50 Jahre Militärputsch und sein bitteres Erbe
Gespräch mit Nibaldo Vargas Arias
Protestaktion zum Todestag von Macarena Valdés auf dem Schwarzenbergplatz in Wien. Foto: Ulli Zomorrodian
TT: Am 11. September 2023 jährt sich der Putsch in Chile zum 50. Mal. Wie so viele Menschen musstest auch du damals zusammen mit deiner Familie das Land verlassen. Wie alt warst du damals und woran erinnerst du dich?
Nibaldo: Ich war damals zehn Jahre alt. Für mich und meine beiden jüngeren Geschwister hat die Flucht schon am 10. September begonnen, also bereits einen Tag vor dem Putsch. Weil auffallend viele Familien ihre Kinder weggebracht haben, haben auch meine Eltern entschieden, uns in Sicherheit zu bringen. Wir verbrachten die Nacht bei unserer Großmutter, die eine Bäckerei und ein großes Haus hatte. Seitdem sind wir nicht mehr in unser Haus zurückgekehrt. Die ersten Monate haben wir uns bei der Großmutter versteckt. Doch nachdem mein 17-jähriger Bruder im Juni 1974 schwer gefoltert worden war, haben wir die Stadt verlassen und kamen bei verschiedenen Verwandten unter. Zusammengekommen ist die Familie erst wieder im August 1974, kurz vor unserer Flucht nach Argentinien.
Meine Mutter, die in der Partei gearbeitet und für die Regionalwahl kandidiert hatte, hat in der Botschaft des Vatikans Schutz gefunden. Wir haben wir sie erst wieder gesehen, als wir Chile in Richtung Argentinien verlassen konnten. Dort blieben wir aber nur kurz, weil auch dort die Lage für uns gefährlich war. Die Geheimdienste von Argentinien und Chile haben nämlich kooperiert und gegenseitig Informationen ausgetauscht, um oppositionelle Kräfte zu verfolgen und zu töten. Wir mussten also weg und wollten nach Australien. Die australische Botschaft hat uns aber kein Visum gegeben und uns mitgeteilt, dass wir mindestens sechs Monate warten müssten. Die Lage war aber so prekär, dass meine Eltern sagten, so lange können wir nicht warten.
Da haben wir die Möglichkeit bekommen, nach Rumänien zu reisen, wo damals Ceausescu an der Macht war. Und so sind wir im Dezember 1974 nach Rumänien gereist, wo wir sehr wohlwollend aufgenommen wurden. Weil wir eine so große Familie waren – wir waren zehn Personen – hat man uns zwei Wohnungen gegeben. Wir bekamen Unterstützung, und wir Kinder haben dort die Schule besucht. 1976 haben wir jedoch beschlossen, Rumänien wieder zu verlassen, weil uns das politische System dort nicht sonderlich gefallen hat. Wir wollten nach Deutschland, doch an der Grenze wurden wir zurückgewiesen. So sind wir in Salzburg gelandet – ein Zufall. Glücklicherweise haben wir in der Pfarre Mülln jemanden getroffen, der Spanisch konnte und uns unterstützt hat.
TT: Wie war die Situation, als ihr in Österreich angekommen seid? War es schwierig, in Salzburg Fuß zu fassen?
Nibaldo: Es war für uns alles neu, vor allem die Sprache. Rumänisch haben wir schnell gelernt, weil es dem Spanischen ähnlich ist, aber Deutsch zu lernen, war schon heftig. Trotzdem habe ich mich als Kind in Salzburg sehr wohl gefühlt. Vorübergehend bin ich bei den Herz-Jesu-Missionaren in die Schule gegangen und war bei den Pfadfindern. Wir haben sehr viel Solidarität erfahren, vor allem von Seiten der katholischen Kirche. In Wien war die Situation anders, da wurden die Geflüchteten aus Chile von den Gewerkschaften und den Sozialdemokraten unterstützt. In Salzburg waren wir ein bisschen isoliert, trotzdem haben wir uns gut aufgenommen gefühlt und viel Unterstützung bekommen. Später kam ich in die Hauptschule und musste in den Zweiten Klassenzug, weil ich nicht gut Deutsch konnte. Mit diesem Abschlusszeugnis war es unmöglich, eine Weiterbildung zu machen, zum Glück habe ich das später nachgeholt. Das Schulsystem war damals sehr restriktiv, ohne Sprachkenntnisse wurde man sofort deklassiert. Für mich als Jugendlichen war das eine Hürde.
