Ukraine-Krieg –
ein Krieg des entfesselten Kapitals?
Seit über einem Jahr tobt der Krieg in der Ukraine und es ist kein Ende in Sicht. Gigantische Ressourcen wurden mobilisiert, um die Armeen der NATO- und EU-Länder aufzurüsten. Doch nicht nur Armeen rüsten auf, sondern auch die Debatten darüber, wie auf diesen Krieg zu reagieren sei, polarisieren. Es stellen sich jedoch nicht nur Fragen über den geopolitischen Hintergrund dieses Konflikts, sondern auch, welche Rolle der Kapitalismus in diesem Krieg spielt.
Auf den ersten Blick erscheint es unwahrscheinlich, dass der Kapitalismus im Konflikt um die Ukraine eine Rolle spielt, da die Putin-Administration gegen die Verteidiger des liberalen Kapitalismus innerhalb Russlands vorgeht, und Putin selbst sowohl die Zeit der 1990er Jahre verteufelt, als der Kapitalismus eingeführt wurde, als auch den „Westen“, der dafür verantwortlich war. Der russische Philosoph Artemy Magun (1) geht jedoch davon aus, dass die Saat für das, was heute blüht, schon in den 1990er Jahren gesät worden ist. Der Kapitalismus sei ein System, so Magun, welches die Rolle des Eigentümers oder des Bosses betone und folglich zu politischer Tyrannei neige. Ein innerer Widerspruch im Kapitalismus sei außerdem, dass er auf der eine Seite den freien Handel ausweiten, auf der anderen Seite seine Märkte und Wirtschaftskräfte schützen will. Das könne zu Konflikten führen, die über den üblichen Wettbewerb hinausgehen und zu militärischen Konflikten heranwachsen.
Magun bezeichnet das Putin-Regime als monströse Form des Kapitalismus, die sich unter den ungünstigen Umständen des Postkommunismus entwickelt habe. In den 1980er und 1990er Jahren erlebten die Menschen in der UdSSR und in Russland zunächst eine euphorische demokratische Revolution, auf die jedoch eine Zeit tiefster Enttäuschung und Entpolitisierung folgte. Das Hauptanliegen der intellektuellen Elite und der US-Stiftungen damals war es, einen Wiederaufstieg der UdSSR zu verhindern. Die westlichen Berater, die die ehemalige UdSSR in den globalen Neoliberalismus integrieren wollten, haben somit „vergessen“, die Vorteile von Sozialismus und Humanismus aufzuzeigen. Stattdessen waren Moralisten damit beschäftigt, die „Menschenrechte“ zu predigen – ein individualistisches Minimum an Menschlichkeit. Wie die Zeit zeigte, lagen die wahren Risiken aber anderswo, nämlich in den antikommunistischen und konservativen Werten, die viele Liberale mit vielen im antiliberalen nationalistischen Lager teilen. So konnte sich der Faschismus als gemeinsamer Nenner durchsetzen.
Putins Führungsstil basiert auf informellen Freundschaftsnetzwerken und ist mit denen von Gangsterbanden vergleichbar. Die Bevölkerung wandte sich dem Konsum zu, oder, wer weniger Glück hatte, dem Kampf ums Überleben. Die neue ultra-reiche Klasse war ebenso sowie die urbane gebildete Mittelklasse bereit, sich den neuen vertikalen Machtverhältnissen – wenn auch widerstrebend – unterzuordnen. Russland hoffte, angesichts seiner Größe, seiner Ressourcen und seines Humankapitals im globalen Maßstab wettbewerbsfähig zu werden. Der globale Wettkampf erlaubt es neuen Ländern in der Regel jedoch nicht, ihre geoökonomischen Beschränkungen zu überwinden.
Die neoliberalen Wurzeln des Krieges
Der russische Politikwissenschaftler und Soziologe Greg Yudin schlägt vor, das Regime in Russland als radikale Variante des Neoliberalismus zu betrachten(2). Doch was genau kennzeichnet den Neoliberalismus? Seine Verfechter*innen meinen, es gebe keine Gesellschaft, sondern nur Individuen, die sich selbst um ihr Überleben kümmern müssen. Im Gegensatz zu früheren liberalen Führungsmustern misstraut der Neoliberalismus dem Markt als natürlichem Regulator und investiert in künstlich hergestellte marktähnliche Interaktionen zwischen den Individuen, denen er eine zweckorientierte und individualistische Denkweise aufzwingt. Ziel und Maßstab neoliberaler Regierung ist einzig und allein die ökonomische Effizienz gemessen am BIP-Wachstum. Erreicht wird diese durch die konsequente Priorisierung des Ökonomischen über das Politische sowie durch eine technokratisch-administrative Regierungsweise.
