ZEIT – ARBEIT – LEBEN
Egal wie gut wir uns organisieren, die ist Zeit immer zu knapp. Auf unseren Bildungswegen, im Beruf und sogar im Privaten werden wir ständig dazu aufgefordert, Leistung zu erbringen. Die Folgen sind Stress und das Gefühl, ständig gehetzt zu sein. Wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in der Wohlstand nicht durch Geld und Besitz, sondern durch die Zeit definiert wird, die wir für und andere haben, untersucht Stefan Boes in seinem Buch „Zeitwohlstand für alle“. Bei dieser Forderung geht es aber nicht nur um das individuelle Wohlbefinden, sondern auch um soziale und wirtschaftliche Veränderungen.
„Zeit ist die Strecke, die vom Licht durchmessen wird, dividiert durch dessen Geschwindigkeit.“
In der Physik ist die Zeit eine der grundlegenden Größen. Aber auch in unserem Denken und Empfinden spielt Zeit eine fundamentale Rolle. Aber was ist Zeit? Ist sie ein Geheimnis, wesenlos und allmächtig, wie Thomas Mann in „Der Zauberberg“ schrieb? Sie läuft unaufhaltsam in eine Richtung, von der Vergangenheit, die bekannt ist, in die Zukunft, die offen ist.
Genauso, wie die natürlichen Ressourcen unseres Planeten endlich sind, ist auch unsere Zeit begrenzt. Deshalb werden wir dazu aufgerufen, unsere Zeit sparsam und sinnstiftend zu nutzen. Doch Zeit können wir weder sammeln noch sparen, sie fließt dahin, egal, wie wir sie nutzen. Nicht nur in der Arbeit, sogar in unserer Freizeit denken wir in Kategorien wie Nutzen, Produktivität und Effizienz. Dieses Verständnis von Zeit ist jedoch ein kapitalistisches. Selbst das Ausruhen hat im Kapitalismus einen Zweck, nämlich die Arbeitskraft wieder herzustellen. Auch auf dieses Bedürfnis reagiert der Markt mit Angeboten wie Mediations- und Yogakurse oder Klosteraufenthalte. Doch laut einer Studie der TU Berlin wünschen sich die Menschen mehr ziel- und absichtslose Zeit – Zeit, die für nichts verwendet werden muss.
Wie nutzen wir unsere Zeit?
Eine Vorstellung von Zeit hatten die Menschen schon immer. Um erfolgreich Nahrung zu gewinnen, mussten sie sich nach dem Lauf der Sonne richten und den Zyklus der Jahreszeiten beachten. Durch die Industrialisierung wurde der Mensch unabhängiger von der Natur, aber nicht von der Zeit. Diese wurde immer wichtiger, weil Produktion und Warenverkehr organisiert werden mussten. Und so diktiert die Zeit heute den Takt der Wirtschaft und dominiert fast jeden Winkel unseres Lebens.
Wie viel Zeit bringen Menschen für die Erwerbsarbeit auf? Wie viel Zeit bleibt ihnen für Sorgearbeit, gesellschaftliches Engagement und Muße? Jäger- und Sammler*innen in der Kalahari arbeiten nur 15-17 Stunden pro Woche. Zwei bis drei Stunden pro Tag reichen aus, um Nahrung herbeizuschaffen und Werkzeuge, Kleidung sowie eine Unterkunft herzustellen. Somit bleibt den Menschen viel Zeit für andere Beschäftigungen, die wir heutzutage Freizeit nennen.
Mit dem Übergang zur Landwirtschaft steigerte sich der Ertrag und die Ernährung wurde sicherer. Die immer komplexere Arbeitsteilung führte dazu, dass ein Mensch mehr produzieren konnte, als er für sein eigenes Überleben benötigte. Doch das Leben wurde für die Menschen dadurch nicht leichter, im Gegenteil: Einige Gesellschaftsmitglieder versuchten, die Last der Arbeit insgesamt oder besonders mühsame und lästige Arbeiten von sich fernzuhalten und auf andere abzuwälzen. Die Herausbildung einer Gesellschaftsschicht, die vom Rest der Gemeinschaft erhalten wird, bildete sich heraus. Diese Entwicklung markierte einen Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte und führte in den meisten Kulturen zur Herausbildung einer Klassengesellschaft.
Die Arbeitszeit in der Menschheitsgeschichte
Lange Zeit war die Arbeitszeit an den Wechsel von Tag und Nacht gebunden. Im Alten Ägypten kam bereits im 15. Jahrhundert v. C. die Sonnenuhr zum Einsatz. Die Woche bestand aus zehn Tagen, wobei an acht Tagen gearbeitet wurde, bevor man sich zwei Tage ausruhen durfte. Funde aus Deir el-Medina, wo die Handwerker lebten, die an den Gräbern im Tal der Könige arbeiteten, legen nahe, dass die tägliche Arbeitszeit acht Stunden mit einer einstündigen Mittagspause betrug.
