BRÃœCHIGES SCHWEIGEN
Anna Burger wurde ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert, weil sie ein paar Decken gestohlen hatte. Dort musste sie den schwarzen Winkel tragen, den die Nazis für Gefangene vorgesehen haben, die sie als „asozial“ kategorisierten. Im Dezember 1943 wurde Anna im Alter von 30 Jahren durch eine Giftspritze ermordet. Für das Buch Brüchiges Schweigen hat die Soziologin und Politikwissenschaftlerin Brigitte Halbmayr in Zusammenarbeit mit Annas Enkelin Siegrid Fahrecker zahlreiche Akten durchforstet und Erinnerungsfragmente zusammengesetzt, um mehr über das Leben und den frühen Tod der unglücklichen Frau zu erfahren. Die Biografie zeigt auf, wie unerbittlich die nationalsozialistische Verfolgungsmaschinerie mit Menschen umging, deren Leben als wertlos eingestuft wurde. Die Autorin setzt sich in diesem Buch außerdem mit der Frage auseinander, wie die Nachkommen mit so einem Schicksal umgehen, und welche Traumatisierungen an die nachfolgenden Generationen weitervererbt werden.
„Mama, warum habe ich keine Oma?“ Diese Frage beschäftigte Siegrid Fahrecker seit ihrer Kindheit, doch sie bekam immer nur vage Antworten. Sie gab nicht auf nachzufragen, und schließlich erfuhr sie im Alter von dreizehn Jahren, dass ihre Großmutter ins KZ Ravensbrück gebracht worden von dort nicht mehr zurückgekommen war. Sie spürte, wie weh die Frage ihrer Mutter tat, trotzdem ließ sie der Drang nicht los, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Langsam und durch behutsames Fragen tauchte sie tiefer in die schmerzvolle Familiengeschichte ein. Auch Siegrids Mutter und deren Schwester Poldi beschäftigen sich mit dem Schicksal ihrer Mutter. Als 1998 die Widerstandskämpferin und KZ-Überlebende Irma Trksak in der Fernsehsendung „Willkommen Österreich“ über das Frauenkonzentrationslager sprach, schrieb Poldi an den ORF, um mit Frau Trksak in Kontakt zu treten. So kamen die Frauen in Kontakt mit der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück. Das Interesse am Schicksal ihrer Großmutter und die Offenheit der überlebenden Frauen ermutigten Siegrid Fahrecker, den Kontakt zur Lagergemeinschaft zu pflegen. Dort sie Brigitte Halbmayr kennen, die sie auf ihrer Spurensuche begleitete. Heute ist Siegrid Vizepräsidentin des Internationalen Ravensbrück Komitees.
Eine Kindheit in Armut
Anna kam am 4. Juni 1913 in Klosterneuburg, Niederösterreich, zur Welt. Die Familie lebte in bitterer Armut, mit Beginn des Ersten Weltkrieg wurde die Not noch größer. Annas Schulzeit war ebenso wie die ihrer fünf Geschwister geprägt von häufigen Abwesenheiten und schlechten Schulnoten. Wahrscheinlich waren die Kinder aufgrund mangelhafter Ernährung und schlechter Wohnverhältnisse häufig krank, vielleicht mussten sie auch zu Hause Arbeiten verrichten. Der Armut konnte Anna ihr Leben lang nicht entrinnen. Mit neunzehn Jahren bekam sie ihr erstes Kind und zwei Jahre später das zweite. Vom Vater der Kinder verlassen heiratete sie 1935 Karl Burger, mit dem sie drei weitere Kinder bekam. Das Ehepaar wechselte ständig den Wohnsitz, wahrscheinlich weil es die Miete nicht bezahlen konnte, eine Zeitlang lebte es sogar in einem Wohnwagen. Anna Burger versuchte, als Hilfsarbeiterin für sich und die Kinder ein Auskommen zu finden, und wenn das Geld nicht reichte, auch durch kleine Diebstähle.
Die Tochter Stefanie erinnerte sich: „Wir waren die Ärmsten unter den Armen. Wir haben nichts zu essen gehabt, ein Bett haben wir gehabt, zu dritt sind wir drinnen gelegen, wir haben nichts zum Zudecken gehabt als einen Mantel (…), alle Tage bin ich um meine Klostersuppe gegangen, wie man so schön sagt. Ich war nicht die einzige; es sind mehrere gegangen, aber ich war halt auch alle Tage dabei. Mit meinen vier, fünf Jahren habe ich schon angeklopft und mein Reindel hingehalten.“ Die prekären Lebensverhältnisse führten zu häufigem Streit. 1939 reichte Anna die Scheidungsklage ein, da ihr Mann keinen Unterhalt zahlte und mit einer anderen Frau zusammenlebte. Die Kinder wurden schließlich von der Fürsorge in verschiedenen Heimen und bei Pflegeeltern untergebracht.