TT: Kannst du uns die Hintergründe des Putsches erklären?
Nibaldo: Von 1970 gewann Salvador Allende, der Kandidat des Wahlbündnisses Unidad Popular (Volksfront), die Wahlen und wurde Präsident von Chile. Er hatte vor, auf demokratischem Weg eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Wenn wir von Sozialismus reden, ging es aber nicht um eine Revolution, sondern vielmehr um die gleichen Dinge, die auch die Kreisky-Regierung hier in Österreich zur selben Zeit umgesetzt hat. Vor allem hatte Allende erkannt, dass die Rohstoffe Chiles in fremder Hand sind, und dass von den Profiten, die damit erzielt wurden, nur sehr wenig im Land blieb. Das wollte er ändern. Also hat er die Kupferminen, die in US-amerikanischem Besitz waren, verstaatlicht. Damit hat er den Zorn der US-Regierung auf sich gezogen. Präsident Nixon und Außenminister Kissinger fürchteten, dass andere lateinamerikanische Staaten dem Beispiel Chiles folgen könnten. In Chile gab es die am besten organisierte Gewerkschaft und die größte kommunistische Partei Lateinamerikas. Der Terror begann, noch bevor Allende sein Amt angetreten hat. Wir wissen heute, dass ultra-rechte Armeeangehörige mit dem CIA zusammengearbeitet haben. René Schneider, der Oberbefehlshaber der Armee, wurde bei einem Entführungsversuch getötet, weil er und sein Chauffeur sich gewehrt haben. Die Terroristen, die das Attentat ausgeführt haben, hatten die Waffen vom US-amerikanischen Konsulat ausgehändigt bekommen, das ist mittlerweile nachgewiesen.
Der Schwerpunkt von Allendes Wirtschaftspolitik waren Reformen im Sozial- und Bildungsbereich sowie eine Agrarreform, die auch die indigene Bevölkerung begünstigt hat – ein Konvolut an Maßnahmen, die für ganz Lateinamerika vorbildhaft waren, das hört man heute noch. Für die Menschen waren die Reformen ein großer Fortschritt: Es gab ein kostenloses Bildungssystem, der Zugang zu den Universitäten wurde auch für die Kinder der arbeitenden Bevölkerung geöffnet, die Versorgung mit Nahrungsmitteln wurde garantiert – zum Beispiel wurde an jede Familie Milchpulver verteilt, was natürlich auch ein symbolischer Akt war. Die Kultur wurde stark gefördert und ein Verlag gegründet, der die besten Werke der Literatur zu leistbaren Preisen unter die Menschen brachte. Ich habe als Kind sehr viel gelesen, denn die Bücher kosteten fast nichts.
In meiner Erinnerung war es eine Zeit, in der bei den Menschen viel Freude zu spüren war. Die soziale Gesetzgebung, die Rechte der Frauen, die Unterstützung von unehelichen Kindern – es gab viele Maßnahmen, die den Menschen das Leben erleichtert haben. Auf der anderen Seite gab es die Opposition, die viel mit Desinformation gearbeitet hat. Es hieß zum Beispiel, Allende würde den Leuten eine kommunistische Impfung verpassen, eine Behauptung, die natürlich nur für Ignoranten glaubhaft ist.
TT: Und das alles wurde mit dem Putsch beendet?