Auch der typische Landarbeiter, der um 100 v. C. in Israel lebte, übte etwa acht Stunden landwirtschaftliche Tätigkeiten aus, wobei drei Stunden zum Beten und eine Stunde für die Essenspause vorgesehen waren. Am Sabbat und an anderen religiösen Feiertagen war Arbeit strengstens verboten. Im alten Rom arbeiteten die meisten freien Handwerker sechs Stunden am Tag, nämlich von 6 bis 12 Uhr. Im Aztekenreich wurde täglich etwa acht Stunden gearbeitet, die Arbeitswoche dauerte vier Tage und am fünften wurde eine Pause eingelegt. Auch an religiösen Feiertagen hatten die Menschen frei.
Im Mittelalter dauerte der Arbeitstag meist von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, doch die Phasen des Schaffens wurden mehrmals am Tag durch Pausen und Ruhezeiten unterbrochen. Im christlichen Europa bestimmte das Läuten der Kirchenglocken Arbeitszeit und Pausen für Gebete und Mahlzeiten, in der islamischen Welt der Gebetsruf des Muezzins. Historiker*innen haben berechnet, dass in Europa die Arbeitszeit in der Landwirtschaft durchschnittlich 30 Stunden pro Woche betrug. Eine Trennung zwischen Arbeit und Freiheit gab es damals noch nicht, ebenso war Urlaub unbekannt, stattdessen gab es zahlreiche arbeitsfreie – meist religiöse – Feiertage.
Man sieht, dass der Arbeitstag in den meisten Zivilisationen ähnlich lang war. Das änderte sich jedoch drastisch mit dem Beginn der Industrialisierung. Um aus den Arbeitenden möglichst viel Mehrwert herauszupressen, wurde im 18. und 19. Jahrhundert die tägliche Arbeitszeit in den Fabriken auf 12, 14 und sogar 16 Stunden pro Tag gesteigert. Zur Produktivitätssteigerung wurden auch die Sonntags- sowie die Nachtarbeit eingeführt, und zwar nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder.
„Selbst die Begriffe von Tag und Nacht ... verschwammen so sehr, dass ein englischer Richter noch 1860 wahrhaft schriftgelehrten Scharfsinn aufbieten musste, um ‚urteilskräftig‘ zu erklären, was Tag und Nacht sei. Das Kapital feierte seine Orgien.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 294.
Enteignete Zeit
„Der Wert jeder Ware ist aber bestimmt durch die Arbeitszeit, die erfordert ist, um sie in normaler Güte zu liefern.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 187.
Der Spruch „Zeit ist Geld“ steht für die hektische und nicht enden wollende Suche nach dem günstigsten Angebot, den besten Absatzmöglichkeiten und dem höchsten Profit. Für die Kapitalismuskritik von Karl Marx gehört die Arbeitszeit zu den entscheidenden Kategorien. Die Mehrwerttheorie besagt, dass ein arbeitender Mensch mehr Wert schafft, als er benötigt, um sich und seine Nachkommen zu erhalten. Nehmen wir an, ein Arbeiter produziert in drei Stunden den Wert seiner Arbeitskraft. Der Kapitalist hat ihn aber für den ganzen Tag gemietet und lässt ihn daher weitere fünf Stunden arbeiten. In diesen fünf Stunden erarbeitet er den Mehrwert, den sich der Kapitalbesitzer zu eigen macht. So teilt sich der Arbeitstag des Werktätigen in die notwendige Arbeitszeit, während der er für den eigenen Lebensunterhalt arbeitet, und in die unbezahlte Mehrarbeitszeit, während der er Profite für das Unternehmen generiert. Jeder Mehrwert, ob Profit, Zins oder Rente ist somit seiner Substanz nach die Verkörperung von unbezahlter Arbeitszeit.
Ein Mensch kann während eines Tages von 24 Stunden jedoch nur ein bestimmtes Quantum Lebenskraft verausgaben. Er braucht Zeit, um sich auszuruhen, zu schlafen, sich zu ernähren und seine Kinder aufzuziehen. Außer dieser rein physischen Schranke stößt die Verlängerung des Arbeitstags auch auf moralische Schranken. Doch die Zeit ist nicht nur eine ökonomische Größe, wie Oskar Negt 1987 in seinem Buch „Lebendige Arbeit – enteignete Zeit“ schrieb, sondern auch eine soziale und kulturelle Kategorie, die eng mit Fragen der Autonomie, Freiheit und Lebensqualität verbunden ist. Der Arbeiter braucht Zeit zur Befriedigung geistiger und sozialer Bedürfnisse, deren Umfang durch den allgemeinen Kulturzustand bestimmt wird.
