Frantz Fanon: Arzt, Schriftsteller, Unabhängigkeitskämpfer Drucken

Frantz Fanon: Arzt, Schriftsteller,

Unabhängigkeitskämpfer

Obwohl heute fast vergessen, ge­hört das Buch „Die Verdammten dieser Erde“ zu den wichtigsten Werken des 20. Jahrhunderts. Sein Autor, der Arzt Frantz Fanon, war einer der bedeutends­ten politischen Denker der Anti­kolonialbewegung. Mit seinem kritischen Weitblick und seinem politischen und sozialen Engage­ment überwand er nicht nur geo­graphische Grenzen, sondern auch die Grenzen von Hautfarbe und Herkunft. Der in der Karibik geborene Fanon war nicht nur Kämpfer für die Unabhängigkeits­bewegung Algeriens, sondern auch ein Pionier der Sozialpsychiatrie und Gründer der ersten Psychiatrischen Klinik Afrikas.

Frantz Fanon wurde 1925 in der französischen Inselkolonie Martinique geboren und wuchs inmitten einer Gesellschaft von Nachkommen der Sklaven auf, die in die Karibik gebracht worden waren, um auf den Zuckerplantagen zu arbeiten. Er besuchte ein französisches Gymnasium, wo einer seiner Lehrer Aimé Césaire war. Dieser afrokaribische Schriftsteller und Politiker entwickelte die Theorie der Négritude, ein Konzept der kulturellen Selbstbehauptung aller Menschen schwarzer Hautfarbe, in dem er versuchte, Negativzuschreibungen gegen afrikanische Menschen positiv umzudeuten. Fanon aber lehnte dieses Konzept, das besagt, dass Afrikaner grundsätzlich anders als Europäer seien, vehement ab und stellte fest, dass der Status einer Person von ihrer wirtschaftlichen und sozialen Position abhängt.

Überzeugt von den Werten der Republik meldete er sich freiwillig zum Kriegseinsatz für die französische Armee, um gegen den Angriff Hitlers zu kämpfen. Als er jedoch erlebte, dass die Soldaten aus schwarz- und nordafrikanischen Ländern nicht die gleichen Rechte hatten wie die weißen Franzosen, schrieb er an seine Eltern: „Ich habe mich getäuscht! Die Republik ist nicht das, wofür ich sie gehalten hatte.“

1945 ging Fanon wieder nach Frankreich, diesmal um zu studieren. Er blieb nicht lange im Ghetto der jungen Leute aus den Antillen, sondern wollte unter Franzosen leben, um von ihnen zu lernen. Er schrieb sich für das Medizinstudium ein, entschied sich für die Spezialisierung zum Psychiater und beschäftigte sich mit der damals erst im Entstehen begriffenen Sozialpsychiatrie. Seine Doktorarbeit, in der er sozialpsychologische Wurzeln und Effekte des Rassismus analysierte und die später unter dem Titel „Schwarze Haut, weiße Masken“ berühmt wurde, wurde als Abschlussarbeit jedoch nicht anerkannt. Er musste eine Arbeit über die Wirkung eines Medikaments nachreichen.

"Ich, ein Farbiger, habe nicht das Recht, zu ergründen, inwiefern meine Rasse einer anderen Rasse überlegen oder unterlegen ist. Ich, ein Farbiger, habe nicht das Recht, mir zu wünschen, dass sich beim Weißen ein Schuldgefühl ob der Vergangenheit meiner Rasse herauskristallisiert… Es gibt keine schwarze Mission. Es gibt keine weiße Bürde. Der Neger ist nicht. Ebenso wenig der Weiße. Beide müssen wir die unmenschlichen Wege unserer Vorfahren verlassen, damit eine wirkliche Kommunikation entstehen kann." (Schwarze Haut, weiße Masken)

1953 wurde Fanon leitender Arzt einer Klinik in Blida in Algerien, wo noch die alten Methoden herrschten; Kranke wurden mit Medikamenten und oft auch mit Gewalt ruhig gestellt und lebten wie in einem Gefängnis. Dort führte Fanon soziopsychiatrische Experimente durch: Kranke, Ärzte und Personal wurden angeregt, ein gesellschaftliches Leben mit Rechten und Pflichten zu entwickeln, dessen konkretes Ziel zunächst die Ausrichtung eines Weihnachtsfestes war. Mindestens einmal pro Wache fand eine Zusammenkunft statt, in dem jeder seine Kritik vorbringen konnte bzw. sollte. Der Zustand der Kranken besserte sich spektakulär – zunächst aber nur bei den europäischen PatientInnen.

