Gespräch mit Volodymyr Ishchenko (DE / Englisch) PDF Drucken E-Mail

Gespräch mit Volodymyr Ishchenko

TT: Im Artikel "Ukrainian Voices?" kritisieren Sie, dass der Konflikt in der Ukraine meist aus identitätspolitischer Sicht beschrieben wird. Warum ist Identitätspolitik aus Ihrer Sicht problematisch?

Volodymyr: Identitätspolitik hat ihre Wurzeln in den Bewegungen der Frauen, der schwarzen Menschen und anderer Gruppen in den 1960er und 1970er Jahren, die sich als wesentliche Teile der antikapitalistischen und antiimperialistischen Bewegung verstanden haben. Heute ist die Perspektive der universellen Befreiung jedoch verschwunden, und Identitätspolitik konzentriert sich auf die Zugehörigkeit zu einer speziellen definierten Gruppe, der eine gemeinsame Erfahrung zugeschrieben wird und die allein aufgrund ihrer Besonderheit nach Anerkennung strebt. Es gibt viele Diskussionen über Identitätspolitik, und ein Teil der Kritik kommt von der konservativen Ecke, von dieser Art von Kritik möchte ich mich distanzieren. Im Falle des Ukraine-Konflikts und speziell der Debatten über Dekolonialisierung denke ich jedoch, dass sie zumindest unzureichend ist. Wir sehen ja, dass sie uns nicht dabei hilft, die ukrainische Sache für einen Großteil der Menschheit verständlicher zu machen.

TT: In ihrem Artikel bezeichnen sie die Ukraine als das nördlichste Land des Globalen Südens. Was wollen Sie damit ausdrücken?

Volodymyr: Schauen Sie sich doch die wichtigsten ökonomischen und sozialen Indikatoren an, angefangen mit dem BIP pro Kopf: Hier liegt die Ukraine näher zu den Ländern des Globalen Süden als zu ihren geographischen Nachbarn. Mit der russischen Invasion geht man davon aus - wir warten noch auf die endgültigen Statistiken für 2022 -, dass ein Drittel bis die Hälfte des BIP im letzten Jahr verlorengegangen ist. Die Ukraine war schon vor dem Krieg eines der ärmsten Länder Europas. Nun zerstören die russischen Bombardements die Basis der städtischen Infrastrukturen und ziehen die Wirtschaft und die Lebensstandards nach unten. Obwohl die Ukraine geographisch in Europa liegt, gehört sie in sozialer Hinsicht zum Globalen Süden.

Aber es gibt noch ein anderes Problem. Aus ideologischen Gründen wird der Widerstand der Ukrainer*innen als Verteidigungskampf der Grenzen der westlichen Zivilisation präsentiert. Viele Menschen im Westen und leider auch in der Ukraine betrachten diesen Kampf als Verteidigung westlicher Werte und der westlichen "Zivilisation" gegen die russische Bedrohung. Aber dieses ideologische Gerüst hilft uns nicht, die Sympathien eines Großteils der Menschheit zu gewinnen.

Während der Westen die Ukraine mit Geld und Waffen beliefert, ist Russland vor allem auf der Suche nach Verbündeten im Globalen Süden. In seiner Rede bei der Feier anlässlich der Annexion der Südostukraine hat Putin selbst viel von Dekolonialisierung gesprochen und daran erinnert, wie die westlichen Eliten die ganze Welt für ihre Kolonialreiche ausgebeutet haben. Es ist leicht zu sagen, dass es sich dabei um totale Heuchelei handelt, und dass er in Wahrheit einen Eroberungskrieg führt. Doch gleichzeitig stellt sich die Frage, warum die ukrainischen Eliten - und ich spreche hier vor allem die intellektuellen Eliten, Wissenschaftler*innen, Professor*innen und Künstler*innen an - so wenig Aufmerksamkeit auf die Entwicklung eines universellen Appells legen und sich stattdessen mit partikularistischer Identitätspolitik beschäftigen.

TT: Beeinflusst das auch die Debatten linker Intellektueller im Westen?

Volodymyr: Ja genau, das hat tatsächlich etwas mit dieser Frage zu tun. Offensichtlich ist es ein Dilemma der Linken in den westlichen Ländern, dass sie zwar auf der einen Seite sehen, wie sehr die ukrainische Zivilbevölkerung unter diesem Krieg leidet, so dass es einfach unmoralisch wäre, sich nicht mit den leidenden Menschen zu solidarisieren. Auf der anderen Seite haben sie ein Problem damit, sich auf die Seite ihrer eigenen Regierungen und der westlichen Eliten zu stellen, die so rückhaltlos die Ukraine unterstützen. So tun sie sich schwer damit, ihre eigene Opposition auszudrücken und klar zu definieren, wo hier die Linke und wo die Rechte steht. Das wurzelt wiederum aus dem Unvermögen, den Ukraine-Konflikt in einen universellen Zusammenhang einzuordnen.