Die Ablehnung der Idee eines inklusiven gemeinschaftlichen Wohlergehens führt zum Reichtum einer kleinen Elite von Gewinnern, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung entzieht und den weniger Erfolgreichen selbst die Schuld an ihren Verlusten zuschiebt. Ein typisches Fallbeispiel ist das Regime von Augusto Pinochet in Chile, das auf einer autokratischen Herrschaft aufgebaut war, die jegliche politische Teilnahme unterdrückte, aber das Wirtschaftswachstum unter der Schirmherrschaft der „Chicago Boys“ förderte.
Die Idee, dass die Gesellschaft nichts andere ist als ein Krieg aller gegen alle, in dem nur die Stärksten überleben, ist in stark vereinzelten und von Misstrauen durchdrungenen Gesellschaften am erfolgreichsten. Diese Bedingungen trafen in Russland nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes perfekt zu. Inmitten der Verzweiflung wurde das Land von einer Gruppe von Neoliberalen übernommen, denen es gelang, Feindseligkeit und Misstrauen zu schüren. Putin nutzte die Enttäuschung der Massen, um die Entpolitisierung Russlands voranzubringen und jedes politische Engagement zu unterdrücken. Jegliches Streben für Ziele, die über egoistische Einzelinteressen hinausgehen, wurde lächerlich und die Mitgliedschaft in politischen Organisationen durch Repression kostspielig und übermäßig riskant gemacht. Aufgrund des Öl- und Gasreichtums konnten die Menschen den Wirtschaftsaufschwung genießen und sich an den neuen Möglichkeiten erfreuen, die ihnen die Konsumkultur bot.
Russland hat unter Putin die USA in Sachen wirtschaftlicher Ungleichheit eingeholt. Auch wenn das Bildungs- und Gesundheitssystem aus der Sowjetzeit übernommen wurden, handelt es sich hierbei nur um oberflächliche Ähnlichkeiten. Höhere Bildung ist zwar kostenlos, aber die Familien müssen viel Geld in Nachhilfe investieren, damit ihre Kinder den Test für die Universitätszulassung bestehen. Zudem hat die Verkleinerung von Krankenhäusern dazu geführt, dass die Behandlung schwerwiegender Krankheiten heute auf eine Handvoll medizinischer Zentren in Moskau und Sankt Petersburg beschränkt ist.
Putins beeindruckender Erfolg wurde von den ausländischen Eliten, denen er lukrative Deals und hohe Positionen in Unternehmen anbot, herzlich begrüßt. Er schloss Geschäfte mit großen Unternehmen auf der ganzen Welt ab und brachte Regierungen dazu, ihre nationalen Sicherheitsinteressen zu missachten und sich von russischer Energie abhängig zu machen. Zweifellos hat Putins Geld nicht nur zur zunehmenden Korruption in Europa, sondern auch zum Anstieg der Ungleichheit in den letzten zwei Jahrzehnten beigetragen. Gleichzeitig erzeugte das Weltbild des ungezügelten Wettbewerbs ein permanentes Unsicherheitsgefühl und Misstrauen gegen Außenstehende, da uns der Neoliberalismus lehrt, dass wirtschaftliche Gewinne immer mit Gewalt gemacht werden.
Vor diesem Hintergrund ist die Invasion der Ukraine keine Fehleinschätzung, denn hinter ihr stehen ökonomische Argumente. Die Ukraine verfügt über einen riesigen, wenn auch veralteten Industriekomplex und viel fruchtbares Land. Nach der Annexion der Krim 2014 konnten sich Putins Oligarchen Ländereien und die Tourismusbranche für geringe Entschädigungen aneignen. Deshalb ist Yudin überzeugt, dass dieser Krieg nicht so sehr eine Kollision zweier imperialer Mächte ist, sondern ein Krieg, der vom entfesselten Kapital geführt wird.
Krieg der Waffen – Krieg der Worte
Der andauernde Krieg hat in linken Kreisen eine wenig inspirierende Debatte hervorgebracht, welcher Imperialismus der schlimmere sei. Der Kampf der Ukraine um Unabhängigkeit und Selbstbestimmung sollte jedoch nicht unterstützt werden, weil der westliche Imperialismus besser als der russische ist, sondern weil antiimperialistischer Widerstand an sich unterstützenswert ist. Es ist aber auch nicht zu verleugnen, dass mit einer Eskalation und Ausweitung des Konflikts die Gefahr eines Atomkriegs in Europa näher rückt. Ebenso wenig ist auszuschließen, dass eine Niederlage Russlands die USA ermutigen könnte, einen Krieg mit China zu provozieren. Menschen, die Waffenlieferungen kritisieren und für Friedensverhandlungen plädieren, werden jedoch oft als naiv und unsolidarisch diffamiert oder ins rechte Eck gedrängt. Es wird ihnen auch vorgeworfen, sich auf geopolitisches Blockdenken zu konzentrieren und von den Ukrainer*innen die Unterwerfung zu verlangen. Aber wie sollen wir uns positionieren? Haben wir keine andere Wahl, als uns zwischen diesen beiden Alternativen zu entscheiden?
