Weil die Auswirkungen von Kapitalismus und Patriarchat nicht durch ein Gesetz beseitigt werden können
Das so genannte „Schwedische“ oder „Nordische Modell“ wird in immer mehr europäischen Ländern gesetzlich verankert und als Schritt gefeiert, die Ausbeutung und Gewalt gegen Frauen zu reduzieren. Auch in Österreich gibt es viele, die sich für dieses Modell stark machen. Aber wie wirkt sich das Modell auf jene aus, die Sexarbeit anbieten (müssen)? Christine Nagl, die sich seit über 20 Jahren u.a. im Projekt PiA für die Rechte von Sexarbeitenden engagiert, erfährt durch ihre Beobachtungen und Gespräche täglich: Wird die Sexarbeit kriminalisiert, führt das zu mehr an Gewalt und Gefahr für alle Beteiligten. Und der propagierte Ausstieg ist längst nicht so einfach, wie gerne behauptet wird.
Ich arbeite seit fast 16 Jahren in der Beratung und Unterstützung von Sexarbeitern*innen und habe die Leitung eines Mini-Projekts bei Frau und Arbeit in Salzburg. Das heißt, ich bin meine eigene Chefin, weil ich die ganze Sache allein mache. In diesem Rahmen besuche ich durchschnittlich acht Mal in der Woche Bordelle, treffe mich mit sexarbeitenden Frauen und spreche mit ihnen. Vor langer Zeit habe ich irgendwann einmal vom schwedischen Modell gehört. Ich dachte, das muss ich mir anschauen, weil viele Dinge, die aus Schweden kommen, eigentlich nicht so schlecht sind. Mit der Zeit habe ich viele Veranstaltungen besucht und mich diesem Thema angenähert.
Bevor wir jetzt ans Eingemachte gehen, möchte ich noch kurz sagen, ich spreche heute über Sexarbeit oder Sexdienstleistungen und nicht über Prostitution, da dieser Begriff negativ gefärbt ist. Wenn ich in der Arbeit sage, ich habe mich heute bei meinem Chef oder meiner Chefin prostituieren müssen, ist es ja nicht positiv gemeint. Der Begriff Sexarbeit bzw. Sexwork wurde von Sexarbeiter*innen selbst gewählt und ist der Begriff, den sie verwendet haben wollen. Ich spreche im Vortrag auch nicht über das Schwedische oder Nordische Modell, ich spreche von der Kriminalisierung der Sexarbeit. Wir sprechen als Aktivist*innen auch nicht über Freier, sondern über Kund*innen, denn das Wort Freier kann man nicht gendern und dabei wird gänzlich ausgeblendet, dass nicht nur männlich definierte Personen eine Sexdienstleistung erwerben können.
Im Jahr 2019 hatte ich die Gelegenheit, über meine Arbeit im Netzwerk Tampep – das ist ein europäisches Netzwerk, das sich für die Rechte und für gute Lebens-, Gesundheits- und Arbeitsbedingungen von Sexarbeiter*innen in Europa einsetzt – an Netzwerk-Treffen mit verschiedenen Selbstorganisationen und Beratungsstellen teilzunehmen. Also habe ich mir das Modell und seine Auswirkungen in Schweden genau angeschaut. Wer meint, es gäbe in Schweden keine Sexarbeiter*innen, den würde ich einmal einladen auf die Seiten Escort Stockholm oder Escort Göteborg zu schauen. Wie überall gibt es Sexarbeit auch in Schweden, nur unter schlechteren und unsicheren Bedingungen, als wenn sie im legalen Bereich stattfinden würde.
Die Geschichte der Sexarbeit in Schweden
Mich hat interessiert, wie es in Schweden zu dieser Entwicklung kam. Die Sexarbeit gibt es in Schweden schon sehr lange, genauso wie in ganz Europa und auf der ganzen Welt. Am Anfang wurde sie als soziales Problem gesehen, das der Staat kontrollieren muss. Ab dem Jahr 1724 wurden Frauen, die keine Einkommensquelle durch familiäre Versorgung nachweisen konnten, als unmoralisch betrachtet und bei Auffälligkeiten verhaftet; Hintergrund war das große Thema Religion. Am Anfang des 19. Jahrhunderts veränderte sich diese Geschichte, da kam die große Seuche Syphilis auf und das Phänomen der Sexarbeit wurde in Richtung Moral und Gesundheit gedrängt. In meinen Unterlagen habe ich aber noch etwas sehr Interessantes gefunden, nämlich: Am Anfang des 19. Jahrhunderts wurden Arbeiterinnen, also nicht nur Sexarbeiterinnen, sondern Frauen, die nicht viel Geld hatten, in Schweden wöchentlich zwangsuntersucht. Das finde ich sehr interessant, weil wir hier in Österreich das einzige Land sind, in dem es Zwangsuntersuchungen gibt. In Schweden hat man sie 1918 abgeschafft, weil man festgestellt hat, dass sie nicht effektiv sind. Von 1918 bis 1924 wurde Sexarbeit unter dem Landstreichergesetz abgehandelt, das heißt, Sexarbeit wurde als asozial und als Verbrechen gegen die öffentliche Ordnung tituliert. In den 1960er Jahren änderte sich das. Die Sexarbeit wurde von der Frauenbewegung als ein Symptom des Kapitalismus und des Patriarchats gesehen, und die Sexarbeiterinnen wurden immer mehr in die Opferrolle gedrängt.
