Gespräch mit Omar K., Sozialarbeiter PDF Drucken E-Mail

Gespräch mit Omar K.*, Sozialarbeiter

TT: 2015 sind viele Menschen zu uns geflüchtet, wie siehst du als Sozialarbeiter und ehemaliger Flüchtling das Ergebnis heute?

OK: Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie im Sommer 2015 viele Menschen aus dem arabischen Raum, aber auch aus Afrika, Afghanistan und anderen Ländern nach Österreich gekommen sind. Ich erinnere mich auch, wie viele Menschen am Bahnhof waren, um diese Menschen willkommen zu heißen, die Essen und Kleider gebracht oder für sie gedolmetscht haben. In dieser Zeit wurden auch Begegnungsveranstaltungen organisiert wie das Picknick im Volksgarten. Damals hörte man nicht viele Stimmen, die sich gegen die Flüchtlinge aussprachen. Erst ein paar Monate später, nach dem Vorfall in der Silvesternacht in Köln, ist die feindliche Stimmung wieder hochgekommen, die zuvor eine Zeit lang unterdrückt war.

Die Menschen, die damals kein Wort Deutsch gesprochen haben, üben heute viele verschiedene Berufe aus. Sie sind Buslenker*innen, Handwerker*innen, Unternehmer*innen, ausgebildete Pflegekräfte, Geschäftsinhaber*innen oder arbeiten als Ingenieur*innen in Bauunternehmen. Sie sind ein unverzichtbarer Teil der Gesellschaft geworden, sie zahlen Steuern und schaffen Arbeitsplätze. Die Kriminalitätsrate unter diesen Menschen ist erwiesenermaßen nicht höher als beim Rest der Bevölkerung. Da frage ich mich: Aus welchem Grund sollte man diese Menschen ablehnen?

TT: Welche Bedeutung hat Arbeit für diese Menschen?

OK: Ich kann mich erinnern, als ich selbst als Flüchtling nach Österreich gekommen bin und nicht arbeiten durfte. Ohne Arbeit fühlt sich der Tag so lang an wie eine Woche, und die Woche wie ein Monat. Arbeit ist mehr als nur Geld zu verdienen: Durch die Arbeit bekommt man eine Tagesstruktur, man hat eine Aufgabe. Arbeit verleiht den Menschen Selbstwertgefühl, durch sie bekommt der Tag einen Sinn, man begegnet anderen Menschen, man ist ein Teil der Gesellschaft. Die Menschen können durch die Arbeit ihre Fähigkeiten präsentieren und zeigen, dass sie nicht nach Österreich gekommen sind, um sich auf der sozialen Hängematte auszuruhen, wie ihnen manchmal vorgeworfen wird. Ich kann bestätigen, dass die meisten Asylsuchenden arbeiten und ein friedliches Leben führen wollen. Doch manche jubeln, wenn sich einzelne etwas zu Schulden kommen lassen, denn dann können sie mit dem Finger auf sie zeigen und sagen: „Wir haben ja schon immer gewusst, dass sie Verbrecher sind“. Die Propaganda der rechten Parteien gegen geflüchtete Menschen ist auch sehr widersprüchlich: auf der einen Seite wird gesagt, die Ausländer nehmen uns die Arbeit weg. Die gleichen Personen meinen, sie wollen unser Sozialsystem ausnutzen. Wichtig ist auch zu erwähnen, dass diese Menschen viele positive Dinge mitgebracht haben. Zum Beispiel ihre Kenntnisse und ihre Kulturen, neue Gerichte und neue Waren. So ist unsere Stadt lebendiger und internationaler geworden. Ich denke, dass das von einem Teil der hier eingesessenen Menschen auch als positiv gesehen wird. Wir brauchen einfach mehr Orte, an denen die Menschen einander begegnen können, damit wir mehr voneinander erfahren und sich negative Einstellungen in positive umwandeln können.

TT: Viele Branchen sind heute mit Arbeitskräftemangel konfrontiert, trotzdem gibt es Arbeitslosigkeit. Was sind die Gründe?