Yudin ist überzeugt, dass der aktuelle Konflikt auch politische Chancen eröffnet. In vielen Ländern hat er die Leichtsinnigkeit und Heuchelei der Superreichen aufgedeckt, die bereit waren, die nationale Sicherheit gegen lukrative Deals einzutauschen, wodurch ganze Länder erpressbar und verwundbar wurden. Dieser Verrat durch die Eliten legitimiert die Forderungen nach der Kontrolle des Volkes über den Reichtum und hat die Dringlichkeit der Schaffung internationaler Institutionen zur Aufsicht über das Eigentum der Superreichen deutlich gemacht. Die Heraus-forderung bestehe laut Yudin darin, zu verhindern, dass die Welt weiter in den Abgrund des ungezügelten Neoliberalismus abgleitet, der von extremer Ungleichheit, Ressentiments und Atomisierung durchsetzt ist, und in der nur der Wert des Geldes, die Macht des Kapitals und egoistisches Wirtschaftsverhalten zählen.
Vier Wege, auf die russische Aggression zu antworten, ohne einen Atomkrieg zu riskieren:
Es ist klar, dass Putins Aggression nicht unbeantwortet bleiben darf. Aber sind immer neue Waffenlieferungen wirklich der geeignete Weg, um Frieden zu schaffen? Eine Alternative bietet der Vorschlag von Branko Marcetic(3), welcher vier mögliche und realistische Wege aufzeigt, um auf die russische Aggression zu reagieren, ohne die Gewalt des Krieges weiter zu eskalieren:
Ø Die grüne Energiewende vorantreiben: Solange die Welt auf Öl, Gas und fossile Brennstoffe im Allgemeinen angewiesen ist, um die Wirtschaft und die moderne Gesellschaft am Laufen zu halten, hat jeder Autokrat, der auf einem riesigen Haufen Öl und Gas sitzt, einen enormen Einfluss auf andere Länder und die relative Freiheit, auf rücksichtslose Weise zu handeln.
Ø International gegen Steuerhinterziehung und Vermögenshortung vorgehen: Wirtschaftssanktionen haben die Tendenz, vor allem die einfachen Bürger*innen zu treffen. Eine internationalen Mindestkörperschaftssteuer dagegen würde nicht nur die finanzielle Macht von Tyrannen einschränken, mit den Einnahmen daraus könnten auch die dringend notwendigen Anstrengungen finanziert werden, um eine Klimakatastrophe zu verhindern. Ein Hindernis dabei ist allerdings, dass diese Abgaben nicht nur russische Oligarchen inklusive Putin selbst treffen, sondern Oligarchen und Eliten überall (auch in den USA, dem Land mit den meisten Milliardären) – den ukrainischen Präsidenten eingeschlossen, der in den „Pandora Papers“ als Nutzer von Off-shore-Firmenkonten auftaucht.
Ø Die humanitäre Hilfe aufstocken: Die US-Militärhilfe beträgt mehr als das Doppelte der humanitären Hilfe. Die große Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung kämpft aber nicht auf dem Kriegsfeld, sondern leidet unter Nahrungsmittelknappheit, dem Verschwinden von Gesundheitseinrichtungen und Wohnraum. Deshalb sollte die humanitäre Hilfe zumindest auf die Höhe der Militärhilfe angehoben werden.
Ø Das eigene Haus reinigen: Das Vereinigte Königreich, Frankreich und die Vereinigten Staaten verkaufen Waffen u.a. an die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien, die seit acht Jahren einen an Völkermord grenzenden Krieg gegen den Jemen führen. Könnten die westlichen Führungen dazu gedrängt werden, ihre eigenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu beenden, würde dies nicht nur Millionen von Menschen helfen, sondern gleichzeitig auch die moralische Autorität des Westens bei der Verurteilung von Putin und anderen Kriegstreibern stärken.
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(1) Artemy Magun: Capitalism and the Post-Socialist Road to Hell. In: Emancipations, Dez. 2022.
(2) Grigory Yudin: The Neoliberal Roots of Putin’s War. In: Emancipations, Dez. 2022.
https://scholarsjunction.msstate.edu/emancipations/
(3) Branko Marcetic: Four Ways to Counter Russian Aggression that Don’t Risk Atomic War: 28.02.2022, www.jacobin.com
veröffentlicht in Talktogether Nr. 84/2023
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