Nibaldo: Alle Parteien und Gewerkschaften wurden verboten und es hat eine massive Verfolgungsjagd eingesetzt. Schon im ersten Jahr wurden Tausende getötet. Intellektuelle, Künstler*innen, Lehrer*innen, Gewerkschafter*innen – also alles, was eine Gesellschaft zusammenhält – wurden verfolgt, verschleppt, gefoltert und umgebracht. 180.000 Chilenen und Chileninnen sind aus dem Land geflüchtet. Die Chicago Boys, die schon seit den 1950er Jahren auf diesen Augenblick vorbereitet worden waren, hatten nun freie Bahn. Den Schülern von Milton Friedmann stand jetzt ein Labor zur Verfügung, in dem sie ihre ökonomischen Theorien testen konnten, ohne Widerstand von Gewerkschaften oder einer politischen Opposition, denn das ist es, was das neoliberale System braucht.
Die Verstaatlichungen wurden sukzessive rückgängig gemacht und die Betriebe wieder privatisiert. Aber Pinochet war klug genug, ein Viertel der Einnahmen aus dem Kupferhandel – Chile ist der weltgrößte Kupferproduzent – für die Armee einzubehalten. Noch heute ist es in Chile der am besten bezahlte Beruf, bei der Armee zu sein. Das Pensionssystem wurde privatisiert und die Beiträge wurden in Fonds in den USA eingezahlt. Damals wurde den Leuten in den Werbungen versprochen, dass sie 2020 achtzig Prozent ihres letzten Gehalts erhalten würden. Wer aber heute das Glück hat, überhaupt eine Pension ausbezahlt zu bekommen, kriegt weniger als 50 Prozent seines Einkommens. Viele der Fonds sind im Zuge der verschiedenen Finanzkrisen Pleite gegangen, und so sind die Menschen verarmt, die Altersarmut ist gravierend. Auch das Gesundheitssystem ist größtenteils privatisiert worden. Es gibt zwar noch staatliche Krankenhäuser, doch dort muss man Monate auf eine Behandlung warten. Und so kommt es nicht selten zur Perversion, dass Patient*innen, die eine Krebsbehandlung benötigen, erst einen Termin bekommen, wenn sie bereits verstorben sind.
In den 17 Jahren, in denen Pinochet regiert hat, wurde zudem etwas Fatales gemacht: Das Recht auf die Nutzung des Wassers wurde privatisiert. Das bedeutet nichts anderes, als dass alle Gewässer – Flüsse und Seen – an private Investoren verkauft wurden. Chile erstreckt sich entlang der Anden und hat viele Flüsse. Die Privatisierung des Wassers hat jedoch dazu geführt, dass trotzdem heute in Chile Wassermangel herrscht. Wenn das Wasser beispielsweise zu Avocado-Plantagen umgeleitet wird, bleibt für die kleineren Landwirtschaften nichts mehr übrig. Die Kleinbauern und Kleinbäuerinnen verlieren ihre Lebensgrundlage, nur damit wir hier in Europa billige Avocados kaufen können. Das meiste Wasser wird jedoch im Bergbau und für die Stromerzeugung verbraucht. Überall werden Wasserkraftwerke gebaut. Wofür baut man so viele Kraftwerke, wo Chile doch genug Strom hat? Es geht um den Bergbau. Mit der Ausbeutung der Rohstoffe haben schon die Conquistadores, also die europäischen Eroberer, begonnen. Man plündert die Natur, bis nichts mehr zu holen ist, übrig bleibt nur eine zerstörte Umwelt. Große Gebiete werden der Industrie und dem Bergbau geopfert, und die Zerstörung der Umwelt wird einfach toleriert.
TT: Wie ist die politische Situation derzeit? Ist der Faschismus von damals überwunden?