Die Verkürzung des Arbeitszeit war deshalb eine der ältesten Forderungen der Arbeiterbewegung. Der Slogan „acht Stunden Arbeit – acht Stunden Schlaf – acht Stunden Erholung“ wurde erstmal vom britischen Sozialreformer Robert Owen in den 1810er Jahren formuliert. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der Achtstunden-Arbeitstag in den meisten Industrieländern erkämpft. Nun will das Kapitalist aber den größtmöglichen Nutzen aus der Ware Arbeitskraft herausschlagen. Ist ihm durch Gesetze verwehrt, die Arbeitszeit zu verlängern, versucht er, sie durch die Erhöhung des Arbeitsdrucks zu verdichten und ihre Produktivkraft durch die Einführung neuer Maschinen zu steigern.
Arbeitszeitverkürzung
Heute gibt es Maschinen, Roboter und Computerprogramme, die uns viele Arbeiten abnehmen, und Gebrauchsgüter können mit einem viel geringeren Einsatz an Arbeitskraft erzeugt werden. In Fabrikhallen, wo früher Hunderte Arbeiter schufteten, sitzen heute nur noch wenige, um eine ausgefeilte Technologie zu bedienen. Angesichts dieser Tatsache sowie aufgrund sozial-ökologischer Ziele ist die Arbeitszeitverkürzung eine berechtigte Forderung. Da aber aufgrund der weltweiten Überproduktion immer schwerer Profite zu machen sind, drängt das Kapital auf das Gegenteil: auf die Ausdehnung und Flexibilisierung Arbeitstags, die Anhebung des Pensionsalters sowie die Steigerung der Arbeitsproduktivität durch die Anwendung neuer Technologien.
„Es ist der innere Trieb und die beständige Tendenz des Kapitals, die Produktivkraft der Arbeit zu steigern, um die Ware und durch die Verbilligung der Ware den Arbeiter selbst zu verbilligen.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 338.
Weltweit werden mehr Nahrungsmittel und Gebrauchsgüter erzeugt, als die Menschheit benötigt, trotzdem leiden viele Menschen Not. Der Zweck kapitalistischer Produktion ist aber nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern die Erzeugung von Mehrwert. Unternehmen überleben im Konkurrenzkampf nur, wenn sie Profite machen. Regierungen erhoffen Wachstum, denn wenig oder kein Wachstum bedeutet Krise. Angesichts der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich sowie der Gefahren, die der Menschheit durch die Erderhitzung und ökologische Zerstörungen drohen, ist es höchste Zeit, mit dem Dogma des ewigen Wachstums zu brechen und genügsamer zu werden. Eine Verringerung der Produktion mag zwar für den Einzelnen mit gewissen Einschränkungen im Konsum verbunden sein, diese könnten jedoch durch einen Zugewinn an Lebensqualität und sozialen Beziehungen ausgeglichen werden, ist beispielsweise die Klimaforscherin Helga Kromb-Kolb überzeugt: „Ist etwas anders als bisher, kann es sogar schöner sein!“
„Zeitwohlstand für alle!“
In seinem Buch „Zeitwohlstand für alle“ plädiert der Soziologe Stefan Boes dafür, mit der Zeit schonender umzugehen. Das moderne Leben habe zur paradoxen Situation geführt, dass Menschen durch den technischen Fortschritt zwar Zeit sparen, sich aber dadurch die Zeitnot sogar noch verschärft hat. Der Autor empfiehlt deshalb, nicht nur die ökologischen Ressourcen unserer Umwelt zu achten, sondern auch unsere eigenen körperlichen und psychischen Ressourcen zu respektieren. Wenn wir uns – so weit wie möglich – der Ideologie von Wachstum und Effizienz entziehen und unseren Konsum reduzieren, werden wir freier. Unter Zeitwohlstand versteht Boes, dass wir selbstbestimmt mit unserer Zeit umgehen und unsere verschiedenen Lebensbereiche in Einklang bringen können. Ein Leben in Zeitwohlstand sollte aber nicht nur einer privilegierten Schicht, sondern allen Menschen offenstehen, lautet seine Forderung, die Reduzierung der Arbeitszeit wäre hierzu ein erster Schritt.
Veröffentlicht in Talktogether Nr. 92/2025
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