Wenn der Westen versucht, diesen Krieg als Konflikt zwischen Demokratie und Autoritarismus darzustellen, funktioniert das einfach nicht, weil die westliche Politik zu offensichtlich inkonsistent ist in ihrer Haltung gegenüber Ländern wie der Türkei, Saudi-Arabien oder Israel, die ihre eigenen brutalen Kriege in ihrer Nachbarschaft oder auf ihren eigenen Territorien führen. Auf der anderen Seite zögern viele Demokratien im Globalen Süden, sich in diesem Krieg auf eine Seite zu stellen. Russland versucht auch, Identitätspolitik anzuwenden, indem es sich als eine mehr als tausendjährige Zivilisation präsentiert, der angeblich besonderen Rechte über ihre Nachbarschaft zukommen. Auch wenn im Westen viele sagen, dass die Menschen in der Ukraine für die westlichen Werte kämpfen, kämpfen in Wirklichkeit die meisten von ihnen um ihr Leben.

TT: Sie sagen auch, dass der ukrainische Widerstand vom Westen für eigene Zwecke ausgebeutet wird. Inwiefern?

Volodymyr: Ja, die westlichen Eliten benutzen die Ukraine, das ist offensichtlich, besonders im Zusammenhang mit der Identitätspolitik in Bezug auf die Ukraine. Die westlichen Länder leiden unter einer grundlegenden Krise der politischen Repräsentation, wobei es sich in Wahrheit um ein globales Problem handelt. Die Symptome dieser Krise sind u.a. die sinkende Unterstützung für die traditionellen Parteien, der Aufstieg populistischer Bewegungen und neue direct-action Proteste seitens der Unterdrückten - wie Black Lives Matter oder MeToo.

Als Reaktion auf diese Krise ermöglicht die Identitätspolitik, privilegiertere Teile der betreffenden Minderheitengruppen in die Eliten zu integrieren, was als eine Art mangelhafte Lösung dient. Im Fall der Ukraine funktioniert das im Wesentlichen auf die gleiche Weise. Wir haben hier einen edlen Kampf, der unterstützt wird, aber gleichzeitig wird er auf eine Weise unterstützt, die die Vormachtstellung des Westens und der westlichen Eliten nicht nur nicht in Frage stellt, sondern sie sogar verstärkt.

TT: In den letzten Jahrzehnten konnten wir in verschiedenen Teilen der Welt - auch in der Ukraine - Revolutionen beobachten, die jedoch weder zu substanziellen Änderungen führten noch Lösungen für die Probleme der Menschen brachten. Was sind die Gründe?

Volodymyr: Mark Beissinger, Professor für Politikwissenschaften an der Princeton University, zeigte auf, dass in den letzten 20 oder 30 Jahren mehr Revolutionen stattgefunden haben als in der Zeit davor. Auch wenn die Zahl der Revolutionen gestiegen ist, haben diese keine revolutionären Veränderungen gebracht. Die wichtigsten Beispiele sind sicherlich der "Arabische Frühling" 2011 und viele der Revolutionen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. In der Ukraine hatten wir drei so genannte Maidan-Revolutionen: 1990, 2004 und 2014. Sie hinterließen jedoch eher Enttäuschung, weil sie nicht die Veränderungen gebracht haben, die sich die Menschen erhofft hatten. Natürlich führt das geradewegs zur nächsten Revolution. Wir brauchen immer neue Revolutionen, weil die vorangegangenen Revolutionen die politische Krise, die sie ausgelöst hatte, nicht lösen konnten.

Die aktuellen Revolutionen können als mangelhafte Reaktion auf die tiefgreifende Krise der politischen Repräsentation angesehen werden - das heißt, wenn Regierungen von der der Bevölkerung nicht mehr als deren Repräsentantinnen angesehen werden. Doch statt revolutionärer Veränderungen reproduzieren diese Revolutionen selbst die Krise. Die Gründe dafür sind, dass sie sehr lose organisiert sind und nur sehr vage formulierte Forderungen stellen, abgesehen davon, einen bestimmten politischen Führer, sagen wir den Präsidenten eines Landes, loszuwerden. Die politische Schwäche der Revolutionen macht es jedoch unterschiedlichen politischen Agenten, die ihre eigenen Interessen verfolgen und weder die Mehrheit der Beteiligten noch der Bevölkerung repräsentieren, leicht, die revolutionäre Legitimität zu kapern. So reproduzieren oder verstärken diese Revolutionen sogar die Krise, die sie hervorgerufen hat.

