Stadt der Frauen PDF Drucken E-Mail

Stadt der Frauen

„Ich liebe es, als Frau geboren zu sein. Ich liebe es, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Anstrengungen der Frauen anerkannt werden. Das Leben ist nicht immer leicht, aber dass ich als Juchitekin geboren wurde, hat mir den Charakter verliehen, für das Leben zu kämpfen und mit viel Würde zu leben, mit viel Stärke, mit viel Liebe für die Familie. Wir können uns beruflich verwirklichen, wir können tun, was wir wollen, ich sehe mich als eine freie Frau.“ (1)

Der zapotekische Name Ixtaxochitlán „Stadt der Blumen“ bezeichnet die Lebensfreude, die diese Stadt ausstrahlt: Das Leben in der mexikanischen Kleinstadt Juchitán de Zaragoza ist bunt und lebendig. Und es ist von Frauen dominiert. Die Sozialanthropologin Veronika Bennholdt-Thomson kannte Mexiko von ihrer Forschung her bereits gut. Dass sie ausgerechnet im „Land des Machismo“ eine Stadt vorfand, in der matriarchale Strukturen bis in die heutige Zeit überlebt haben, hat die Forscherin überrascht. Sie war von dieser Entdeckung so fasziniert, dass sie unbedingt mehr darüber erfahren wollte. Gemeinsam mit Cornelia Giebeler und Brigitte Holzer beschloss sie, das Geheimnis der Frauen von Juchitán zu ergründen. Ein Jahr lang haben die drei Frauen mit zwei Kindern in der Stadt gelebt, um zu erforschen, wie die Gesellschaft dort funktioniert und wie sich ihr System bis in die heutige Zeit erhalten konnte. Unterstützt wurden sie von der einheimischen Soziologin Marina Meseses. Die Ergebnisse ihrer Beobachtungen haben sie im Buch: „Juchitán – Stadt der Frauen. Vom Leben im Matriarchat“ geschildert, das 1994 erschienen ist.

Was die Forscherinnen aus Deutschland hier im Südosten Mexikos vorgefunden haben, war alles andere als ein Paradies. Die Stadt ist heiß und staubig, und die Frauen und Kinder litten oft unter Moskitostichen, Durchfall und anderen Krankheiten. Es war für sie auch ungewohnt, keine privaten Räume zu haben, doch der Wunsch, sich zurückzuziehen, ist auf Unverständnis gestoßen. Trotzdem haben sie sich aufgrund der Aufmerksamkeit, der Zuneigung und des Respekts, die ihnen entgegengebracht wurden, immer gut aufgehoben gefühlt.

Die Frauen in Juchitán arbeiten viel. Der Handel ist fest in ihren Händen. Auf den Markständen der Stadt verkaufen sie Gemüse, selbst hergestellte Maisfladen, geräucherten Fisch, aber auch Kleider sowie Dekorationsgegenstände für die vielen Feste, die hier das ganze Jahr über gefeiert werden. Sie pflegen aber auch regionale und sogar internationale Handelsbeziehungen. Die Männer dagegen arbeiten entweder in Industriebetrieben oder als Handwerker, Bauern und Fischer – es herrscht also eine klare Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Weil es aber keine Trennung zwischen Hausarbeit und Lohnarbeit gibt, sind alle Tätigkeiten gleich anerkannt.

Stabilität durch lokales Wirtschaften

Mexiko ist ein Schwellenland, das vom Widerstand gegen die Kolonialisierung und der bäuerlichen Revolution von 1910 geprägt ist. Der globalisierte Kapitalismus und konkurrenzbetonter Individualismus haben auch hier zur Verstädterung, zum Verfall des Reallohnes und zu zahlreichen ökonomischen Krisen geführt. Auffällig ist, dass es den Menschen in Juchitán – im Gegensatz zu anderen Teilen des Landes – auch in Krisenzeiten unverändert gut geht. Das Angebot an Nahrungsmitteln ist gleichbleibend, die Menschen sind gut genährt, und bei großen Festen wird wie immer verschwenderisch konsumiert. Schwankungen und Krisen berühren sie nur wenig, weil ihre Ökonomie lokal organisiert ist und eigenen Regeln und Mechanismen folgt. Diese sind:

- Subsistenzwirtschaft: Trotz der Integration in die Geld- und Warenwirtschaft ist die Wirtschaft von Juchitán eine Subsistenz-ökonomie geblieben. Produziert wird, was gut und notwendig für das Leben der Menschen ist. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist kein Problem, weil die Menschen nicht existenziell abhängig von Lohnarbeit sind und die Versorgung auf der Grundlage regionaler Ressourcen stattfindet. Die Menschen, vor allem die Frauen, haben sich ihre Einkommensquellen nicht aus der Hand nehmen lassen, und so gibt es in Juchitán weder Supermärkte noch Kaufhäuser. Auch gegen Eingriffe der Zentralregierung ist die Bevölkerung politisch gut organisiert.

