Die Erzählung eines Völkermords in Afghanistan PDF Drucken E-Mail

Die Erzählung eines Völkermords

in Afghanistan

Von Mohammad Sadeghi

Teil I

Afghanistan ist ein Land, dessen Bevölkerung aus vielen Ethnien besteht: Hazara, Tadschik, Usbek, Paschtun, Imaq, Turkmen, Baloch, Pesha'i, Nuristani, Gujjar, Arab, Brahui, Qazlbash, Pamiri, Kirgis, Hindus und Sikhs. Keine der Gruppen hat in Afghanistan die absolute Mehrheit. Aber die Regierungen Afghanistans, die bisher ausnahmslos in den Händen der Paschtunen waren, haben immer versucht, das paschtunische Volk als absolute Mehrheit darzustellen, indem sie Gewalt und Geld einsetzten, um Dokumente zu fälschen oder Journalisten zu bestechen. Diese gefälschte Mehrheit haben sie als Mittel benutzt, um andere Volksgruppen in Afghanistan zu unterdrücken. Die Regierungen Afghanistans haben Volkszählungen immer vermieden, weil dadurch deutlich werden könnte, dass Afghanistan ein Vielvölkerstaat ist und keine ethnische Gruppe die absolute Mehrheit hat.

Da ich selbst Hazara bin, werde ich Ihnen das Volk der Hazara und seine leidvolle Geschichte vorstellen. Es wird geschätzt, dass die Hazaras 30 bis 35 Prozent der Bevölkerung Afghanistans ausmachen, aber wie erwähnt, gibt es dazu keine zuverlässigen und spezifischen Statistiken. Die Hazara leben hauptsächlich in den zentralen Regionen Afghanistans, die in historischen Büchern als Hazaristan erwähnt werden. Sie sind hauptsächlich Muslime, es gibt Hazara Shia, Hazara Sunniten und Hazara Ismailiten. Hazara gelten in Afghanistan aufgrund ihres unterschiedlichen Aussehens aber auch aufgrund ihrer Religion seit jeher als Menschen zweiter und sogar dritter Klasse. Diese diskriminierende Haltung wurde von den paschtunischen Herrschern gesteuert und in die Gesellschaft eingeprägt.

Vor 128 Jahren, als Abdul Rahman, einer der Paschtunen-Herrscher, die Kontrolle über Afghanistan hatte, griff er Hazaristan an, massakrierte 62 Prozent des Hazara-Volkes, nahm Tausende von Hazara-Männern und -Frauen gefangen und brachte sie in die Sklaverei. Während dieses Völkermords wurden schätzungsweise zwei Millionen Hazara ohne Unterschied von Geschlecht und Alter massakriert. Hazara-Frauen und Mädchen wurden weithin vergewaltigt, unter Abdul Rahmans Soldaten aufgeteilt und gingen in den Besitz der Soldaten über. Ländereien, Eigentum und Vermögen der Hazara wurden usurpiert und unter Paschtunen aufgeteilt. Der Prozess dieses Völkermords ist in einem Buch mit dem Titel Siraj al-Tawarikh aufgezeichnet, und es gibt historische Dokumente und Beweise darüber. Während dieses Genozids flohen viele Hazara aus Afghanistan nach Pakistan, Indien und in den Iran. Eine Bevölkerungsgruppe in der iranischen Stadt Mashhad, die als Khawari bekannt ist, sind Nachkommen der Flüchtlinge und Überlebenden des Völkermords aus der Zeit Abdul Rahmans.

Abdul Rahmans Absicht war es, 100 Prozent des Hazara-Volkes zu vernichten. In den von ihm erlassenen Dekreten hatte er seine Absicht viele Male klar zum Ausdruck gebracht, damit seine Soldaten auch keine Zweifel daran haben, Kinder, Männer oder Frauen, egal ob alt oder jung, einfach zu töten. Zu diesem Zweck benutzte er die Religion als Mittel, erklärte die Hazara zu Ungläubigen und das Vergießen von Hazara-Blut für zulässig und halal. Für Hazara ist dieser Tag der schwärzeste Tag ihrer Geschichte. Aus diesem Grund haben Hazara den Tag des Beginns des Massakers, den 25. September, zum Schwarzen Hazara-Tag (Hazara Black Day) ausgerufen und gedenken jedes Jahr an diesem Tag der Opfer des damaligen Völkermords.

Aber die systematische Ausgrenzung der Hazara endet hier nicht, sondern hat sich bis heute fortgesetzt, indem Hazara von Regierungspositionen ferngehalten wurden, bis hin zu verbaler Diskriminierung auf Gemeindeebene und in der Gesellschaft. Die Gebiete, in denen Hazara leben, bekamen keinen Anteil am Wiederaufbauplan der afghanischen Regierung. In den Gebieten von Hazaristan gibt es weder asphaltierten Straßen noch grundlegende städtische Einrichtungen, sie wurden von der Zentralregierung in Kabul immer bewusst vernachlässigt.