Nibaldo: Vor zwei Jahren wurde zwar ein linker Präsident gewählt, der allerdings erst im zweiten Durchgang gewonnen hat. Im Parlament hat er keine Mehrheit, was sehr ungünstig ist. Bei den Protesten 2019 wurde gefordert, dass eine neue Verfassung geschrieben wird. 80 Prozent der Bevölkerung haben sich in einer Volksbefragung dafür ausgesprochen. Daraufhin wurde eine verfassungsgebende Versammlung aus der Mitte des Volkes gewählt. Diese hat einen sehr ausführlichen Entwurf gemacht, gegen den jedoch eine Diffamierungskampagne gestartet wurde. Die Medien, die alle in den Händen der Rechten sind, haben behauptet, dass die Leute ihr Haus mit anderen Menschen teilen müssten, weil in der Verfassung das Recht auf Wohnen für alle zugesichert wird. Viele Leute haben den Verleumdungen leider Glauben geschenkt und die Verfassung abgelehnt. Nun hat man Politiker*innen und ehemaligen Politikerinnen beauftragt, den Text für die neue Verfassung zu schreiben. Es wurden jedoch mehrheitlich Personen aus Rechten Parteien nominiert, da diese die Mehrheit im Parlament haben. Im Dezember 2023 soll dann abgestimmt werden, ob dieser neue Entwurf zur Geltung kommt oder ob man zur Verfassung von Pinochet zurückkehrt, in welcher die Ökonomie Vorrang vor den Rechten der Menschen hat. So ist die Situation in Chile heute. Es ist fürchterlich.
TT: Du beschäftigst sehr mit der Situation der indigenen Bevölkerung in Chile. Was sind deine Beweggründe?
Nibaldo: Dazu fällt mir gerade ein, dass mir vor einigen Jahren, als gerade in Chile das große Erdbeben war, ein Bekannter erzählt hat, dass das Verbandsmaterial in Österreich so teuer geworden ist. Damals habe ich mir nichts dabei gedacht. Mittlerweile weiß ich, dass die Preissteigerung damit zusammenhing, dass die Zellulosefabriken durch das Erdbeben zerstört worden sind. Chile ist nämlich eines der wichtigsten Erzeugerländer für Zellulose, die aus Eukalyptus hergestellt wird. Und das Land, auf dem man die Eukalyptusbäume angepflanzt hat, hat man den Indigenen weggenommen.
Chile ist flächenmäßig etwa zehn Mal größer als Österreich. Man kann das Land grob in drei Regionen aufteilen, das letzte Drittel ist das Land, in dem die Mapuche leben. Diese hatten vor der Ankunft der Europäer gegen die Inkas gekämpft, welche jedoch kein großes Interesse an Chile hatten. Auch gegen die spanischen Kolonisatoren leisteten die Mapuche erbitterten Widerstand. Schließlich schlossen sie 1641 mit den Spaniern einen Friedensvertrag – die Mapuche sind das einzige indigene Volk, das Spanien einen Friedensvertrag abringen konnte. Bei der Gründung der unabhängigen Republik Chile – um 1812 herum – wurde die Eigenständigkeit der Mapuche ausdrücklich anerkannt. Man hat gesagt, südlich des Flusses BÃo-BÃo ist das Land der Mapuche, dort gelten auch deren Gesetze. O'Higgins, der erste chilenische Staatschef, hat dies bekräftigt, indem er sagte: Sie sind unsere Brüder, sie haben mit uns gegen die Spanier gekämpft. Als Zeichen der Anerkennung waren im ersten chilenischen Wappen zwei Mapuche abgebildet.
Als jedoch immer mehr Europäer*innen, vor allem Deutsche, nach Chile eingewandert sind, ist man darauf gekommen, dass es südlich des BÃo-BÃo Flusses schöne Ländereien gibt. Es wurde behauptet, dass die Mapuche dieses Land gar nicht richtig nützen, oder dass sie Siedler überfallen. Und so ist die chilenische Armee 1861 ins Mapuche-Territorium eingedrungen. Sie war besser bewaffnet als damals die Spanier und besetzte einen Großteil des Gebietes. Danach wurde begonnen, das Land zu zerteilen. Das Gebiet, das den Mapuche zugestanden wurde, wurde auf fünf Prozent reduziert, den Rest haben sich deutsche Siedler und andere mächtige Familien angeeignet, um dort im Sinne des kapitalistischen Systems Latifundien anzulegen.
