Exkursion 2023: Wohnbau im Roten Wien PDF Drucken E-Mail

Exkursion ins „Rote Wien“

Es gibt Kapitel der österreichischen Geschichte, über die im Schulunterricht selten gesprochen wird. In Integrationskursen spielen sie keine Rolle und bei der Prüfung für die Staatsbürgerschaft werden sie nicht abgefragt. Aber darüber Bescheid zu wissen, kann uns helfen, aktuelle politische Entwicklungen besser zu verstehen. Diese Lücke möchte Talk Together mit dem Projekt talk together – walk together – learn together füllen. Seit 2015 haben wir mehrere Exkursionen zu unterschiedlichen Themen durchgeführt, in denen Einheimische und Neudazugekommene gemeinsam das Land, seine Kultur und seine Geschichte erkunden. Viele unserer wissbegierigen Freunde und Freundinnen haben seither unsere Einladung mit Freude angenommen.

Wir haben auch festgestellt, dass es Menschen gibt, die schon lange in Österreich leben und sogar die Staatsbürgerschaft besitzen, aber ihr Wahlrecht nicht nutzen. Wir haben uns gefragt: Interessieren sie sich nicht für die österreichische Politik oder kennen die Unterschiede zwischen den politischen Parteien nicht? Wissen sie, wie hart viele der Rechte, die wir heute in unserem Land genießen dürfen, erkämpft worden sind?

Weil Wohnungsnot und hohe Mieten gerade in Salzburg akute Probleme sind, haben wir uns entschlossen, nach Wien zu fahren, um mehr über das Wohnbauprogramm im Roten Wien zu erfahren, wobei wir gezielt Personen eingeladen haben, die in Vereinen tätig sind und eine Rolle als Multiplikator*innen einnehmen können. Den Karl-Marx-Hof haben wir ausgewählt, weil wir im Anschlus an den Rundgang durch den Gemeindebaukomplex auch die Ausstellung im Waschsalon Nr. 2 besuchen konnten. Dort haben sich uns auch Leute aus Wien angeschlossen, darunter der Obman eines somalischen Vereins.

Der monumentale Bau, der über einen Kilometer lang ist, ist zwar nicht der größte, aber der bekannteste Wiener Gemeindebau. Er wurde in den Jahren 1926 bis 1933 nach den Plänen des Otto-Wagner Schülers Karl Ehn errichtet und verfügte ursprünglich über 1382 Wohnungen für etwa 5000 Menschen. Zur Infrastruktur dieser „Stadt in der Stadt“ gehörten zwei Waschsalons, zwei Bäder, zwei Kindergärten, eine Zahnklinik, eine Mutterberatungsstelle, eine Bibliothek, ein Jugendheim, ein Postamt, ein Ambulatorium, eine Apotheke und 25 Geschäftslokale.

Nach dem Grundsatz „Licht, Luft und Sonne“ wurden nur etwa 18 Prozent der Fläche verbaut und die Wohnanlagen wurden großzügig mit Parks und Grünflächen ausgestattet. Die sozialdemokratische Stadtregierung hatte sich dafür entschieden, kostengünstige Wohnungen für möglichst viele Menschen zu schaffen. Die Wohnungen waren daher nicht groß, hatten nur Toiletten aber keine Badezimmer. Zum Wäschewaschen, Duschen und Baden gab es die Waschsalons. Eine Wohnung im Gemeindebau zu bekommen, bedeutete für die Menschen trotzdem eine unglaubliche Verbesserung ihrer Lebensqualität. Sie durften in einer gesunden und hellen Wohnung leben und mussten nur 3 bis 5 Prozent ihres Einkommens für die Miete aufbringen.

Am 8. Juli haben wir uns um 13 Uhr vor der U-Bahn-Station Heiligenstadt mit unserem Experten Lukas Gallee getroffen. Dieser schilderte uns, wie sich das Leben im Gemeindebau damals abgespielt hat. Wir erfuhren, dass die Einhaltung der strengen Regeln von einem Hausinspektor überprüft wurde. So wurden die Tore unter der Woche um 10 Uhr geschlossen und niemand durfte betrunken nach Hause kommen. Aus heutiger Sicht würden wir solche Vorschriften als Eingriff in die individuelle Freiheit auffassen. Doch man muss wissen, dass Alkoholismus in der Arbeiterschaft ein großes Problem war und nicht zum neuen Menschenbild passte, nach dem die Arbeiter und Arbeiterinnen gesund und klar im Kopf sein sollten. Zudem war es damals auch in den Mietshäusern üblich, einen Sperrgroschen an den Hausmeister bezahlen zu müssen, wenn man zu spät nach Hause kam. Individuelle Freiheiten dürfte es in den überbelegten Wohnungen auch nicht viele gegeben haben.

Die Führung hat bei den Teilnehmer*innen großen Eindruck hinterlassen. Manche fragten sich, ob es nicht auch heute da und dort sinnvoll wäre, einen Hausinspektor zu haben, der die Einhaltung bestimmter Regeln kontrolliert – zum Beispiel den Müll einzusammeln und zu trennen. Damit könnte Problemen und Vorurteilen vorgebeugt werden, statt die Leute einfach sich selbst zu überlassen und nachher über mangelnde Integration zu klagen. Bestimmt ließen sich auch Wege finden, solche Maßnahmen auf weniger paternalistische Weise und mit mehr Eigenverantwortung zu gestalten.

Beim anschließenden Besuch der Ausstellung erfuhren wir mehr über das Rote Wien und sein gewaltsames Ende, als im Februar 1934 auf den Karl-Marx-Hof geschossen wurde. Wir waren überrascht, zu erfahren, dass damals 60 Prozent der Wiener*innen eine andere Sprache als Deutsch – z.B. Tschechisch, Jiddisch, Polnisch oder Ukrainisch – als Muttersprache hatten.

Für Erstaunen sorgte auch ein Film über das so genannte Ein-Küchen-Haus. Im Heimhof, der für berufstätige Paare und Alleinerzieherinnen reserviert war, wurden häuslichen Arbeiten von Angestellten verrichtet, deren Lohn in der Miete inkludiert war. Im Keller gab es eine Zentralküche mit einem gemeinsamen Speiseraum, das Essen konnte auch über Speiseaufzüge direkt in die Wohnzimmer transportiert werden. Obwohl die Sozialisierung der Hausarbeit von vielen Sozialdemokratinnen gefordert wurde, ist die ursprünglich bürgerlich-liberale Initiative im Roten Wien ein isoliertes Experiment geblieben.

Es ist uns gelungen, die Neugierde der Teilnehmer*innen über die Geschichte ihrer Umgebung zu wecken und zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema anzuregen. Unmittelbares Ergebnis: Der Obmann des somalischen Vereins Bildung, Integration und Kultur in Wien plant mit Jugendlichen eine Führung zu machen. Ein weiteres Ziel unseres Projekts ist außerdem, den Austausch, freundschaftliche Beziehungen und das gegenseitige Vertrauen zwischen in Österreich und im Ausland geborenen Menschen zu fördern und zu vertiefen, und gemeinsame Erlebnisse gehören dabei zu den wichtigsten Säulen.


Das Projekt wird gefördert von der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung (politischebildung.at)


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