Die Stationen meines Lebens in Österreich
Gespräch mit Mustafa aus Somalia
TT: Du bist als sogenannter „Unbegleiteter Minderjähriger“ nach Österreich gekommen. Wie war es für dich als junger Mensch, diese Reise ins Ungewisse allein anzutreten?
Mustafa: Ich hatte keine Wahl, ich musste flüchten. Ich bin in Somalia von den Al Shabaab Milizen verfolgt worden, deshalb musste ich das Risiko eingehen. Es war keine einfache Entscheidung, aber das Risiko wäre für mich größer gewesen, wenn ich in Somalia geblieben wäre.
TT: Wie war es für dich, als du in Österreich gekommen bist?
Mustafa: Für mich war alle neu und ungewohnt: Eine unbekannte Sprache, ein ganz anderes Klima, ich wusste nicht, was mich hier erwartet. Auf der Polizeistation wurde mir dann gesagt, dass ich um Asyl ansuchen kann und hier in diesem Land sicher bin. Ich habe ein Bett und etwas zu essen bekommen, aber das Wichtigste für mich war, in Sicherheit zu sein.
TT: Weil du noch minderjährig warst, bist du ins SOS-Clearinghouse gekommen. Wie wichtig war diese Zeit für dich?
Mustafa: Es war ein großes Glück für mich, in ein Heim zu kommen, in dem ich Betreuung hatte und ohne Verzögerung die Sprache lernen konnte. Schon am zweiten Tag hat der Deutschkurs begonnen. Das Clearinghouse war ein tolles Projekt, das den dort lebenden Jugendlichen ein gutes Programm geboten hat. Wir hatten den ganzen Tag etwas zu tun. Am Vormittag haben wir Deutsch gelernt, dann haben wir zu Mittag gegessen, am Nachmittag haben wir Fußball gespielt und am Abend waren wir müde. Ich war nicht allein, es war immer jemand da, an den ich mich wenden konnte, wenn ich Fragen oder Probleme hatte.
TT: Wie lange musstest du auf den positiven Asylbescheid warten?
Mustafa: Ich habe ungefähr zweieinhalb Jahre warten müssen. Das war eine Zeit der Ungewissheit, die sehr belastend war. Ich habe die Möglichkeit bekommen, beim Bundesasylamt meine Probleme zu schildern, doch ich habe einen negativen Bescheid erhalten. Das war ein großer Schock, wie ein Schlag ins Gesicht, das Gefühl kann ich gar nicht beschreiben. Einige Tage lang ist es mir sehr schlecht gegangen, denn ich wusste nicht, was mich jetzt erwartet. Ich habe mir viele Gedanken gemacht und mich gefragt, ob sie mich nach Somalia zurückschicken werden. Diesen Gedanken konnte ich nicht aus meinen Kopf bekommen. Da hat es mir sehr geholfen, dass ich mit unseren Betreuern und Betreuerinnen reden konnte, dass jemand da war, der mir zugehört hat. Es waren zweieinhalb Jahre voller Ungewissheit, aber ich habe nicht aufgegeben, ich habe meine Sprachkenntnisse verbessert, viel Sport gemacht und versucht, österreichische Menschen kennenzulernen. Rückblickend muss ich sagen, dass ich diese Zeit gut genutzt habe. Andere Flüchtlinge, die bereits älter waren, hatten diese Möglichkeit nicht, denen ist es viel schlechter gegangen als uns. Im Clearinghouse waren immer beschäftigt, was uns vom Nachdenken über unsere Probleme abgelenkt hat. Aber wenn ich am Abend in meinem Zimmern war, sind die beunruhigenden Gedanken wieder gekommen.
TT: Du hast dann den Pflichtschulabschluss absolviert. Kann man sagen, dass du dich bemüht hast und die passende Unterstützung bekommen hast?
Mustafa: Ja, ich habe glücklicherweise sehr wertvolle Kontakte zu Menschen bekommen, die mir beim Lernen geholfen haben. Später habe ich in einem Studentenheim gewohnt, wo ich auch Freunde gefunden habe, die mich bei den Hausaufgaben unterstützt haben. Das hat mir vieles leichter gemacht.
TT: Wann du zuerst den Asylbescheid bekommen oder den Pflichtschulabschluss?