Der Weg in den Abgrund
Im Jänner 1940 wurde Anna Burger wegen Diebstahls von ein paar Milchflaschen und Decken zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt. Nach einem Jahr Haft in Wien, München-Stadelheim und Traunstein wurde sie jedoch nicht in die Freiheit entlassen, sondern ins KZ Ravensbrück überstellt, wo sie als Zwangsarbeiterin in der Zuschneiderei eingesetzt wurde. Dort wurde hauptsächlich Bekleidung für die Frontsoldaten hergestellt, und die Frauen mussten im Akkord arbeiten, wobei ihnen die Angst vor den brutalen Aufsehern und Aufseherinnen ständig im Nacken saß. Über ihre zweieinhalb Jahre im KZ Ravensbrück gibt es wenig gesichertes Wissen. Da den sogenannten „Asozialen“ kein Netzwerk zur Verfügung stand wie den politischen Gefangenen, waren sie weitgehend auf sich allein gestellt. Sie standen in der Häftlingshierarchie auf der untersten Stufe und mussten die körperlich schwersten Arbeiten ausführen, was sich in einer überdurchschnittlich hohen Todesrate widerspiegelte. Hinzu kommt, dass andere Häftlingsgruppen oft auf sie herabsahen.
Aus Briefen an ihre Eltern ist bekannt, dass Anna von den „hohen Herren“ immer wieder für Sexdienste geholt wurde. Dies bestätigte auch eine ehemalige Mitgefangene, die österreichische Widerstandskämpferin Antonia Bruha (1915–2006), die ebenfalls in der Zuschneiderei gearbeitet hatte und Anna Burger auf dem Foto wiedererkannte. Sie erzählte, dass hübsche Frauen wie Anna immer wieder von der SS zu deren Festen geholt worden seien. Sie bezeugte auch, dass Anna keines natürlichen Todes starb, sondern am 2. Dezember 1943 durch eine Giftinjektion getötet wurde. Hat man sie getötet, weil sie schwanger wurde, wie das Foto vermuten lässt? Doch Toni Bruha wusste nichts von einer Schwangerschaft, der Grund für ihre Ermordung sei eine Geschlechtskrankheit gewesen. Als sie krank wurde, habe man sie einfach weggeworfen, erzählte sie. Ob Anna nun schwanger oder krank war, ändert nichts an der Tatsache, dass sie mit Zwang aus der Gesellschaft ausgeschlossen, weggesperrt und mit Gewalt aus dem Leben gerissen hat. Dass man damit fünf Kindern die Mutter raubte, wurde billigend in Kauf genommen.
„MEINE GROSSMUTTER WAR EINE SEHR TAPFERE, MUTIGE FRAU.“
Meine Großmutter, Anna Burger, hatte fünf Kinder, sie lebten unter ärmlichsten Bedingungen. Oft war sie gezwungen, durch Stehlen und Betteln zum Lebensunterhalt beizutragen, doch auch das Wenige reichte kaum aus. Sie stahl in einer Verdunkelungsnacht Decken für ihre Kinder. Gesehen und verraten wurde sie 1940, mit dem Vermerk „Keine Rückkehr erwünscht“ verhaftet und zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt. Nach ihrer verbüßten Haftstrafe wurde sie in das KZ Ravensbrück deportiert.
Meine Großmutter war vom 6. Mai 1941 bis 2. Dezember 1943 in Ravensbrück inhaftiert, wo sie mit nur 30 Jahren durch eine Giftinjektion ums Leben kam. Erinnerungen an meine Großmutter habe ich nur durch Bilder und Erzählungen meiner Mutter und durch jahrelange Recherchen.
Das KZ Ravensbrück bedeutete für meine Großmutter nur Qualen jeglicher Art. Mit dem Wissen, dass fünf Kinder auf sich allein gestellt zurückblieben, musste sie dort ihr Leben lassen. Für meine Mutter war das KZ Ravensbrück der Ort, der ihr ihre Mutter und die damit verbundene Kindheit raubte. Meine Mutter sagte im Jahr 2016: „Wenn ich an dem Ort bin, wo meine Mutter gewesen ist, fühle ich, wie ich auf ihren Spuren gehe.“
Für mich bedeutet das KZ Ravensbrück Verschiedenes: An diesem Ort ist Trauer, Schmerz aber auch Freude gleichzeitig zu spüren. Es ist der Ort, der mir meine Großmutter genommen hat. Sie fehlte mir gerade als Kind und Jugendliche, obwohl ich sie nie kennenlernen konnte. Jedoch wurden mir in Ravensbrück auch liebevolle Freundschaften geschenkt. Wenn ich den Boden des KZ Ravensbrück betrete, stelle ich mir vor, ich bin bei meiner Großmutter auf Besuch.