Als ich in den 1980er Jahren als junge Frau in Schweden war, war ich über die Freizügigkeit in diesem Land überrascht. Damals wurde dort eine Reihe von Pornofilmen gedreht, und das Land war für seine Freizügigkeit bekannt. 1995, als Schweden in die EU gekommen ist, war man jedoch von politischer Seite sehr beängstigt, dass verstärkt Sextourismus stattfinden wird, weil das Land dieses Image hat. Man hatte auch Angst, dass Migrantinnen ins Land kommen, die ihre Dienstleistungen anbieten wollen. So wurde Sexarbeit als bedrohliches soziales Phänomen eingestuft und in Richtung Strafjustiz abgehandelt.
Am 1.1.1999 wurde ein Gesetz eingeführt, mit dem eine umfassende Kriminalisierung der Sexarbeit stattfand, und zwar auch bei einvernehmlichen Kontakten – wohlgemerkt, wir sprechen hier nicht von Menschenhandel oder Ausbeutung. Gleichzeitig fand eine starke Kriminalisierung im Bereich der Vermietung und der Vermittlung statt, um kurz ein paar Beispiele zu nennen: Wer als Vermieter einer Sexarbeiterin Wohnraum zur Verfügung stellt, kann als Zuhälter verurteilt werden. Gemeinsames Arbeiten von Sexarbeitern*innen ist nicht mehr möglich. In der sozialen Arbeit sagt man immer, wenn man Streetwork oder aufsuchende Arbeit macht, soll man immer zu zweit sein, der Sicherheit wegen. In den Ländern, wo das sogenannte schwedische Modell umgesetzt wird, ist es jedoch automatisch ein Indiz für Menschenhandel, wenn zwei Personen miteinander arbeiten, automatisch wird die ältere oder diejenige Person, die die Sprache besser beherrscht, als Täter oder Täterin abgehandelt.
„Hotels against Trafficking“, dieses tolle Schild sieht man überall, wenn man in Schweden ein Hotel oder eine Ferienwohnung betritt. Es ist an der Rezeption angebracht und liegt in den Zimmern auf. Ich habe eines entwendet, weil ich ein Souvenir gebraucht habe. Auf der Rückseite steht, wir beobachten Prostitution und Menschenhandel, und es ist eine Hotline angeführt, die man bei Verdacht sofort anrufen soll, sowie eine Spendenhotline für Organisationen, die sich dafür zuständig fühlen. Damit möchte ich aufzeigen, wie sehr die Gesellschaft Sexarbeit kriminalisiert und die Menschen dazu auffordert, andere zu beobachten. Weil mir der sexualfeindliche Tenor auf den Geist gegangen ist, habe ich mein Hotelzimmer mit „Sexwork is Work“ T-Shirts und Kondomen dekoriert. Zur Strafe durfte ich mein Zimmer drei Tage lang selbst aufräumen.
In Gesprächen mit schwedischen Sexarbeitern*innen habe ich festgestellt, wie sehr das Gesetz deren Situation verschlechtert hat. Es impliziert eine paternalistische Haltung gegenüber Frauen und ein Klima der Angst: Angst vor Obdachlosigkeit, Angst, etwas noch viel Schlimmeres zu erleben als Strafen, nämlich den Verlust des Sorgerechts für die eigenen Kinder. Das Gesetz führt sogar zur Angst, private Beziehungen zu haben, weil ein Lebenspartner oder eine Lebenspartnerin, mit dem oder der man ein gemeinsames Konto hat, der Zuhälterei bezichtigt werden könnte. Die Sexarbeitern*innen meinten, dass es in Schweden schlimmer sei, Prostituierte zu sein als gewalttätig.
Die Haltung, wie man in Schweden die Sexarbeit sieht, ist dem Bericht der schwedischen Regierung zu entnehmen, den ich kurz zitieren muss: „Die negativen Auswirkungen müssen unter dem Gesichtspunkt seiner Zielsetzung positiv gesehen werden, da der Zweck des Gesetzes tatsächlich ist, die Gefahr gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit, die von der Sexarbeit ausgeht, auszumerzen.“ 2008 wurde durch den nationalen Handlungsplan eine Summe von 213 Millionen Schwedische Kronen ausbezahlt, damit eben dieses Gesetz massiv durchgesetzt und auch in anderen Ländern beworben wird.
Sex/Work Strike in London 2022. Foto: Derek Bremner (CC BY-SA 4.0)
Möchte man Menschen an den Rand der Gesellschaft drängen, möchte man sie noch mehr Gewalt ausliefern?