Mustafa: Zuerst habe ich ein Jahr lang bei Minerva einen Vorbereitungskurs gemacht, dann habe ich mit dem Kurs für den Pflichtschulabschluss begonnen. Als ich 18 Jahre alt geworden bin, musste ich aus dem Clearinghouse ausziehen und im Flüchtlingsheim der Caritas wohnen. Das war ein großer Unterschied. Im Clearinghouse haben wir immer gemeinsam gekocht, hier wurde das Essen geliefert und wir mussten es essen, ob es uns geschmeckt hat oder nicht. Wir hatten auch keine Möglichkeit, uns etwas anderes zu kaufen, mit 40 Euro Taschengeld im Monat. Den Asylbescheid habe ich mitten in dem Jahr bekommen, in dem ich für den Pflichtschulabschluss gelernt habe.
TT: Wie hast du dich gefühlt, als du den positiven Asylbescheid in den Händen gehalten hast?
Mustafa: Das war unbeschreiblich. Es war für mich der schönste Moment, den ich bis jetzt in Österreich erlebt habe. Dieser Bescheid hat mir alle Wege geöffnet, die mir zuvor verschlossen waren. Ich konnte arbeiten, eine Ausbildung machen, ich hatte eine Perspektive. Es war für mich eine Befreiung von der Angst und Ungewissheit. Der Bescheid war der Schlüssel, das Zeugnis, dass ein paar Monate später bekommen habe, die Bestätigung. In der Arbeit sagen die Leute manchmal zu mir: Du bist gut integriert. Ich muss aber sagen, ohne die gute Betreuung und Unterstützung, die ich bekommen habe, hätte ich das alles nicht geschafft. Damals wurden auch Lernunterstützung und Nachhilfekurse angeboten. Jugendliche, die heute nach Österreich kommen, haben es jedoch schwieriger als wir damals. Viele der Angebote, von denen wir damals profitiert haben, gibt es nicht mehr, weil die staatliche Förderung dafür gestrichen worden ist.
TT: Du hast aber auch selbst den Willen gehabt, weiterzukommen, und hast aktiv Unterstützung gesucht, nicht wahr?
Mustafa: Natürlich, das wollte ich selbst, aber man darf Menschen, die Hilfe benötigt hätten, sie aber nicht bekommen haben, nicht die Schuld geben. Die Leute sagen zu mir: „Du bist super, aber mein Nachbar spricht kein Wort Deutsch.“ Sie wissen aber nicht, ob die diese Person die gleichen Möglichkeiten bekommen hat wie ich. Es ist falsch, über Menschen zu urteilen, ohne die Hintergründe zu kennen. Es gibt Menschen, die keinen positiven Bescheid bekommen haben und seit Jahren ohne hier leben müssen, ohne eine Perspektive auf eine Verbesserung ihrer Situation zu haben.
TT: Wie wichtig sind Orientierung und Hilfe für einen Flüchtling?
Mustafa: Es ist sehr wichtig, Informationen zu bekommen. Ich habe Kurse vom AMS besucht, in denen ich über die verschiedenen Berufe und Ausbildungsmöglichkeiten erfahren habe.
TT: Was denkst du, wenn in den Medien darüber berichtet wird, dass Flüchtlinge kriminelle Taten begangen haben?
Mustafa: Dafür kann es ganz unterschiedliche Gründe geben. Einer davon sind finanzielle Probleme. Wenn jemand keinen Bescheid bekommt und nicht arbeiten darf, was sollte er den ganzen Tag tun? Da ist es nicht verwunderlich, dass manche auf die Idee kommen, ihre Wünsche auf anderen Wegen zu erfüllen. Man kennt doch das Problem, dass Menschen, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben, in eine Krise stürzen, wenn sie in Pension gehen und keine geregelte Tagesstruktur mehr haben. Genauso ist es eine enorme psychische Belastung, wenn jemand den ganzen Tag keine sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeit hat. Ohne Möglichkeiten und die passende Unterstützung ist es sehr schwierig, in einem fremden Land Fuß zu fassen.
TT: Die letzte große Hürde für dich war die Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft. Warum war sie für dich so wichtig?
Mustafa: Wenn ich in diesem Land lebe und arbeite, möchte ich auch mitzubestimmen können. Ich möchte zur Wahl gehen und selbst erleben, wie sich Demokratie anfühlt. Wenn du brav arbeiten und Steuern zahlen darfst, bei Wahlen aber zu Hause bleiben musst und nicht mitbestimmen kannst, was mit deinem Geld passiert, fühlst du dich ausgeschlossen und benachteiligt. Die Staatsbürgerschaft bedeutet für mich, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Aber auch ein Gefühl von Freiheit: Wenn ich zum Beispiel von der Firma ein Ticket für das Finale der Champions League in London bekomme und mitfliegen möchte, muss ich mir keine Gedanken machen, denn ich habe einen österreichischen Pass und benötige kein Visum.