Siegrid Fahrecker / faces-of-europe.ravensbrueck.de
Als „asozial“ abgestempelt
Es gab zahlreiche und sehr unterschiedliche Gründe, warum Menschen in Konzentrationslager deportiert wurden. Die einen waren im politischen Widerstand aktiv, andere wiederum wurden aus rassistischen Gründen verfolgt. Die KZ-Haft wurde aber auch über Individuen oder soziale Gruppen verhängt, die von den Nazis als „asozial“ gebrandmarkt wurden. Dabei handelte es sich zumeist um Angehörige der ärmsten Bevölkerungsschichten, die von den Nazis als überflüssige Esser angesehen wurden. „Es waren die, die ausgegrenzt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden,“ so die Autorin Halbmayr.
Gemäß dem Grunderlass zur „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ von 1937 konnten als „asozial“ eingestufte Personen in ein Konzentrationslager eingewiesen werden, die Entscheidung darüber oblag den Ordnungs- und Polizeibehörden. 1938, nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten, kam dieser Erlass auch in Österreich zur Geltung. Die Richtlinien von 1940 besagten, dass Personen als asozial eingestuft werden konnten, wenn sie mit dem Strafgesetz in Konflikt kamen, den Unterhalt für sich und ihre Kinder nicht aufbringen konnten, keinen guten Haushalt führten oder durch Alkoholkonsum oder unsittlichen Lebenswandel auffielen. Damit war der Verfolgung missliebiger Personen Tür und Tor geöffnet: Bettler*innen, Hausierer*innen, Arbeitslose, Obdachlose, Alkoholkranke, Sexarbeiter*innen, Vorbestrafte, von Sozialleistungen abhängige kinderreiche Familien, sie alle passten nicht ins nationalsozialistischen Bild der „arischen Herrenrasse“.
Während das Gesetz am Anfang der NS-Herrschaft vor allem auf Männer angewendet wurde, ereilte nach Kriegsbeginn, als die Männer an die Front geschickt wurden, immer mehr Frauen dieses Schicksal. Bei ihnen erfolgte die Stigmatisierung oft im Hinblick auf ihr Sexualverhalten. „Bei Frauen finden sich in den Akten Zuschreibungen wie ‚liederlicher Lebenswandel‘, ‚häufig wechselnder Geschlechtsverkehr‘ oder ‚trieb sich mit mehreren Männern herum‘“, so Halbmayr. Auch was die Haushaltsführung anging, wurden unterschiedliche Maßstäbe angesetzt: „Anna Burger wurde vorgeworfen, dass die Kinder verwahrlost waren, aber vom Mann war nie die Rede.“
Ein weiterer Grund, um als „asozial“ abgestempelt und ins KZ geschickt zu werden, war unterstellte fehlende Arbeitsmoral. Mit fortschreitendem Kriegsverlauf kam der Arbeitsleistung der Frauen in der Kriegsindustrie immer mehr Bedeutung zu, so dass schon das Fernbleiben vom Arbeitsplatz oder zu langsames Arbeiten Gründe für eine Deportation wurden. Die Zuschreibung „asozial“ sage mehr über die Gesellschaft aus als über die, die so bezeichnet werden, sagt Halbmayr: „Diese Geisteshaltung gab es schon davor, sie wurde im Nationalsozialismus nur verschärft und wirkt bis in die Jetztzeit nach. Das heutige Leistungsprinzip, wonach man seine Existenzberechtigung durch Leistung erst beweisen müsse, knüpft an diese Geisteshaltung an.“
Auch nach 1945 bestand der Begriff „Asoziale“ sowohl im Sprachgebrauch als auch in den Köpfen der Menschen fort. Für Überlebende und Angehörige ist diese Stigmatisierung bis heute mit Scham behaftet, so dass man in vielen Familien nicht gerne darüber spricht. Im Gegensatz zu den aus politischen, religiösen und rassistischen Gründen Verfolgten wurden sie nach dem Krieg nicht als Opfer anerkannt und erhielten keine Entschädigung, weil die Behörden der Ansicht waren, dass diese Menschen ihre Haft selbst verschuldet hätten. Waren sie auch selbst für die elenden Lebensbedingungen und die bittere Not verantwortlich, die sie zu diesen Taten – oft geringfügige Eigentumsdelikte – gezwungen haben? Waren sie schuld daran, dass man ihnen nie eine Chance gegeben hat? „Was auch immer diese Menschen getan haben,“ betont Halbmayr, „die Haft in einem Konzentrationslager hat kein Mensch verdient.“
Brigitte Halbmayr: Brüchiges Schweigen. Tod in Ravensbrück – auf den Spuren von Anna Burger. In Zusammenarbeit mit Siegrid Fahrecker, Mandelbaum Verlag, Wien-Berlin 2023
veröffentlich in Talktogether Nr. 87 / 2024
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