- Sozialer Ausgleich: Ziel des Warenverkaufs ist es nicht, Geld zu akkumulieren, sondern dass alle ihr Auskommen finden. Ansehen wird nicht durch die Anhäufung von Reichtum erlangt, sondern durch Freigiebigkeit. Von erfolgreichen Händlerinnen wird erwartet, dass sie großzügige Feste ausrichten, bei denen ausgiebig gegessen und getrunken wird. Auf diese Weise fließt ihr Verdienst in die lokale Geld- und Warenzirkulation zurück, denn alles, was für ein Fest gebraucht wird, wird auf dem Markt verkauft. So wird mittels der Feste für eine stetige Umverteilung des Reichtums gesorgt. Man sagt auch, dass in Juchitán niemand hungern muss, weil es immer irgendwo ein Fest gibt.

- Gegenseitigkeit: Trotz der Integration in die Marktwirtschaft regiert das Prinzip der Gegenseitigkeit. Jegliche Überheblichkeit aufgrund ökonomischer Besserstellung ist verpönt und führt zu sozialer Isolation. Die Gleichheit ist zwar nicht perfekt, aber immerhin leidet in Juchitán niemand Not, und das ist schon ziemlich beachtenswert angesichts der Verhältnisse, die in anderen indigenen Regionen Mexikos herrschen.

Matriarchale Prinzipien

Unter Matriarchat wird eine Gesellschaftsordnung verstanden, in der die Mutter im Mittelpunkt des verwandtschaftlichen Gefüges steht. Das heißt, die Abstammung und Vererbung verläuft in mütterlicher Linie, und die Kinder bleiben auch nach einer Heirat im Haus der Mutter. Bei matriarchal organisierten Gesellschaften handelt es jedoch nicht eine bloße Umkehrung patriarchalischer Verhältnisse, sondern um egalitäre Gesellschaften mit nicht-hierarchischen Sozialstrukturen. Dahinter steht eine besondere Weltanschauung, die von der Wertschätzung gegenüber dem Weiblichen geprägt ist. Im Zentrum stehen die Prinzipien der Fruchtbarkeit, des Geboren-Werdens und des Vergehens und nicht das Haben und Anhäufen.

Lange hat man in Europa geglaubt, dass das Patriarchat seit Anbeginn der Menschheit bestanden habe. 1861 hat der Schweizer und Anthropologe und Historiker Johann Jakob Bachofen sein Buch „Mutterrecht“ veröffentlicht, in dem am Beispiel der griechischen Mythologie zu beweisen versuchte, dass ursprünglich nicht der Vater, sondern die Mutter das Oberhaupt der Familie war, dass das Mutterrecht durch das Patriarchat gestürzt wurde und dass dieser Umbruch im Zusammenhang mit der Herausbildung des Privateigentums steht. Später haben andere Forscher und Forscherinnen unter anderem anhand von Verwandtschaftsbezeichnungen festgestellt, dass ähnliche Entwicklungen auch in anderen Gesellschaften stattgefunden haben.

Es gibt aber auch noch heute matriarchal organisierte Gesellschaften. Die bekanntesten sind die der Mosuo in Südchina, der Minangkabau auf der indonesischen Insel Sumatra und der Khasi im Nordosten Indiens. Bei matriarchalen Gesellschaften handelt es sich zumeist um Ackerbau-Gesellschaften, in denen Jahreszeitenfeste im Zusammenhang mit Aussaat, Wachstum und Ernte eine große Bedeutung haben. Doch auch beim Nomadenvolk der Tuareg in der Sahara haben sich bis heute matriarchale Strukturen erhalten. Bei allen regionalen und kulturellen Unterschieden haben diese Kulturen gemeinsam, dass Freigiebigkeit, Gegenseitigkeit und Ahnenverehrung zentrale Aspekte sind. Darüber hinaus sind aber auch in patriarchalen Verhältnissen häufig noch matriarchale Prinzipien verborgen.

Bennholdt-Thomsen wollte herausfinden, welche Gemeinsamkeiten die juchitekische Gesellschaft mit matriarchal organisierten Gesellschaften in anderen Teilen der Welt hat, und wie sich ihr System bis heute erhalten konnte. Da es aber nie das eine, idealtypische Matriarchat gegeben hat, schlägt sie vor, von matriarchalen Prinzipien zu sprechen. Üblicherweise wird in der Wissenschaft gesagt, dass die Rolle der Frau davon abhänge, wieviel Reichtum sie für eine Gesellschaft erwirtschafte. Die Autorinnen halten diesen Ansatz für falsch und sind überzeugt, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Trotz Einbindung in die Markt- und Geldwirtschaft konnten sich in Juchitán eine relative Gleichheit und ein vergleichsweise hoher Wohlstand für alle erhalten, WEIL die Frauen wirtschaftlich das Sagen haben.