OK: Vor ein paar Tagen ist ein junger Mann zu mir gekommen, der eine Stelle gesucht hat. Ich bin mit ihm zur nächsten Billa-Filiale gegangen, und dort hat man ihm gesagt, dass er sofort anfangen könne. Sie haben ihm auch angeboten, dort eine Lehre zu machen. Manchmal mangelt es nur an der Kommunikation zwischen den Arbeitssuchenden und den Firmen. Ich denke, es wäre wichtig, Leute aus den verschiedenen Communities auszubilden und den Leuten zur Seite zu stellen. Aus Sicht der Sozialarbeit sind drei Punkte sehr wichtig: Beziehung, Beratung und Begleitung. Doch die Menschen werden allein gelassen. Wenn sie Asyl bekommen haben, ist der erste Schritt meist zum Sozialamt. Das machen sie nicht, weil sie es gern tun, sondern weil sie nichts anderes kennen. Wenn wir wollen, dass wir alle in Wohlstand und Sicherheit leben, müssen wir diesen Menschen die passende Beratung und Begleitung zur Verfügung stellen, und zwar über einen bestimmten Zeitraum, je nach Bedürfnis.

Ein wichtiges Hindernis ist auch die fehlende Kinderbetreuung. Das betrifft vor allem Frauen, die hier keine Eltern oder Verwandte haben, die auf ihre Kinder aufpassen können, wenn sie in der Arbeit sind. Sie sind gezwungen, zum Sozialamt zu gehen. Daran sind sie nicht schuld. Man müsste sich hier etwas einfallen lassen. Man könnte zum Beispiel ältere Personen, die die gleiche Sprache sprechen und am Arbeitsmarkt nicht so gute Chancen haben, als Kinderbetreuungskräfte einschulen. Sie könnten die Kinder in der Früh in den Kindergarten bringen, sie am Nachmittag abholen und versorgen, bis die Eltern von der Arbeit nach Hause kommen. So könnte man vermeiden, dass die Frauen zum Sozialamt gehen müssen, andererseits hätten die älteren Menschen auch eine sinnvolle Aufgabe und ein Einkommen.

TT: Was sagst du zu Aussagen, dass Sozialleistungen erst nach fünf Jahren gewährt werden sollen?

OK: Das halte ich für absurd. Damit wird nur verhindert, dass Menschen die Sprache gut lernen und selbständig werden. Die Menschen brauchen am Anfang eine Starthilfe, nach fünf Jahren haben sich die schon etabliert und benötigen keine Unterstützung mehr. Es gibt aber kinderreiche Familien oder Alleinerzieherinnen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, weil das Einkommen nicht ausreicht, um die Lebenskosten zu bestreiten. Wenn man ihnen diese Unterstützung verweigert, würde man nur die Armut in den Familien noch weiter vergrößern, die in Österreich ohnehin schon bedenkliche Ausmaße angenommen hat.

TT: Wenn Menschen trotz Arbeit Sozialhilfe benötigen, stellt sich die Frage: Sind die Löhne nicht angemessen?

OK: Wir befinden uns in einer Lage, in der die Preise steigen, die Löhne aber nicht gleichermaßen. Manche Familien haben bisher vermieden, um Sozialunterstützung anzusuchen, weil sie sich um die Staatsbürgerschaft bewerben möchten. Jetzt sind sie gezwungen, einen Antrag zu stellen. Ich finde es nicht richtig, wenn der Staat einfach mit Einmalzahlungen Geld verteilt. Das hilft den Menschen nicht auf längere Sicht, die Teuerung muss gebremst werden.

TT: Was sollte man mit den Menschen tun, die sich aus gesundheitlichen Gründen oder mit der Sprache schwertun?

