100 Jahre sozialer Wohnbau im Roten Wien
Nach dem Ersten Weltkrieg herrschten in Wien Hunger und Elend. Die Menschen hausten in Bretterbuden oder in überfüllten Mietshäusern. Die Tuberkulose forderte jedes Jahr Tausende Tote. Einige Jahre später wohnten die Arbeiterfamilien in lichtdurchfluteten Räumen in Wohnanlagen mit grünen Innenhöfen und Einrichtungen, die ihnen das Leben erleichterten. Sie waren medizinisch gut versorgt und beteiligten sich am intellektuellen Leben. In einem einzigartigen Experiment hat die Sozialdemokratie in den 1920er-Jahren versucht, den Grundstein für eine selbstbewusste und emanzipierte Arbeiterschaft zu legen.
Körperkultur - Befreiung – Aufklärung - Kinderfürsorge: Keramikskulpturen von Josef Franz Riedl am Karl-Marx-Hof. Foto: Herbert Josl (CC BY-SA 3.0)
Sie sehen aus wie Festungen, Wohnpaläste oder Parkstädte. Bis heute bieten die Gemeindebauten Wohnraum für Tausende Wiener und Wienerinnen und werden wegen ihrer kühnen Architektur bewundert. Zwischen 1919 und 1934 brachte die sozialdemokratische Stadtregierung eine einzigartige Kultur hervor, die in diesen Bauwerken sichtbar wurde. Das Rote Wien war ein einzigartiges gesellschaftspolitisches Experiment, das sich nichts Geringeres zum Ziel gesetzt hat, als einen neuen Menschen zu erschaffen. Dies sollte aber nicht durch eine Revolution geschehen, sondern durch Veränderungen im Hier und Jetzt.
Das Experiment begann am 4. Mai 1919, als die Sozialdemokratische Arbeiterpartei die Gemeinderatswahlen mit überwältigender Mehrheit gewann und Jakob Reumann der erste sozialdemokratische Bürgermeister einer europäischen Großstadt wurde. In den folgenden 15 Jahren entwickelte die Sozialdemokratie ihr einzigartiges Konzept, eine sozialistische Gesellschaft mit demokratischen Mitteln zu verwirklichen.
Ein Steuersystem, das für mehr Gerechtigkeit sorgt
Das Gebiet, das nach der Neuaufteilung Europas nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vom Habsburgerreich übriggeblieben war, war ein kleines, landwirtschaftlich und katholisch geprägtes Land mit einer viel zu großen Hauptstadt. Wien zählte über zwei Millionen Einwohner*innen und war die fünftgrößte Stadt der Welt. Von 1919 bis 1920 wurde die neue Republik von einer Koalition regiert. In diese Zeit fielen wichtige politische Errungenschaften wie die Einführung des Achtstundentags, bezahlter Urlaub, Betriebsräte, Sozialversicherungsgesetze, Arbeiterkammer und Mieterschutz.
Aber schon 2020 zerbracht die Koalition. Österreich wurde von der Christlichsozialen Partei regiert und hatte eine rote Hauptstadt. Die Kluft verstärkte sich, als Wien ein eigenes Bundesland wurde. Dass die Stadt als selbstständiges Bundesland ihre Steuern selbst gestalten konnte, war aber eine unverzichtbare Grundlage für das sozialdemokratische Reformprogramm, welches sich in der Arbeits-, Sozial- und Gesundheitspolitik sowie im Bildungswesen ausdrückte.
Zentrales Instrument für die Finanzierung der dringend notwendigen Wohnhausneubauten war die zweckgebundene Wohnbausteuer. Diese wurde nach dem Mietzins berechnet, war jedoch extrem gestaffelt, so dass der Großteil der Wohnungsmieten mit nur zwei Prozent belastet wurde, während die teuersten Wohnungen fast die Hälfte der Steuereinnahmen einbrachten. Eine Luxussteuer betraf ebenfalls vor allem die Oberschicht, während gleichzeitig die Kosten für Strom, Gas, Wasser und Straßenbahnfahrscheine gesenkt wurden.