TT: Ist es, weil sie das kapitalistische System nicht herausfordern?

Volodymyr: Sie fordern nicht nur das kapitalistische System nicht heraus, sie reagieren nicht einmal auf die politische Krise, vor allem aber sind sie nicht in der Lage, stabile und nachhaltige demokratische Institutionen zu schaffen. Wie es Mark Beissinger in seinem Buch "The Revolutionary City", das 2022 erschienen ist, ausdrückt: Die urbanen zivilgesellschaftlichen Revolutionen stürzen einfach nur eine Diktatur, sie bauen aber keine Demokratie auf.

TT: Was sind die Gründe für die wachsenden Spannungen zwischen den globalen Mächten?

Volodymyr: Heute ist die Menschheit mit sich zuspitzenden politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Krisen konfrontiert. Diese Krisen haben unterschiedliche Ursachen, stehen aber miteinander in Wechselwirkung, sie vermischen sich und verstärken einander. Das Resultat ist eine Poly-Krise, wie der britische Historiker Adam Tooze die heutige Situation beschreibt. Die Covid-Krise, die Flüchtlingskrise, die Ukraine-Krise, die Inflation, die Energiekrise, die Klimakrise - alles kommt zusammen, deshalb gibt es so viele Konflikte auf der Welt. Die Herausforderung ist: Wir müssen nach einer Lösung für diese tiefgreifende Poly-Krise suchen. Wir sollten den Ukraine-Konflikt auf eine Art und Weise diskutieren, indem wir ausgehend von der Ukraine versuchen, universelle Herausforderungen anzusprechen.

Volodymir Ishchenko: Ukrainian Voices? New Left Review 138/Nov.-Dez. 2022

(Ãœbersetzung aus dem Englischen: Talktogether)

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Interview with Volodymyr Ishchenko

In your article "Ukrainian Voices" you criticize that often the Ukrainian cause is described in terms of identity politics. What in your view is the problem with identity politics?

Identity politics origins from the movements of women, black people and other groups in the 1960s and 1970s, who understood themselves as organic parts of the New Left anti-capitalist and anti-imperialist movement. Nowadays the question of universal emancipation has disappeared, and identity politics is centered around belonging to a particular essentialized groups with a projected common experience which call for recognition simply because of their particularity. There is a lot of discussions about identity politics and some of the criticism comes from the conservative side, I distance from this kind of criticism. In case of the Ukrainian conflict and specifically concerning the debates on decolonization I think, identity politics is at least insufficient. We can see that it does not help to make Ukrainian cause more understandable for most of the humanity.

In your article you also describe the Ukraine as the northernmost country of the Global South. What do you want to say with it?

Look at the major economic and social indicators starting with the GDP per capita: Ukraine would be often closer to the Global South countries, not to its geographic neighbors. With the invasion - we still wait for the final statistics for 2022 - but the projections are that from one third to up to half of the GDP could lost last year. The Ukraine already has been the poorest country in Europe before the war. The Russian bombings destroying the basis of urban infrastructures are drawing the economics and the life standards down. Although Ukraine geographically lies in Europe, socially it belongs to the Global South.

But there is another problem. Because of ideology the Ukrainian struggle is presented as defending the frontier of the Western civilization. Many Westerners and unfortunately many Ukrainians as well look at the struggle as defending the Western values and the Western "civilization" against the Russian threat. But this ideological frame does not help to win the sympathies of most of the humanity. Obviously, the West supplies money and weapons to the Ukraine, but Russia is crucially looking for allies in the Global South. In his speech at the celebration of the annexation of south-eastern regions of Ukraine Putin himself was talking a lot about decolonialization, reminding how the Western elites were robbing the whole world for its colonial empires. It is very easy to say that this is total hypocrisy and that in reality he is waging a war of conquest. At the same time, there is the question why Ukrainian elites - I am specially addressing the intellectual elites, scholars, lecturers, artists - give so little attention to develop a universal appeal but engage in particularistic identity politics.

Does this also influence the debate between leftist intellectuals in the West?