Als Sozialarbeiterin hat mich interessiert, wie dort soziale Organisationen arbeiten. Ich habe erfahren, dass die Soziale Arbeit in Schweden ausschließlich für die Ausstiegsberatung – in Österreich sagen wir berufliche Umorientierung – Förderungen von der Regierung erhält. Eine Beratungsstelle hat im Jahr 2019 den großen Fehler gemacht, in einem Jahr acht Kondome auszuteilen. Als das publik wurde, gab es einen großen Skandal, weil das Thema Gesundheitsprävention eigentlich nicht mehr stattfinden darf. Das sollte man der Haltung der WHO (Weltgesundheitsorganisation) gegenüberhalten, die sagt, alle Länder sollen auf die Entkriminalisierung der Sexarbeitern*innen und die Beseitigung der ungerechten Anwendung strafrechtlicher Gesetze und Vorschriften gegen Sexarbeit hinarbeiten.
Am Straßenstrich hat es sich als sehr problematisch herausgestellt, dass das Kundenscreening nicht mehr möglich war. Wenn die Kunden Gefahr laufen, erwischt zu werden, ist eine Verhandlungsphase, wo die Sexarbeiterin schaut, wer sitzt da im Auto, passt es mit meinen Bezahlungsvorstellungen, kaum noch möglich. Sie muss einfach schnell ins Auto einsteigen. Im Escort-Bereich kann man sagen, dass die Preise gestiegen sind, und das ist vielleicht der einzige positive Aspekt. Aber weil die Kunden keine Daten hinterlassen, hat die Gewalt zugenommen. Und jetzt mag man sich einmal vorstellen, dass Gewalt auch von der Polizei ausgeübt werden kann. Weltweit ist die Polizei sogar der häufigste Gewalttäter gegen Sexarbeitende.
Die Erfahrungen von Sexarbeiter*innen in jenen Ländern, die dieses Modell eingeführt haben, zeigen auf, dass die Anbieterinnen von dem Gesetz stärker betroffen sind als die Kunden: Angriffe auf Sexarbeiter*innen haben zugenommen, sie bekommen mehr Nachfragen nach ungeschützten Sexpraktiken oder Praktiken, die sie ablehnen, die Kunden versuchen als Kompensation für ihr Risiko den Preis zu drücken. Es gibt auch Fälle von Abschiebungen, bei denen Transpersonen oder Kranken notwendige Medikamente nicht zur Verfügung gestellt wurden. Außerdem hat die Stigmatisierung stark zugenommen und beeinträchtigt die Sexarbeitern*innen im täglichen Leben. In Schweden mehren sich Stimmen, die fordern, dass auch die Sexarbeiter*innen selbst bestraft werden, und dass Kunden nicht nur Geldstrafen bekommen, sondern ins Gefängnis müssen. Ich war schon oft bei Demos von Sexarbeiter*innen in unterschiedlichen Städten und Ländern. Ich bin noch nirgendwo angespuckt worden, in Schweden ist es mir leider passiert.
Der Bericht der Sexarbeitern*innen geht noch weiter: Die Gewalt gegen Sexarbeiter*innen ist angestiegen, die HIV-Rate ist gestiegen, weil das Mitführen von Kondomen als Nachweis für illegale Prostitution gilt. Ich finde das sehr rückschrittlich. Jeder Mensch mit einem aktiven Sexualleben sollte solche Sachen ungestraft bei sich haben dürfen. Das ist eine Haltung, die meiner Meinung nach in unsere Zeit nicht passt und gegen die ich als junge Frau gekämpft habe. In Irland wurde mir erzählt, dass eine Frau, die im neunten Monat schwanger war, verhaftet und der Hetärei bezichtigt wurde, weil sie gemeinsam mit ihrer Freundin, einer Sexarbeiterin, eine Wohnung gemietet bzw. bewohnt hatte. 92 Prozent der Sexarbeiter*innen wollen aus Sicherheitsgründen zusammenarbeiten und sehen diese Maßnahme als „war on the poor“ (Krieg gegen die Armen). Den Exit-Service dagegen sehen sie nur als Möglichkeit an, sich ein warmes Getränk und einen Flyer abzuholen, Kondome gibt es dort nämlich nicht.
Es wird oft gesagt, dass Sexarbeit ein Phänomen des Kapitalismus und des Patriarchats ist, aber ich denke, dass es ein totaler Irrglaube ist, dass man mit der Wunderpille „Schwedisches Modell“ soziale Ungleichheit und ungleiche Geschlechterverhältnisse ausmerzen kann.
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Auszüge aus einem Vortrag am 09.04.2023, organisiert vom queer sex workers collective und der HUS der Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften an der Uni Wien.
Das ganze Video ist hier zu sehen: https://youtu.be/Jsy-e2JUTvs
Der Internationale Hurentag, auch International Sex Workers' Day genannt, findet jährlich am 2. Juni statt und erinnert an die Diskriminierung und Ausbeutung von Sexarbeiter*innen.
veröffentlicht in Talktogether Nr. 84/2023
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