Mit ihrer klugen Steuerpolitik schaffte die Gemeinde von Anfang an ein ausgeglichenes Budget, ohne Kredite aufnehmen zu müssen. Alle politischen Maßnahmen, die für den kommunalen Wohnbau in der Zwischenkriegszeit notwendig waren, die Bodenreform, die Einführung einer progressiven und zweckgebundene Wohnbausteuer sowie einer Luxussteuer wurden mit demokratischen Mitteln erreicht. Erbitterten politischen Widerstand erfuhr die sozialdemokratische Steuer- und Wohnbaupolitik jedoch aus dem bürgerlichen Lager. In Medienkampagnen wurden die angebliche Unzulänglichkeit der Gemeindebauten angeprangert, der 1922 eingeführte Mieterschutz sowie die Wohnbau- und andere nach dem Finanzstadtrat benannte „Breitner-Steuern“ unablässig verunglimpft.
Licht, Luft und Sonne
Zu den größten Herausforderungen der am 12. November 1918 ausgerufenen Ersten Republik gehörte das unerträgliche Elend der arbeitenden Menschen und die drückende Wohnungsnot. Die Mietshäuser waren als Spekulationsobjekte gebaut worden, möglichst viele Wohnungen auf engstem Raum garantierten den optimalen Gewinn. Die nur durch ein Gangfenster dürftig belichteten und belüfteten Bassena-Wohnungen (Zimmer-Küche-Wohnungen mit Toiletten auf den Gängen) waren überbelegt und wurden zusätzlich noch von Bettgeher*innen genutzt. Damit bezeichnete man Menschen, denen stundenweise eine Schlafstelle in einem Bett vermietet wurde. Kein Wunder, dass es unter diesen Bedingungen zu Missbrauch kam und sich Krankheiten ausbreiteten. Die grassierende Tuberkulose war als Wiener Krankheit bekannt und galt als typische Seuche der Arbeiterschaft. Weder von privatwirtschaftlichen Investoren noch von staatlicher Seite war für das Wohnungsproblem eine Lösung zu erhoffen, zumal von den finanzschwachen Mieter*innen keine Profite zu erwarten waren.
So bemühte sich die sozialdemokratische Stadtverwaltung nach ihrem historischen Wahlsieg selbst die Initiative zu ergreifen. Ihr Modell sah vor, möglichst viele kostengünstige Wohnungen für die notleidende Bevölkerung zu schaffen. Am 21. September 1923 wurde das erste Wohnbauprogramm beschlossen: Es sah die Errichtung von 25.000 neuen Wohnungen vor; ein Ziel, das bis 1926 verwirklicht wurde. Mit dem zweiten Wohnbauprogramm 1927 wurde der Bau von weiteren 30.000 Wohnungen geplant. Bis 1934 wurden in Wien 382 Wohnsiedlungen mit insgesamt 65.000 hellen und hygienischen Gemeindewohnungen errichtet.
Ein neuer Mensch soll geschaffen werden
Weniger spektakulär aber genauso wirksam war das Sozial- und Gesundheitsprogramm des Roten Wien. Der Arzt Julius Tandler, Stadtrat für Wohlfahrts- und Gesundheitswesen, verfolgte ein ganzheitliches Weltbild und sah die Aufgabe von Ärzten nicht nur im Heilen, sondern auch im Vorbeugen von Krankheiten. Berühmt wurde sein Ausspruch: „Kein Wiener Kind darf auf Zeitungspapier geboren werden.“ Junge Familien wurden betreut und beraten und jeder Mutter wurde ein kostenloses Wäschepaket persönlich übergeben. Mit solchen Maßnahmen konnte die Säuglingssterblichkeit deutlich verringert werden. Auch für die älteren Kinder wurde gut gesorgt: Kindergärten und Jugendhorts wurden an den schönsten und sonnigsten Plätzen errichtet. „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder“ war ein weiterer wegweisender Spruch Tandlers.