Yes, exactly, it has in fact something to do with this question. Obviously one problem for the left in the Western countries is that on the one hand they see that Ukrainian civilians are suffering enormously in the war, so it would be just unmoral not to express their solidarity with the people who suffer. At the same time, they find it difficult to align with their own governments and with the Western elites who are so clearly in support of Ukraine. That makes it so difficult for them to express their opposition to them and to articulate clearly where is the left and where is the right. This is again the problem of articulating the Ukrainian cause in universal terms. When the West says that this is a war between democracy and authoritarianism, it just does not work because its politics are so clearly inconsistent in their attitude toward countries like Turkey, Saudi Arabia or Israel which wage their own brutal wars in their neighborhood or on their own territories. At the same time, many democracies in the Global South are hesitating about taking a side in the war. Russia is also trying to apply identity politics by presenting itself as a more than one-thousand-year-old civilization that is allegedly supposed to have specific rights over its neighborhood. In the West many people say that Ukrainians are fighting for Western values but indeed most of them are fighting for their lives.

You also say that the Ukrainian struggle is exploited by the West for its own purposes ...

Yes, the Western elites do use Ukraine, this is obvious, specifically in allegation with the identity politics about Ukraine. Western countries suffer from a fundamental crisis of political representation, but this is in fact a global problem. Its symptoms include declining rates of support for the traditional parties, the rise of populist movements and new direct-action protests - like Black Lives Matter, MeToo - by the oppressed. In response to this crisis identity politics allows to incorporate more privileged parts of the essentialized groups to the elites which serves as a kind of deficient solution. In case of the Ukraine, it broadly works the same way. You have got a noble struggle to be supported but at the same time it is supported in such a way that it does not challenge but even reinforce the superiority of the West and that of the Western elites as well.

In the recent decades we witnessed "revolutions" in different parts of the world - also in Ukraine - that did not lead to substantial changes or bring solutions for people's problems. What are the reasons?

Mark Beissinger, professor of political science at Princeton University, showed that in the last 20 or 30 years revolutions happen more often than in the previous periods. In fact, the number of revolutions is growing but they do not lead to revolutionary changes. The most important examples are of course the Arab Spring in 2011 and many of the post-soviet Revolutions. In the Ukraine we had three so called Maidan Revolutions in 1990, 2004 and 2014. They produced rather disappointment because they did not lead to the changes that the people expected from it. Of course, this leads to the next revolution. We need more and more revolutions because the earlier revolutions do not solve the political crisis, they were a response to in the first place. The contemporary revolutions can be seen as a deficient response to the fundamental crisis of political representation - when government is not seen as a representative for the population. But instead of bringing revolutionary changes these revolutions themselves reproduce the political representation crisis. This happens because they are very loosely organized, they have very vaguely articulated claims beyond getting rid of some political leader, let's say the president of the country. The revolutions have only dispersed and loose leadership. This political weakness of the revolutions makes it so easy to hijack the revolutionary legitimacy by various political agents who pursue their own interests but who are not representing the majority of the participants in the revolution not speaking about the majority of the society. In this way the revolution reproduces and even intensifies the very crisis to which it was responding to.

Is it because they do not challenge the capitalist system?

They do not challenge the capitalist system, but they do not even respond to the political crisis, because they do not produce stable and strong democratic institutions. As Mark Beissinger put it in his book "The Revolutionary City" published in 2022: the urban civic revolutions simply overthrow dictatorship, but they do not build democracy.

What in your opinion are the reasons for the growing tensions between global powers?

Today humanity is facing escalating political, economic and environmental crises. These crises have many separate sources but interplay with each other, they intermingle and amplify each other. The result is a poly-crisis, like the British historian Adam Tooze describes the nowadays situation. The Covid-crisis, the refugee crisis, the Ukraine crisis, inflation crisis, energy crisis, climate crisis - everything comes together and that is why we have so many conflicts in the world. The question is: We need to look for the solution of this fundamental poly-crisis. We should discuss the Ukrainian conflict in a much more universal way, starting from Ukraine but trying to address the universal issues.

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Volodymyr Ishchenko ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Proteste und soziale Bewegungen, Revolutionen, Radikalisierung, rechte und linke Politik, Nationalismus und Zivilgesellschaft. Er verfasste eine Reihe von Artikeln und Interviews über die zeitgenössische ukrainische Politik und den Maidan-Aufstand 2013-14, die in verschiedenen renommierten wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Außerdem schrieb er Beiträge für The Guardian, Al Jazeera und das Jacobin Magazin. Derzeit arbeitet er an der Sammelmonographie "The Maidan Uprising: Mobilization, Radicalization, and Revolution in Ukraine, 2013-14".

veröffentlicht in Talktogether Nr. 83 / 2023

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