Die soziale Rolle bestimmt das Geschlecht

Ein auffälliger Unterschied zwischen Juchitán und dem Rest von Mexiko ist nicht nur die Stellung der Frauen, sondern auch der gesellschaftliche Umgang mit Homosexualität und variablen Geschlechterrollen. Muxes werden Transgender-Personen genannt, die stolz darauf sind, männliche und weibliche Vorzüge zu vereinen. Sie gelten als fleißig und hilfsbereit und genießen in der Gesellschaft höchste Anerkennung. Muxes können heiraten, viele bleiben aber lieber bei ihren Müttern, um sich um sie kümmern und sie im Alter zu pflegen. Marimachas, Frauen, die sich als Männer identifizieren, gehören in Juchitán ebenso selbstverständlich zum öffentlichen Erscheinungsbild, genießen aber nicht dasselbe hohe Sozialprestige wie die Muxes.

Die Flexibilität der Gesellschaft hat ihre Basis in der traditionellen Arbeitsteilung der Geschlechter: Wie bei allen mittel- und nordamerikanischen Indigenen ist es die Arbeit, die ein Individuum für Gesellschaft leistet, die das Geschlecht definiert. Dies zeigt einmal mehr, dass flexible Genderidentitäten keine Modeerscheinung unserer modernen Welt sind, sondern in vielen Kulturen selbstverständlich waren, bis sie durch Kolonialisierung und Missionierung verteufelt und unterdrückt wurden.

Nicht zum Nachahmen, sondern um davon zu lernen

Auch in Juchitán gibt es Neid und Klatsch. Gewalt ist nicht abwesend, aber deutlich weniger als in anderen Gesellschaften. Die Freiheit, die die Frauen von Juchitán genießen, hat zudem wenig mit dem individualistischen Freiheitsbegriff im Kapitalismus zu tun. Viele der erfolgreichen Frauen in unserer modernen Welt, sagt Bennholdt-Thomson in einem Interview, gehen mit dem System konform und denken in den Prinzipien des Patriarchats. Die Gleichsetzung der Weiblichkeit mit Fruchtbarkeit, von Frau und Natur, stoße auf Kritik von feministischer Seite, da das Hochjubeln der Mütter als Erbe des Faschismus angesehen wird. Idealisierung sei aber nur eine andere Form der Unterdrückung, meint Bennholdt-Thomson, die mit einer Entwertung des ökonomischen Beitrags der Frauen einhergehe. (vgl. 2)

Die Autorinnen wollten mit ihrem Buch aufzeigen, dass auch in der Gegenwart Alternativen zum globalisierten Konkurrenzsystem möglich sind. Juchitán sei kein Modell zum Nachahmen, doch wir können daraus lernen, dass wir nicht ohnmächtig sind gegen die angeblichen Sachzwänge des Kapitalismus: „Wir wollten wissen, wie es auch anders gehen kann, wie eine frauen- und menschenfreundlichere Gesellschaft funktionieren kann im Gegensatz zum kriegerischen und naturzerstörenden System.“

Gegen den Mythos des grenzenlosen Wachstums

Wohin uns die Ideologie des technologischen Fortschritts, des immerwährenden Wachstums und der Bezwingung der Natur gebracht hat, sehen wir heute deutlich vor unseren Augen. Wir wissen, dass wir nicht weiter machen können wie bisher. Zweifellos wird uns die Klimakrise zu einer bescheideneren Lebensweise zwingen. Am Beispiel Juchitán wird deutlich, dass wir das Reich der Notwendigkeit gar nicht überwinden müssen, um frei zu sein und ein gutes Leben führen zu können. Juchitán zeigt uns auch, dass Frauen nicht mit den Männern konkurrieren müssen, um die patriarchalen Strukturen unserer modernen Gesellschaft zu beseitigen, sondern dass wir vielmehr eine Ökonomie benötigen, die dazu dient, die Bedürfnisse aller Menschen zu befriedigen, und die sich nicht am grenzenlosen Hunger nach Profiten, sondern an den Prinzipien von Respekt, Fürsorge und Solidarität orientiert.

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(1) Ö1 - ORF Hörbilder: Die Frauen von Juchitán. Ein Matriarchat in Mexiko. Feature von Marlies Faulend (29.06.2019): https://oe1.orf.at/programm/20200509/598011/Ein-Matriarchat-in-Mexiko

(2) Netzwerk Ethik heute: Wertschätzung des Weiblichen. Interview mit Veronika Bennholdt-Thomsen:
https://ethik-heute.org/11391-2/

veröffentlicht in Talktogether Nr. 83/2023