Als er das gleiche Programm auf die algerischen Patienten anwendete, blieb der Erfolg jedoch aus. Die Insassen boykottieren sein Angebot. Fanon wurde bald klar, warum. „Wenn die Organisation der Feste scheitert, dann weil sie 1953 nur in einem religiösen Rahmen sinnvoll wären. Wenn es schwierig ist, einen Chor zusammenzustellen, dann, weil im algerischen Milieu Schauspieler oder Sänger Professionelle sind, die außerhalb der Gruppe bleiben, oder gar, wie in den Zeltdörfern der Nomaden, Wandererzähler. Wenn die Korbflechterwerkstatt leer bleibt, dann, weil die Herstellung von Körben von alters her eine Tätigkeit der Frauen ist.“ Fanon unternahm zahlreiche Exkursionen in die Dörfer der nahe gelegenen Kabylei um die algerische Kultur besser kennenzulernen. Mit seinen neu gewonnenen Erkenntnissen gelang es ihm, auch die einheimischen Patienten in das neue Programm einzubinden. Damit widerlegte Fanon die französischen Ärzte, die diese bisher als Menschen anderer Art betrachtet hatten.

Kurze Zeit später entflammte der algerische Unabhängigkeitskampf. Er bekam bald Patienten, deren Symptome durch Folter ausgelöst worden waren, musste aber ebenso psychisch traumatisierte Folterer behandeln. Das führte ihm die Unhaltbarkeit der Situation sowohl für die Kolonialisierten als auch für die Kolonisatoren deutlich vor Augen. Die Klinik in Blida lieferte dem Widerstand Medikamente und bot den Unabhängigkeitskämpfern Unterschlupf. Dies blieb den Behörden nicht verborgen. Doch ehe sie dazu kamen, ihn zu entlassen oder zu verhaften, reichte Fanon sein Rücktrittsgesuch ein. Dieses Dokument wurde später als Plädoyer für die Unabhängigkeit Algeriens berühmt. Er schloss sich der Front National pour Libération (FLN) an und ging mit einem Teil seiner MitarbeiterInnen nach Tunis, wo sich die algerische Exilregierung befand.

In Tunesien befanden sich auch Zehntausende traumatisierte Flüchtlinge und Kämpfer, mit denen er ein neuartiges sozialtherapeutisches Experiment durchführte. Er richtete eine Tagesklinik ein, wo man die Kranken therapierte, ohne sie aus ihrer sozialen Umgebung zu reißen. Außerdem arbeitete er als Autor und Redakteur beim „Moudjahid“, der Zeitung der Exilregierung, und wurde Botschafter von Ghana und anderen 1960 unabhängig werdenden afrikanischen Staaten. Damals wurde eine rasch voranschreitende Leukämie bei ihm festgestellt. Obwohl er zahlreiche Mordanschläge und Kämpfe überstanden hatte, erlebte er die Unabhängigkeit Algeriens nicht. Fanon starb erst 36-jährig, ein halbes Jahr vor der Unabhängigkeitserklärung. Drei Tage vor seinem Tod hielt er noch ein Exemplar von „Die Verdammten dieser Erde“ in seinen Händen, dass er seiner französischen Frau Josie diktiert hatte.

„Gegenüber der kolonialen Ordnung befindet sich der Kolonisierte in einem Zustand permanenter Spannung. Die Welt des Kolonialherren ist eine feindliche Welt, die ihn zurückstößt, aber gleichzeitig ist sie eine Welt, die seinen Neid erregt. Der Kolonisierte träumt davon, sich an die Stelle des Kolonialherren zu setzen. Nicht, ein Kolonialherr zu werden, sondern den Platz des Kolonialherrn einzunehmen. Dessen feindselige, drückende, aggressive Welt erscheint der kolonisierten Masse, die von ihr gewaltsam ausgeschlossen bleibt, nicht als Hölle, der man so schnell wie möglich entkommen möchte, sondern als ein Paradies in greifbarer Nähe, bewacht von furchteinflößenden Bluthunden.“ (Les damnés de Terre)

In diesem Werk entwickelte Fanon eine völlig neuartige Theorie, wie die in Gang gekommene antikoloniale Bewegung zur Aufhebung der Entfremdung der Kolonialisierten führen könnte. Im Gegensatz zu den gängigen Theorien ging es in seinem Konzept nicht darum, die kapitalistischen Länder „einzuholen“ oder „ zu überholen“. Da in den Kolonien bäuerliche Strukturen vorherrschten, solle man die Menschen nicht auf Wege zerren, auf denen sie verstümmelt und ihrer Identität beraubt würden, und ihren Gehirnen keinen Rhythmus aufzwingen, der sie zerrütte, sondern ihnen die Möglichkeit geben, sich in ihrer Unterschiedlichkeit gleichberechtigt zu entwickeln.