Die Mapuche haben ein anderes Weltbild. Sie betreiben Landwirtschaft, um sich selbst zu ernähren, und nicht, um damit Geld zu machen. Mapuche bedeutet wortwörtlich Menschen der Erde. Sie wollen sich die Erde nicht untertan machen, sondern sehen sich als deren Kinder. Mit dem Raub ihres Landes wurde ihnen jedoch die Lebensgrundlage entzogen. Wenn man den Indigenen das Land raubt, wovon sollen sie leben? Dieser Kampf um das Land setzt sich bis in die heutige Zeit fort. Die Mapuche haben nachweislich nie ihren Anspruch auf ihr Land aufgegeben Trotzdem baut das norwegische Unternehmen Statkraft ein Wasserkraftwerk an einem für sie heiligen Fluss und lässt auf diejenigen schießen, die sich dagegen wehren. Wofür braucht man den ganzen Strom? Um ein Bergwerk zu betreiben.
In Chile wurden die Mapuche immer diskriminiert. Man hat gesagt, sie seien faul und unkultiviert. Diese Vorurteile haben sich gehalten, und die Menschen haben versucht, möglichst europäisch zu sein. Unsere eigene Geschichte wurde uns nie vermittelt. Wir haben in der Schule höchsten von ein paar Helden, von ein paar Kriegern der Mapuche gehört. Ich komme aus einer Stadt, die Melipilla genannt wird – Meli steht für vier, und Pilla für Winde, Melipilla bedeutet also vier Himmelsrichtungen. Ich habe die Bedeutung zwar gekannt, aber mir war nie bewusst, dass es ein Mapuche-Name ist. Jetzt erst beginnen die Leute, sich mit ihrer Kultur zu identifizieren, mittlerweile bekennen sich eineinhalb Millionen Menschen, also gut zehn Prozent der chilenischen Bevölkerung, zu ihrer Mapuche-Abstammung.
TT: Welche Rolle spielt das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Chile?
Nibaldo: Für Chile ist dieses Abkommen alles andere als günstig. Die EU möchte auf Elektromobilität und erneuerbare Energien umrüsten und benötigt dafür große Mengen an Rohstoffen. Um diese nach Europa zu liefern, werden in Chile nicht nur immense Wassermengen und landwirtschaftliche Flächen verbraucht, auch die natürliche Umwelt und der Lebensraum alter Kulturen wird dauerhaft zerstört. Weil die chilenische Bevölkerung aber nicht von den Gewinnen aus diesem Handel profitiert, hat der Präsident überlegt, das Lithium zu verstaatlichen. Die Bergwerksgesellschaft, die das Lithium fördert, gehört nämlich dem Schwiegersohn von Augusto Pinochet, einem der reichsten Männer Chiles. Dieser hatte sich das Unternehmen im Zuge der Privatisierungen nach dem Putsch angeeignet.
TT: Könnte man das so zusammenfassen: Man will in Europa Elektroautos haben, um in Europa die Umwelt zu schonen, die Zerstörungen aber nach Chile auslagern?