Die Eliminierung der Hazara wurde mit gezielten Selbstmord- und Sprengstoffanschlägen in Schulen, Moscheen und Entbindungskliniken fortgeführt, Tausende von Hazara wurden bei diesen Angriffen massakriert. Auch während des Karzai- und des Ghani-Regimes wurden Angehörige der Hazara aus öffentlichen Verkehrsmitteln herausgeholt und auf den Straßen abgeschlachtet. Während der ersten Taliban-Herrschaft (1996-2001) wurden fast zweitausend Hazara-Leute von den Taliban in der Stadt Mazar-i-Sharif brutal ermordet. Außerdem massakrierten die Taliban etwa 300 Hazara-Leute in der Stadt Yakavlang.

Zuvor, während der Mojahedin-Zeit, wurden Tausende von Hazara-Leuten im Afshar-Viertel in Kabul unter Koordination hochrangiger Paschtunen und Tadschiken massakriert, und ihre Siedlung wurde in einen Haufen Asche verwandelt. Die letzten Fälle ereigneten sich in den letzten Monaten des Jahres 2022, als fast 60 Schülerinnen der Kaj-Schule in Kabul bei einem Sprengstoffanschlag getötet wurden und eine zehnköpfige Familie von den Taliban in der Provinz Daikundi massakriert wurde. Wenn ich eine vollständige Liste aller Angriffe gegen Hazara in den letzten 30 Jahren erstellen wollte, müsste ich viele Seiten aufwenden, um die Massaker und deren Opfer aufzulisten.

Derzeit findet durch die Taliban eine erzwungene und systematische Vertreibung der Hazara und die Besetzung ihrer Häuser und Ländereien statt. Diese erzwungenen Aussiedlungen ähneln den erzwungenen Aussiedlungen der Hazara während der Zeit von Abdul Rahman. Heute finden diese erzwungenen Aussiedlungen jedoch unter dem Schweigen der Medien statt. Land und Häuser der Hazara werden beschlagnahmt und ihnen wird eine kurze Frist eingeräumt, um ihr Haus und Land den Taliban zu überlassen und zu gehen, andernfalls werden sie getötet. Unterdrückung, Diskriminierung und systematische Ausgrenzung von Hazara halten somit an.


Teil II

In Fortsetzung meines vorherigen Beitrags möchte ich darauf eingehen, dass wir, die neue Generation der Hazara, die Überlebenden des Völkermords, uns einigermaßen bewusst geworden sind, dass wir aufgrund unserer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe ausgelöscht werden sollten. Wir wünschen uns, dass die systematische Ausgrenzung eines Tages aufhören und wir frei und fern von Diskriminierung leben können, sowohl in Afghanistan als auch anderswo auf der Welt. Um dieses Ziel zu erreichen, setzen wir unseren Kampf fort, der darin besteht, zu überleben und gegen die Unterdrückung zu kämpfen. Zusätzlich zum Überleben nutzen wir das, was wir haben, für diesen wichtigen Kampf. Eines dieser wichtigen Werkzeuge im globalen digitalen Dorf ist das Internet. Es ist für uns Hazara sehr wichtig. Seit Jahren versuchen wir, die Welt darüber zu informieren, dass wir einem Völkermord ausgesetzt sind. Von den Twitter-Stürmen und der Kampagne # Stop Hazara Genocide bis hin zu Massenprotesten auf der ganzen Welt. Heute stellen wir hier eine dieser Kampagnen vor, um den Völkermord an der Hazara-Bevölkerung zu stoppen. Diese Kampagne wurde von mir nach der Explosion der Kaj-Schule gestartet. Bei dieser Explosion wurden 53 Hazara Schulmädchen getötet und 110 Hazara Mädchen verletzt. Fatemeh ist eine der Überlebenden der Explosion. Bei dieser Explosion verlor sie eines ihrer Augen. So wurde ihr Gesicht in sozialen Netzwerken zum Symbol des Kampfes und des Überlebens.

# Stop Hazara Genocide

Die Kampagne richtet sich an die Überlebenden der Völkermord-Anschläge und startete mit diesem Aufruf: Macht mit bei der Kampagne „Stop Hazara Genocide“! Seit mehr als einem Jahrhundert sind Hazaras einem systematischen Völkermord ausgesetzt. Vom Völkermord zu Abdul Rahmans Zeiten über den Angriff auf Schüler der Kaj-Schule bis hin zur Ermordung von elf Menschen in Daikondi, Afghanistan. Auch die systematische Diskriminierung, die jede und jeder Hazara seit mehr als einem Jahrhundert mit ihrer Haut, ihrem Blut und ihren Knochen erfährt. Zu diesem Zweck lade ich euch/Sie alle ein, die linke Hand über das linke Auge zu legen, ein Foto von sich zu machen und dieses in sozialen Netzwerken versehen mit dem Hashtag #StopHazaraGenocide zu veröffentlichen. Lasst uns diese symbolische Bewegung auch individuell und kollektiv bei Konferenzen, in Programmen und überall dort wiederholen, wo es eine Möglichkeit für eure/Ihre Anwesenheit gibt. Machen wir aus dieser Bewegung ein Symbol für den Protest gegen den andauernden Völkermord und die systematische Diskriminierung der Hazara-Volksgruppe. Teilnehmen können alle, deren Herz für die Menschheit schlägt.

Veröffentlicht in Talktogether Nr. 53 und 54/2023