Außerdem wurden neue Spitäler und Tuberkulosefürsorgestellen errichtet sowie bestehende Krankenhäuser von der Gemeinde übernommen, so dass die Patient*innen nicht länger Bittsteller*innen waren, sondern Anspruchsberechtigte. Auch Hygiene und Körperertüchtigung wurden gefördert. Nicht nur repräsentative Bauten wie das prachtvolle Amalienbad, sondern auch zahlreiche Kinderfreibäder mit kostenlosem Zugang wurden errichtet, welche sich bis heute großer Beliebtheit erfreuen.
Das Ziel aller Reformen war kein geringeres, als einen neuen Menschen zu schaffen. Gesund, selbstbewusst, aufgeklärt und klassenbewusst sollte er sein. Durch die Errichtung von Bibliotheken und Volksbildungseinrichtungen, aber auch durch zahlreiche Vereine, in denen der Arbeiter und die Arbeiterin von Kindesbeinen an organisiert war, sollte eine proletarische Gegenkultur zur bürgerlichen „Hochkultur“ geschaffen werden.
Das Recht auf Schönheit
Die Arbeiterklasse sollte nicht nur einen Anspruch auf gesunden und leistbaren Wohnraum haben, sondern auch auf Schönheit. Es wurde entschieden, keine Reihenhäuser am Stadtrand zu bauen, denn die Wohnhäuser der Arbeiter sollten die Stadt erobern. Die insgesamt 382 Gemeindebauten wurden von nicht weniger als 199 unterschiedlichen Architekten geplant, unter denen sich jedoch nur zwei Frauen befanden: Ella Briggs-Baumfeld und Margarete Schütte-Lihotzky. Auch ohne die Hinweistafeln erkennt man die Bauten meist auf den ersten Blick. Charakteristisch sind die großen ruhigen Innenhöfe mit viel Grün, die ausdrucksstarke Architektur und das Vorhandensein gemeinschaftlicher Sozialeinrichtungen. Auch wenn Otto Wagner selbst keine Gemeindebauten errichtet hat, ist der Einfluss des berühmten Jugendstilarchitekten unverkennbar, schließlich gehörten viele der beauftragten Architekten zu seinen Schülern. Zu den damals erbauten kommunalen Einrichtungen gehörten jedoch nicht nur Wohnbauanlagen, sondern auch Schulen, Spitäler, Schwimmbäder, Sportanlagen, Konsumläden, Theater, Gaststätten, Kinos, Arbeiterheime, Volkbildungseinrichtungen, Parteilokale sowie Friedhöfe und zwei neue Krematorien am Wiener Zentralfriedhof.
1934 wohnte bereits ein Zehntel der Wiener Bevölkerung in einem Gemeindebau. Die Aufbruchstimmung und die Utopie einer neuen Gesellschaft fanden jedoch ein jähes Ende, als Engelbert Dollfuß das Parlament ausschaltete und im Februar 1934 auf die Gemeindebauten schießen ließ, wo die Arbeiter*innen erbitterten Widerstand leisteten. 10.000 Männer und Frauen wurden verhaftet, 21 Menschen zum Tode verurteilt. Die Freien Gewerkschaften und alle sozialdemokratischen Vereine wurden aufgelöst und ihr Vermögen beschlagnahmt. Alles, was die Arbeiterbewegung erschaffen hat, war zu Ende. Trotzdem lebt das Vermächtnis des Roten Wien Vermächtnis bis heute weiter. Dass Wien regelmäßig zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt wird, verdankt die Stadt zweifellos zu einem guten Teil den Errungenschaften von damals. Und die Idee einer verdichteten, durch Grünräume lebenswert gestalteten Stadt mit kurzen Wegen ist heute wieder sehr modern geworden.
veröffentlicht in Talktogether Nr. 85 / 2023
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