Nibaldo: Ja, genauso ist es. Das ist ein typisch europäisches Phänomen, die große Lüge der Politiker*innen. Sie wollen sich nicht eingestehen, dass wir unsere Lebens- und Wirtschaftsweise ändern müssen. Sie opfern lieber die ganze Welt, nur damit sie weiter Gewinne machen und an der Macht bleiben können. Chile wird durch den Extraktivismus zusehends zerstört. Die österreichische Strabag zum Beispiel ist in ein Projekt eingestiegen, das den Maipo-Fluss kanalisieren will, um dort – mitten in einem Tourismusgebiet – ein Wasserkraftwerk zu errichten. Wofür? Natürlich für den Bergbau. Und als bekannt wurde, dass die Niederschlagsmengen in den Anden abnehmen, hat man heimlich eine Abmachung mit dem Trinkwasserversorger in Santiago getrof-fen, dass bei Wassermangel das Trinkwasser zu den Turbinen umgeleitet wird. Will man acht Millionen Einwohner*innen von Santiago das Trinkwasser wegnehmen, nur damit man weiterhin Strom produzieren kann? Der Deal wurde jedoch von einer Zeitung aufgedeckt und in die Öffentlichkeit gebracht. NGOs haben eine Klage erhoben, denn der Gouverneur von Santiago muss schließlich die Wasserversorgung der Menschen garantieren. Die österreichische Strabag hat außerdem in den chilenischen Anden Bohrungen unter Gletschern durchgeführt, mit unvorhersehbaren Folgen. Ich glaube kaum, dass sie so etwas in Österreich machen könnten, das würde sicher nicht durchgehen. Aber nach chilenischem Recht geht es, also machen sie es dort.
TT: Könnte man die Indigenen aufgrund ihrer Lebensweise und Philosophie als Schützer der Natur bezeichnen?
Nibaldo: In der indigenen Kosmovision hat alles in der Natur eine Bedeutung und wird deshalb geschützt. Ich war vor vier Jahren mit meinen Kindern in Chile. Ich habe miterlebt, wie ein Indigener einen Baum um Erlaubnis gebeten hat, bevor er auf ihn hinaufkletterte. Die Mapuche bitten auch einen Fluss oder Bach um Erlaubnis, bevor sie hineinsteigen. Das hat mich sehr berührt. Ein ultrarechter Politiker dagegen hat gesagt: Es ist sinnlos, wenn das Wasser ungenutzt ins Meer fließt. Doch die Indigenen wissen, wie viele Pflanzen und Tierarten sterben, wenn man die Flüsse kanalisiert, deshalb kämpfen sie dagegen. Leider aber werden sie für ihren Widerstand gegen den Landraub und die Zerstörung der Natur verfolgt. Dieser Kampf hat sich in den letzten Jahrzehnten intensiviert.
Eine Geschichte, die mich sehr traurig gemacht hat, ist das Schicksal der Umweltschützerin Macarena Valdés: Ein österreichisch-chilenisches Unternehmen wollte im Mapuche-Gebiet ein Wasserkraftwerk errichten, woraufhin sich in der Bevölkerung Widerstand gegen das Projekt formiert hat. Das Unternehmen wollte es aber unbedingt durchziehen, und so hat man versucht, die Protestierenden mit Drohungen einzuschüchtern.
Am 22. August 2016 wurde die indigene Umweltaktivistin Macarena Valdés tot aufgefunden. Man hat behauptet, es sei Selbstmord gewesen. Am Tag danach hat das Unternehmen die Hochleistungskabel direkt vor ihrem Haus verlegt, als ob nichts geschehen wäre, unter dem Schutz der Polizei natürlich. Inzwischen wurde von vier unabhängigen Gutachtern festgestellt, dass die Ermittlungen fahrlässig waren und die Frau ermordet wurde, woraufhin sich das Unternehmen aus dem Projekt zurückgezogen hat. In Österreich hat niemand etwas von diesem Mord erfahren. Um darauf aufmerksam zu machen, überlege ich, am 22. August, dem siebten Todestag Macarena Valdés, eine Kundgebung vor diesem Unternehmen zu organisieren. Auch ein Dokumentarfilm wurde über dieses Verbrechen gedreht, dieser wurde in Graz und Wien gezeigt, die Abgeordnete Ewa Ernst-Dziedzic hat ihn auch im Parlament vorgeführt.
veröffentlicht in Talktogether Nr. 85/2023
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