OK: Solange ein Mensch aufstehen und sich selbst anziehen kann, gibt es auch etwas, was er oder sie tun kann. In den Seniorenheimen braucht man ausgebildete Fachkräfte. Um diese zu entlasten, benötigt man auch Leute, die mit den Menschen spazieren gehen, die ihnen beim Essen helfen oder die Zeit haben, mit ihnen zu reden oder ihnen einfach zuzuhören. Ein Freund von mir kann wegen seiner Krankheit nicht in einer Fabrik arbeiten, aber er ist Musiker und Entertainer. Er könnte in einem Seniorenheim ein Programm für die Bewohner*innen gestalten. Das würde sein Selbstwertgefühl starken und die Stadt würde sich die Sozialleistung sparen. Unser System sortiert die Menschen jedoch aus, wer nicht so funktioniert wie erwartet, wird an den Rand gedrängt. So bleiben die Starken und Reichen oben, während die anderen unten bleiben.

OK: Was sagst du zu dem Wiener Politiker, der gegen den Brunnenmarkt wettert, weil viele der Marktstände dort von Menschen betrieben werden, die nicht seit Generationen in Österreich leben?

OK: Es ist doch ein Beweis dafür, dass manche Politiker keine Ahnung haben, wie man in einer Gesellschaft gut miteinander zurechtkommt. Sie können sich nicht darüber freuen, dass diese Menschen erfolgreich sind, Steuern zahlen und Arbeitsplätze schaffen. Ohne diese Händlerinnen würde uns etwas fehlen, es gäbe diesen Markt mit seiner großen Auswahl an Waren wahrscheinlich gar nicht mehr. Wenn meine Lebensgefährtin und ich hin und wieder nach Wien fahren, genießen wir es sehr, am Naschmarkt, Karmelitermarkt oder am Brunnenmarkt die Düfte der Speisen und Gewürze aus vielen Teilen der Welt einzuatmen. Diese Märkte sind meiner Meinung nach eine gelungene Mischung aus Tradition und internationalem Flair. Hier fühlt man: Wir sind nicht isoliert, wir sind nicht in einem kleinen Dorf, sondern in einer Weltstadt, in unserer Hauptstad Wien. Wer uns diese Märkte nicht gönnte, wer sich über unsere schöne Stadt und ihre Internationalität nicht freut, der braucht meiner Meinung nach einen Integrationskurs. Doch anstatt sich über das friedliche Zusammenleben zu freuen, schüren manche Parteien Neid, Hass und die Spaltung der Bevölkerung. Es könnte sein, dass sie keine Freunde auf diesem Markt haben und nie mit den Menschen gesprochen haben, über die sie reden. Daher schlage ich vor, sie einzuladen, damit sie sich selbst überzeugen können, wie die Menschen dort leben und arbeiten. Jeder und jede hat hier die Möglichkeit, Leberkäse und Kebap nebeneinander zu verkaufen. Wo, bitte schön, ist hier das Problem? Ja, es gibt ein Problem, und zwar in der Politik. Wir können alle ohne Neid und Missgunst friedlich zusammenleben, denn Hass und Sticheleien machen uns gesellschaftlich und wirtschaftlich nur schwach.

TT: Was sagst du dazu, wenn unser Bundeskanzler meint, dass es ein Fehler war, die Gastarbeiter ins Land zu holen?

OK: Er ignoriert, dass diese Menschen einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben, dass wir heute im Wohlstand leben. Ohne sie wäre der Wirtschaftsaufschwung bestimmt bescheidener ausgefallen. Ich kenne einen Mann, der viele Jahre lang auf der Baustelle als Maurer gearbeitet hat und am Bau des Landeskrankenhauses beteiligt war. Heute erhält er eine Pension, die nicht zum Überleben reicht. Zurück in sein Herkunftsland kann er auch nicht, weil er durch den Krieg verloren hat, was er früher aufgebaut hat. Er ist stolz, wenn er heute die Gebäude sieht, die er mit seinen Händen aufgebaut hat. Er ist aber traurig, dass er von seiner Pension nicht leben kann. Die Politiker glauben, sie werden nur gewählt, wenn sie „feindselig“ sind. Sie sollten es lieber einmal mit Vernunft und Menschlichkeit ausprobieren, es würde sich für uns alle lohnen.