TT: Wie lange hast du auf die Staatsbürgerschaft warten müssen?
Mustafa: Obwohl ich alle Voraussetzungen erfüllt habe, musste ich fast vier Jahre darauf warten. Als ich mir dann endlich meinen österreichischen Passt abholen durfte, wurde er mir am Passamt von einem langjährigen Freund ausgehändigt. Und an meinem Geburtstag bin ich das erste Mal zur Wahl gegangen.
TT: Was würdest du den Politikern sagen, die immer höhere Hürden für die Staatsbürgerschaft aufbauen wollen?
Mustafa: Wenn jemand seine Heimat verlassen muss und hier mühevoll die Sprache lernt und sich ein Leben aufbaut, ist es nicht fair, diesem Menschen den Zugang zur gleichberechtigten Teilhabe zu erschweren und ihm immer mehr Steine in den Weg zu legen. Die Politiker, die solche Vorschläge machen, sollten sich einmal fragen, wie das Leben hier in Österreich funktionieren würde ohne die vielen Menschen, die aus anderen Ländern hierhergekommen sind.
TT: Was würdest du Menschen raten, die hier neu sind und den Weg noch vor sich haben?
Mustafa: Um hier Fuß zu fassen, ist es wichtig, einen Plan zu haben, die Sprache zu lernen, mutig und offen zu sein, Freunde zu suchen, und vor allem, nie aufzugeben. Ich wollte unbedingt eine Lehre in einem Sportartikelgeschäft machen, doch meine Betreuerin am AMS hat mir davon abgeraten und gemeint, ich hätte keine Chance und sollte es lieber im Lebensmittelhandel versuchen. Doch ich habe mich nicht davon nicht entmutigen lassen und war entschlossen, es trotzdem zu probieren. Auf meine erste Bewerbung erhielt ich keine Antwort, beim zweiten Mal bin ich hingegangen und habe meine Bewerbung persönlich beim Chef der Firma abgegeben. Dieser hat gesehen, dass es mir wirklich ernst ist, und gleich ein Vorstellungsgespräch mit mir gemacht. Noch heute bin ich mit ihm befreundet. Man sollte man nicht immer darauf hören, was andere Leute dir sagen. Manchmal bekommst du gute Tipps, aber es ist wichtig, dass du selbst weißt, was du willst, und dich nicht von deinen Plänen abbringen lässt. Die richtige Orientierung und Unterstützung zu bekommen, hat mir das Ankommen in Österreich wesentlich erleichtert. Was mir in schwierigen Zeiten auch sehr geholfen hat, war, Sport zu treiben. Wenn man auf Asyl wartet, besteht die Gefahr, dass man sich ständig viele Gedanken macht und dadurch depressiv wird, aber wenn man Sport macht, ist man am Abend müde und kann besser einschlafen.
TT: Der Pflichtschulabschluss und die Berufsschule sind große Herausforderungen für Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Hast du Momente gehabt, in denen du daran gezweifelt hast, dass du es schaffen wirst?
Mustafa: Natürlich ist es eine große Herausforderungen, aber für mich war Aufgeben nie eine Option. Wenn du nicht hier geboren und aufgewachsen bist, musst du dich mehr anstrengen als die anderen. Wofür die anderen eine halbe Stunde brauchen, brauchst du drei Stunden, aber das musst du in Kauf nehmen.
TT: Du hast nun einen guten Beruf, eine Familie und einen österreichischen Pass. Können wir sagen, dass du angekommen bist?
Mustafa: Ja, ich bin jetzt hier angekommen und habe jetzt keinen Druck mehr. Das heißt aber nicht, dass ich keine Ziele mehr habe und nicht noch mehr erreichen möchte. Mein Ziel ist, die Sprache noch besser zu lernen, die Matura zu machen und mich beruflich weiterzuentwickeln, aber alles Schritt für Schritt. Das Wichtigste für mich aber ist, dass meine Tochter hier gute Chancen bekommt. Weil sie es aufgrund ihrer Hautfarbe nicht so leicht haben wird, ist es wichtig, dass sie zu einem selbstbewussten Menschen heranwächst. Dabei möchte ich sie unterstützen, damit sie noch mehr erreichen kann als ich.
TT: Danke für das Gespräch!
Veröffentlicht in Talktogether Nr. 88 / 2024
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