die Befürchtung, dass irgendwann die Frage im Raum stehen wird, warum man so viel Geld in die Gedenkstätten und Museen stecken sollte. Außerdem ist inzwischen fast jeder Insasse der Konzentrationslager tot, und es gibt nur mehr die zweite oder dritte Generation, die darüber reden kann.
TT: Antisemitismus wird heute scharf verurteilt, was gut und richtig ist. Andererseits verletzt die Europäische Union selbst Menschenrechte, zum Beispiel im Umgang mit Geflüchteten. Wie siehst du das?
Viktor: Ich befürchte, dass man die Schwächsten in der Gesellschaft gegeneinander ausspielen will, um von der eigenen Unfähigkeit abzulenken, wie wir es gerade in Österreich sehen. Man versucht, die Wut der Bevölkerung auf eine Gruppe zu lenken, die sich nicht wehren kann, indem man davon redet, dass man wieder so viele Flüchtlinge hat und Zelte aufstellen muss.
TT: Warum haben nicht rechtsgerichtete Parteien dieser Propaganda nicht viel entgegenzusetzen?
Viktor: Populistische Bewegungen werden immer stärker, weil die Politik keine Antworten auf die drängenden Herausforderungen unserer Zeit liefert. Das Problem ist, dass die Qualität des politischen Personals derzeit sehr überschaubar ist, und dass jeder um sein eigenes politisches Überleben kämpft. Politik ähnelt derzeit eher dem Profifußball, man sagt sich, ich habe meine 10-15 Jahre, hüpfe vielleicht von einer Position in die andere, weil die Partei das so will, und hinter mir die Sintflut. Es fehlen aber Visionen und mutige Ansätze, die Probleme unserer Gesellschaften anzugehen. Alle wissen, dass das Gesundheitssystem und das Bildungssystem dringend reformiert werden müssen. Man hat die Europäische Union zuerst als ein Friedensnarrativ gegründet, dann wurde daraus ein wirtschaftliches Narrativ, aus meiner Sicht wäre es an der Zeit, daraus ein soziales Narrativ zu bilden. Die Ideologien sollten auf die Seite gestellt und gemeinsame Anstrengungen unternommen werden, um diese Projekte auf europäischer Ebene umzusetzen, denn nur so können wir - aus meiner Sicht - das soziale Gefüge stärken und Risse in der Gesellschaft wieder schließen.
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Viktor Eberl ist Studienleiter bei der Europäischen Akademie Nordrhein-Westfalen e.V.
Edouard Calic (Eduard Čalić), 1910-2003, war ein aus Istrien stammender Journalist, Publizist und Historiker. Nach der deutschen Besetzung Jugoslawiens wurde die Tageszeitung Novosti, bei der er angestellt war, verboten. 1942 wurde Calic unter dem Vorwand, an einer Verschwörung von Ausländern beteiligt gewesen zu sein, von der Gestapo verhaftet und ins KZ Sachsenhausen/Oranienburg gebracht. 1945 wurde er mit anderen Häftlingen auf den Todesmarsch von Sachsenhausen nach Schwerin geschickt. Nach dem Krieg widmete er sich der Erforschung und Aufarbeitung der NS-Verbrechen.
[1] https://voices-of-the-next-generations.org
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veröffentlicht in Talktogether Nr. 82/2022
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