TT: Der Erste Mai erinnert an die europäischen Einwander*innen, die in Chicago für den 8-Stunden-Tag gekämpft haben. Ist der Erste Mai auch ein Tag der Migrant*innen?

OK: Ein Tag der Arbeiter*innen aller Länder würde ich sagen. Ich habe als Kind den Ersten Mai sehr genossen, ohne die Geschichte dieses Tages zu kennen. Es war einfach schön, die Musikkapellen zu hören, die bei den Aufmärschen spielten. Der Tag ist ein Symbol für das Selbstbewusstsein der arbeitenden Menschen. Er ist ein Tag der Vereinigung und nicht der Spaltung. Die Christen haben Weihnachten und Ostern, die Muslime haben Bayram am Ende des Ramadans und den Opfer-Tag, auch die anderen Religionen haben ihre Feiertage. Der erste Mai dagegen ist ein Feiertag für alle Arbeiter und Arbeiterinnen auf dieser Welt, egal in welchem Land sie leben. Was die Geschichte dieses Tages anbelangt: Damals in den USA haben sich die Eingewanderten aus verschiedenen Ländern zusammengeschlossen und für den Achtstundentag gekämpft. Wir leben heute in Europa im 21. Jahrhundert und wollen niemanden zurücklassen. Wir verlangen von der Politik, dass sie die Bedingungen schafft, dass alle Menschen ein gutes Leben führen können, dass niemand ausgeschlossen wird und alle Menschen eine Chance bekommen. Alle Menschen sollten die Möglichkeit bekommen, an der gesellschaftlichen Arbeit teilzuhaben und eine sinnvolle Tätigkeit – je nach ihren Möglichkeiten – auszuüben. Die Arbeitszeiten sollten flexibler gestaltet werden, damit die Arbeiter*innen Zeit für ihre Familien haben und gleichzeitig von ihrem Gehalt leben können.

TT: Du hast uns über die anderen erzählt, wie war es bei dir?

OK: Die ersten Jahre habe ich in einem Flüchtlingsheim in der Steiermark verbracht. Zuerst war ich glücklich, dass ich weit weg von Krieg und Gewalt war. Nach ein paar Wochen in Sicherheit hat mir jedoch eine Aufgabe gefehlt, ich habe Arbeitsmöglichkeiten gesucht, aber leider keine gefunden. Ich war in einem kleinen Dorf, dort haben wir weder ehrenamtliche Unterstützerinnen kennengelernt noch Deutschkurse bekommen. Ich erkannte, dass die Sicherheit gut und schön ist, aber als gesunder Mensch braucht man auch eine sinnvolle Betätigung.

TT: Was bedeutet für dich Integration?

Ok: Ich habe wirklich versucht, den Begriff „Integration“ zu verstehen. Ich bin 31 Jahre in Österreich und von meinem Freundeskreis höre ich, dass ich integriert sei. Wenn es Integration ist, was ich gemacht habe, ist es normal, denn ich mache nur, was ich auch gemacht hätte, wenn nicht hier wäre. Die anderen Menschen wollen das gleiche, nämlich hier Fuß fassen und sich ein Leben aufbauen. Aber viele brauchen Unterstützung, und zwar nicht nur finanzielle, sondern Beratung und Orientierung für eine bestimmte Zeit. Wer es bis dahin nicht schafft, sollte noch eine Chance bekommen. Integration wird von der Politik als Machtdemonstrationswort verwendet, das immer betont, du bist nicht von hier, wenn du dableiben möchtest, sei wie wir. Doch wenn die Leute es schaffen, ihren eigenen Marktstand zu haben, werden sie auch nicht akzeptiert. Um die Sprache zu lernen, mich selbst zu erhalten, Freunde zu finden und mich weiterzubilden, brauche ich keinen Zwang. Statt Integration würde ich auf Augenhöhe basierendes Zusammenleben, Chancengleichheit, gleiche Rechte und gleiche Pflichten bevorzugen.

*Name der Redaktion bekannt

veröffentlicht in Talktogether Nr. 84/2023