Die Realisierungsmöglichkeiten seiner Vorschläge beurteilte er aber selbst sehr skeptisch und sah auch – gleichsam wie eine Warnung das pessimistische Gegenszenario voraus. Die Katastrophen in Afrika, die Fanon vorausahnte, sind dann auch tatsächlich eingetroffen: Fast überall in den ehemaligen Kolonien sind Politiker an die Macht gekommen, die die Volksmassen um die Früchte der Unabhängigkeit betrogen. Statt eine eigenständige ökonomische und kulturelle Entwicklung einzuleiten, wurden sie zu Agenten der ökonomischen und politischen Interessen der alten Kolonialmächte.

Durch undifferenzierte Interpretation und beeinflusst durch das Vorwort von Jean-Paul Sartre, wird Fanon oft als Verfechter der Gewalt diffamiert. Fanon sieht tatsächlich Gewalt als Reaktion derer an, die von der Teilhabe an der Entwicklung ausgeschlossen sind. Er unterscheidet jedoch deutlich zwischen der Herrschaftssituation in den kapitalistischen Ländern und in den abhängigen Ländern. Während sich in den „Demokratien“ zwischen den „Ausgebeuteten“ und der „Macht“ verschiedene moralische Instanzen schieben, die zum Respekt vor der etablierten Ordnung aufrufen, prallen die Gegensätze in den kolonialisierten Ländern ohne Vermittlung mit nackter Gewalt aufeinander. Weil sich in diesen Gesellschaften Demokratie und Zivilgesellschaft nicht herausbilden konnten, bleibe den Unterdrückten nach Fanons Theorie auch nur die Gewalt, um sich zu befreien.

So überzeugt Fanon war, dass nicht nur psychisch Kranke, sondern auch die unterdrückten Völker nur durch die Wiederaneignung ihrer Kultur zu sich selbst finden könnten, so sehr verurteilte er alle statischen Konzepte traditioneller Kulturen und Religionen. Das Stehenbleiben oder gar Rückfallen auf eine kulturelle Stufe der Vergangenheit führe nur zur „Versteinerung“. Die selbstbestimmte Bewegung, an der alle Menschengruppen teilhaben sollten, werde zwar einen jeweils eigenen Rhythmus haben, aber dasselbe Ziel, nämlich eine Weltrepublik der Gleichberechtigten.

Die französische Armee hat im Verlauf des „Algerienkrieges“ versucht, die Unabhängigkeitsbestrebungen der algerischen Bevölkerung mit extremer Brutalität zu unterdrücken. Bis zur Proklamation der Unabhängigkeit am 3. Juli 1962 wurden ungefähr eine Million AlgerierInnen getötet. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse schrieb Fanon in seinem letzten Text vor seinem Tod:

„Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt ... Wenn ich in der europäischen Technik und im europäischen Stil den Menschen suche, stoße ich auf eine Folge von Negationen des Menschen ... Europa hat getan, was es tun musste, und alles in allem hat es seine Sache gut gemacht. Hören wir auf, es anzuklagen, aber ... für Europa, für uns selbst und für die Menschheit, Genossen, müssen wir eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen.“

Frantz Fanon geht es nicht nur um die Rettung der Menschlichkeit, sondern um die Frage, ob unter den gegebenen Verhältnissen Humanität überhaupt möglich ist, und Europa ist bei ihm ein Synonym für die kapitalistische und koloniale Neuzeit. Sein Werk „Die Verdammten dieser Erde“ wurde von vielen afrikanischen Schriftstellern wie Ngugi Wa Thiong’o (Kenia), Tsitsi Dangarembga (Zimbambwe) und Ousmane Sembène (Senegal) ebenso mit Begeisterung aufgenommen wie von Befreiungskämpfern wie Che Guevara oder der Black-Panther-Bewegung in den USA. Es wird zu Recht als „Manifest der Dritten Welt“ bezeichnet, und viele seiner Schlussfolgerungen müssen heute um keinen Buchstaben geändert werden.

erschienen in: Talktogether Nr. 17/2006